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Zweites Capitel.

Leicht und anmuthig wie ein Reh lief Silvia in den Wald hinein, aber schon nach kurzer Zeit mäßigte sie ihre Schritte und blieb endlich stehen, unschlüssig, ob sie den erhaltenen Auftrag ausführen solle oder nicht. Hatte sie sich doch erst vor einer halben Stunde in hellem Zorn von den Knaben getrennt! glaubte sie doch vollauf Ursache zu haben, den Uebermüthigen zu zürnen! Freilich, der Leo war immer so stolz und hochmüthig, aber Walter, der sonst ohne die Schwester nicht leben konnte, der jeden ihrer Wünsche mit Freudigkeit erfüllte, ihr jede Laune nachsah, ja oft sich von ihr gutwillig quälen ließ – selbst Walter hatte den ganzen Nachmittag für sie keine Augen und Ohren gehabt. Das versteht ihr Mädchen nicht, hatte er mehr als einmal gesagt, wenn sie sich in das Gespräch hatte mischen wollen. Zuletzt hatten sie sogar angefangen, lateinisch zu reden, blos, um sie zu kränken, blos, um sie ihre Unwissenheit fühlen zu lassen, denn sie konnten es offenbar selbst nicht, Leo noch so ungefähr, obgleich er auch nach jedem dritten Worte stockte; Walter aber – du lieber Himmel, was der Walter sich nur denkt? Auf der Censur, die er gestern mitgebracht hat, steht: Lateinisch – mittelmäßig! Aber ich habe ihn auch daran erinnert, und da ist er roth geworden, und Leo hat verächtlich gelächelt, wie er immer lacht, wenn er es nicht der Mühe werth hält, mir zu antworten. Und ich sollte den Ungezogenen wieder vor die Augen treten, mich noch einmal von ihnen verspotten und verhöhnen lassen? Nein, mag sie zu Tische rufen, wer will, ich werde es nicht thun, ich nicht!

Silvia fühlte sich sehr beleidigt und dabei sehr zornig und sehr unglücklich; sie nahm den Kranz, den sie vorhin, als sie durch den Forst schritten, gewunden hatte, von ihrem Haupte, zerriß ihn und warf die Blätter auf die Erde. Dann setzte sie sich in das Moos, drückte das Gesicht in die flachen Hände und fing an zu weinen, bitterlich, leidenschaftlich.

Nach kurzer Zeit indessen erhob sie den Kopf wieder, schüttelte die Locken in den Nacken und lachte: Die albernen Jungen, wie sie sich freuen würden, wenn sie mich könnten weinen sehen! Wie leicht hätte das geschehen können! Sie müssen hier vorbei!

Sie stand und lauschte. Kein Lüftchen regte sich. Die lautlose Stille hatte etwas Beängstigendes. Silvia legte die Hand auf das pochende Herz. Sollte sie wieder umwenden? Wenn die Knaben nicht mehr auf dem Platze waren, wo sie sie verlassen hatte, und sie allein zurückkehren müßte durch das dämmrige Revier? So hätten die Uebermüthigen doch Recht, daß alle Mädchen feig seien? Nicht Alle! Sie nicht!

So schritt sie weiter, und bald blickte das Zwielicht durch die hier am Rande weniger dicht stehenden Stämme. Sie hatte die Richtung gut getroffen. Da war die große Buche am Saum des Waldes, und da saßen auch die Knaben, wie sie sie verlassen hatte; Leo, an den Stamm gelehnt, hinausblickend in die Ebene, die im Abendschein verdämmerte; Walter, halb zu seinen Füßen in das Gras gelagert, den Kopf auf den gebogenen Arm stützend, hinaufschauend in den lichten Himmel und in die dunklen Augen seines Freundes.

Und wo liegt denn dies Land mit den armen, wilden Menschen?

Nördlich vom Orangefluß erstreckt es sich in unendliche Ferne, erwiederte Leo und deutete mit der Hand nach dem Horizont; hier ein Dorf und da eins, aber alle meilenweit von einander entfernt, wie Inseln in diesem Ocean von grasigen Steppen, in denen Strauße und Antilopenheerden schweifen. Wer sich da hineinwagt, hinter dem schlägt das mannshohe Gras zusammen wie die Wellen über dem Ertrinkenden. Er muß sich auf Alles gefaßt machen; Leben und Tod müssen ihm wie zwei Brüder sein. So steht es in der Broschüre, die mir der Schulmeister geliehen hat. Die Zahl der Missionäre hat sich mit jedem Jahr verringert, und deshalb fordert der englische Missionsverein Alle, die den Beruf in sich fühlen, das große angefangene Werk fortzusetzen, auf, sich zu melden. Ich fühle den Beruf in mir, und ich werde mich melden, sobald meine Zeit gekommen ist.

Aber Du verstehst ja kein Englisch, Leo!

Ich werde es lernen.

Du wirst in jenen Ländern nicht leben können. Du kannst große Sonnenhitze gar nicht gut vertragen.

Ich werde mich abhärten.

Walter konnte diesem neuesten Plane des planreichen Freundes keinen Beifall schenken. Er konnte sich nicht denken, daß man außerhalb des Waldes, in welchem seines Vaters Haus lag, glücklich leben könne. Wenn's aus den Ferien wieder zur Schule ging und der Leiterwagen mit den zwei munteren Braunen lustig auf der Chaussee dahinrasselte, da hatten seine Blicke sehnsuchtsvoll an dem lieben Wald gehangen, und an einer bestimmten Stelle, wo die Chaussee eine scharfe Biegung machte, und eine Hügelkette die Aussicht auf seine Heimath verdeckte, waren ihm noch jedesmal die Thränen in die Augen gekommen. Und dann – wie hatte er sich stets von den Schulbänken und den engen Gassen der Stadt und aus den drückenden Wänden seines Zimmerchens hinaus gesehnt in das grüne Revier nach Sonnenschein und Regenrauschen und Falkenschrei! Wie hatte ihm das Herz geklopft, als er gestern mit dem Ränzel auf dem Rücken nach Hause wanderte, um nicht wieder zur Schule zurückzukehren, und endlich, endlich die langen vier Meilen durchmessen waren und der Bergrücken auftauchte mit dem weißschimmernden Schloß, das sich so prächtig abhob von dem Walde, der von hier aus meilenweit die Hügel bedeckte, dem dunklen Walde, seinem Walde – dem Walde, der in seinem kühlen Schatten Alles einschloß, was dem Knaben lieb und werth und schön und heilig war.

Ich könnte mich nicht von hier trennen, sagte Walter.

Du hast es auch nicht nöthig, erwiederte der Andere. Du hast ja hier, was Du bedarfst – für jetzt und für die Zukunft. Wenn Du ausgelernt und dann vielleicht dem Vater ein paar Jahre zur Seite gestanden hast, wird er sich zur Ruhe setzen und Dir sein Amt abtreten. Sollte es dann noch an etwas fehlen, so wird der gnädige Herr aushelfen. Nein, Walter, für Dich ist gesorgt; Du hast, wo Du Dein Haupt hinlegen kannst. Aber mit mir ist es anders. Mein Vater ist arm und kränklich; ich fürchte, er wird nicht lange mehr leben. Wenn er stirbt, so stehe ich allein; ich muß mir meinen Weg durch die Welt bahnen; ich will es und werde es. Aber nicht für mich; ich denke nicht an mich. Ich will gelehrt werden, damit ich Andere lehren; ich will stark sein, damit ich Andere stützen; ich will klug sein, damit ich Andern rathen kann. Darum möchte ich der Papst zu Rom sein, oder zum wenigsten Jesuiten-General. Da könnte man im Großen und Ganzen thun, was wir Kleinen im Kleinen und Einzelnen thun müssen. Aber auch so darf man nicht müßig sein. Die Ernte ist groß, und wir Alle sind zu Schnittern berufen. Vielleicht, daß ich zu den wenigen Auserwählten gehöre. Ja, Walter, ich gestehe es Dir. Manchmal ist es mir, als ob ich eine grenzenlose Kraft in mir spürte, als ob ich nur zu wollen brauchte – und ich könnte Berge versetzen, es nur auszusprechen brauchte, und siehe, es müßte Alles so geschehen! Da pocht es mir in den Schläfen, meine Brust ist voll, als wollte sie zerspringen, ich möchte weinen, ich möchte laut aufschreien vor Schmerz und Lust. Und ach, ich darf das Alles ja Niemandem sagen, außer Dir. Die Andern alle würden mich ja verspotten und verhöhnen. Wer glaubt denn sonst noch an mich?

Ich, schluchzte eine von Thränen halb erstickte Stimme; und Silvia, die auf den leichten Füßen lautlos näher und näher, zuletzt ganz nahe gekommen war und Alles gehört hatte, streckte die beiden gefalteten Hände wie anbetend ihm entgegen.

Mit einem zornigen Ausruf fuhr der Knabe in die Höhe.

Hat man denn keinen Augenblick vor Dir Ruhe, rief er, mußt Du uns immer umschleichen und belauschen?

Silvia war bei diesen ihr im heftigsten Tone zugeschleuderten Worten sehr blaß geworden. Sich vor dem unfreundlichen Knaben abermals gedemüthigt zu sehen, das fuhr ihr wie ein Schwert durch's Herz. Sie war schnell ein paar Schritte zurückgetreten und blickte, die Arme über der Brust verschränkend, mit großen trotzigen Augen zu ihm hinüber.

Ich habe Euch nicht umschlichen und habe Euch nicht belauscht, sagte sie, ich bin hergeschickt worden, um Euch zum Essen zu rufen; ich kann nichts dafür, wenn ich das dumme Zeug, das Ihr schwatztet, gehört habe.

Leo lächelte. Komm' Walter, sagte er, wir können uns doch nicht mit einem Mädchen streiten.

Diese kalte Geringschätzung war zu viel für das Kind. Sie wurde noch blasser und wollte heftig, trotzig etwas erwiedern, aber tonlos bewegten sich die Lippen. Thränen, die sie vergeblich zurückzuhalten suchte, tropften aus ihren Augen.

Laß es gut sein, Silvia, sagte Walter beschwichtigend, Leo hat es so bös nicht gemeint. Du kamst so plötzlich heran, ich war auch erschrocken; laß es gut sein, Silvia!

Und der treuherzige Knabe versuchte, der Schwester die Hände von dem thränenüberströmten Gesicht zu ziehen. Silvia fuhr ein paar Schritte zurück.

Rühr' mich nicht an! rief sie, keiner von Euch! Ich hasse Euch, einen wie den andern; ja, ja, Walter, Dich auch. Du bist feig, sonst würdest Du Dich meiner annehmen gegen diesen hochmüthigen – Bettler.

Das Wort war kaum heraus, als aus Leo's Brust ein heiserer Wuthschrei brach. Er ballte die Fäuste und sprang auf Silvia zu. Das kühne Mädchen blieb ruhig stehen und schaute ihrem Feind, ohne mit den Wimpern zu zucken, in die zornglühenden Augen.

Nun, sagte sie, schlag' doch zu! Ich bin ja nur ein Mädchen!

Leo ließ die Arme sinken und wandte sich, heftige, unverständliche Worte durch die Zähne murmelnd, ab. Silvia lachte laut auf:

Adieu, Ihr schönen jungen Herren, rief sie, Eure Gesellschaft ist zu gut für mich.

Sie machte eine spöttische Verbeugung und lief dann in den Wald zurück. Bald war die lichte Gestalt zwischen den dunklen Stämmen verschwunden. Die Knaben hörten ihre Stimme, aber sie konnten nicht unterscheiden, ob sie ein lustiges Lied trällerte oder laut weinte.

Langsam folgten sie. Sie hatten Beide das Gefühl, ein Unrecht begangen und dazu noch den Kürzeren gezogen zu haben. Von Leo's kühnen Projecten war nicht mehr die Rede. Schweigend gingen sie neben einander hin. Nur einmal sagte Walter:

Du bist auch immer so barsch gegen Silvia.

Bettler, weißt Du, Walter, haben wenig Lebensart.

Sie meint es nicht so bös.

Nun, warum sollte sie es nicht sagen? sie hat ja Recht; sagte Leo mit finsterem Lachen.


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