Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtundzwanzigstes Capitel.

Der Freiherr hatte mit seiner Schwester in den folgenden Tagen noch manche lange Unterredung über die wichtigen Dinge, welche der Besuch des Landraths in Anregung gebracht hatte. Charlotte behauptete, daß die Verhältnisse auf den Gütern des Bruders eher besser als schlimmer seien, als in den anderen Districten, in welchen sich die Leute vollkommen ruhig verhielten; und daß mithin die offenbar herrschende Unzufriedenheit aller Wahrscheinlichkeit nach nur von einigen wenigen unruhigen Köpfen hervorgerufen sei und künstlich genährt werde. Sie deutete zuletzt, als der Freiherr in sie drang, auf Tusky und wünschte, daß derselbe unter irgend einem passenden Vorwand wenigstens von seiner einflußreichen Stellung als specieller Lehrer der Knaben entfernt werde. Der Freiherr erklärte eine solche Handlungsweise für unlogisch. Entweder Tusky sei ein gefährlicher Mensch, oder er sei es nicht. Im ersteren Falle müsse man ihn überhaupt unschädlich zu machen suchen, im zweiten ihn ein- für allemal in Ruhe lassen. Er sehe nicht ein, weshalb er nicht gelegentlich einmal mit dem Pastor Rücksprache nehmen solle. Der Pastor sei klug; die Klugheit des Pastors sei die beste Garantie für die Moralität des Lehrers.

Der Freiherr, der sonst auf Charlotten's Urtheil stets den höchsten Werth legte, schien in diesem Falle entschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen. Eine Kirchenangelegenheit, in welcher er mit Doctor Urban conferiren mußte, bot schon in den nächsten Tagen die schicklichste Gelegenheit, das Gespräch auf das von Herrn von Hey angeregte Thema zu bringen. Zu seinem nicht geringen Erstaunen vernahm er nun, daß Doctor Urban die Beobachtungen, welche der Landrath gemacht haben wollte, von seinem Standpunkte nur bestätigen könne. So habe – was auf dem Lande stets ein sicheres Symptom sei – in letzterer Zeit der Kirchenbesuch ganz auffallend abgenommen; zum Tische des Herrn kämen jetzt fast nur noch alte Frauen; ebenso sei es in der Beichte. Dafür stehe aber das Wirthshausleben im vollsten Schwange; der Schulmeister Tusky, welcher, selbst ein Sohn des Volkes, viel mit dem Volke verkehre und ein merkwürdiges Verständniß des Volkes habe, könne sich nicht genug über diesen mit erschreckender Schnelligkeit einreißenden Geist der Zuchtlosigkeit wundern.

Damit war man denn auf dem Punkte, der den Freiherrn zumeist interessirte, angekommen. Er tastete vorsichtig weiter und vernahm nun aus dem Munde des Pastors ein glänzendes Lob des verdächtigen Menschen; Herrn Tusky's Manieren ließen Manches zu wünschen, aber er sei ein trefflicher Lehrer von unbedingt wackerer, streng loyaler Gesinnung.

Der Freiherr dankte dem Pastor für diese Erklärung, durch die ihm eine wirkliche Last vom Herzen genommen sei; und so sagte er auch zu Charlotten, als er ihr das Resultat seiner Unterredung mit dem Pastor, nicht ohne einen gewissen Triumph, mittheilte. Charlotte schwieg; aber beruhigt war sie keineswegs. Im Gegentheil hatte ihr Verdacht gegen Tusky nur neue Nahrung erhalten. Ein Mensch mit dieser Stimme, in welcher die einzelnen Worte kurz und scharf und fest wie Hammerschläge fielen, konnte unmöglich aus Ueberzeugung ein Muster von Loyalität, wie Doctor Urban ihn geschildert hatte, sein. Wie viel Gesichter hatte dieser Mensch? Ohne Frage war er dem Pastor anders gegenübergetreten, als er neulich dem Bruder sich gezeigt hatte. Den Einen hatte er durch seine Gesinnung zu bestechen, dem Anderen durch seine Haltung zu imponiren gewußt. Vielleicht, ja wahrscheinlich, war keines von diesen Gesichtern das echte. Wie konnte sie sich einen Einblick in den Charakter dieses räthselhaften Mannes verschaffen, der, nach Allem, was sie wußte, jetzt Leo's vertrautester Freund war? Was trieb Leo, den sie schon seit Wochen nur immer auf flüchtige Augenblicke gesehen hatte?

Eines Nachmittags, wo diese Fragen Charlotten wieder einmal das Herz schwer machten, nahm sie Shawl und Hut und begab sich in das Pfarrhaus.

Es war ein düsterer Novembertag. In dem Pfarrhofe wirbelten die braunen Blätter von den breitästigen Wallnußbäumen, auf dem Thurme der Kirche drehte sich kreischend der Wetterhahn. Das Pfarrhaus war so still und dumpf, und Frau Urban, die dem Fräulein aus der Tiefe einer Fensternische, wo sie beim verlöschenden Schein des Zwielichts gelesen hatte, entgegenkam, so nervös und weinerlich, wie nur je. Nichts gleiche der Freude, die sie über diesen Besuch empfinde, der nur ach! leider so selten komme! Womit sie dem gnädigen Fräulein aufwarten könne? einer Tasse Kaffee? die sei so bald gemacht; oder würde das gnädige Fräulein bei der rauhen Witterung ein Glas Warmbier vorziehen?

Dabei trippelte das gute Geschöpf ängstlich um Charlotte herum, rückte drei oder vier Stühle herbei und entschuldigte sich dann, daß sie die Unschicklichkeit begangen habe, dem Fräulein nicht den Sophaplatz anzubieten.

Charlotte dankte für Alles und bat, sich zur Frau Urban in die Fensternische setzen zu dürfen. Es plaudere sich da so behaglich; wo denn die Knaben seien? man höre ja nichts von ihnen!

Frau Urban war so hoch erfreut, daß das gnädige Fräulein mit der dürftigen Unterhaltung, die sie arme, unwissende Frau ihr gewähren könne, vorlieb nehmen wolle. Die jungen Herren seien sämmtlich aus, da sie heute, in Folge einer Amtsreise des Doctors, einen freien Nachmittag hätten. Der Junker und Walter würden wohl nach dem Forsthaus gegangen sein; Leo habe erst vor wenigen Augenblicken das Haus verlassen.

Es war nicht schwer, Frau Urban im Reden zu erhalten, wenn man sie erst einmal zum Reden gebracht hatte. Ein gelegentlich eingestreutes aufmunterndes, bedauerndes, bewunderndes Wort genügte vollkommen, um sie mit ihrer dumpfen, weinerlichen Stimme rastlos weiter sprechen zu machen, wobei sie dann, ohne daß man wußte wie, von einem Gegenstand auf den anderen kam. Sie erzählte von ihrem Brautstande, und wie ihr Mann als Student in dem Hause ihres Vaters, eines Schneidermeisters in der Residenz, jahrelang gewohnt, und wie glücklich sie gewesen sei, als ihr Bräutigam endlich die Pfarre in Tuchheim erhielt. Aber ach! das Glück habe nicht lange gedauert. Sie wolle keinen anklagen. Es sei Gottes Rathschluß gewesen, daß die Zwillinge sterben mußten, und mit den beiden unschuldigen Engeln sei freilich ihr Glück für immer begraben worden. Wer könne es ihrem Gatten verdenken, daß ihn der Gedanke, mit einer Frau auf immer verbunden zu sein, die ihn so grausam betrogen habe und dabei so entsetzlich unwissend sei, oft zur Verzweiflung bringe? Und er selbst sei ein so grundgelehrter Mann, der eine viel glänzendere Carrière hätte machen müssen, wenn es mit rechten Dingen zuginge. Das habe auch noch neulich der Herr Landrath gesagt und hinzugefügt: er hoffe, den Doctor noch als Bischof zu sehen, worauf der Doctor witzig bemerkt habe, dies werde vermuthlich den Tag nach dem Tage sein, an welchem Herr von Hey das Portefeuille des Cultus übernommen habe. Herr von Hey und der Doctor paßten so gut zusammen und seien in der letzten Zeit so viel beisammen gewesen. Herr von Hey sei gewiß ein vortrefflicher Herr, wenn er auch manchmal so sonderbar scherze, und zum Beispiel sage: ein Bauer sei kein Mensch, sondern ein Bauer, und Aehnliches, so meine er das gewiß nicht so. Und dann sei es ja jetzt allerdings eine heillose Zeit. Von der Magerkeit der Gänse, die auf den Pfarrhof geliefert würden, habe das gnädige Fräulein gar keinen Begriff; nichts als Haut und Knochen, und sie habe dadurch einen so schweren Stand! Der Doctor habe ihr ein für allemal auf das Strengste verboten, dergleichen Gerippe als vollwichtige Zehnten-Gänse anzunehmen, und doch breche es ihr fast das Herz, wenn sie die Leute wieder wegschicken müßte, die oft selbst so elend und verhungert aussähen. Am schlimmsten stehe es natürlich mit den armen Menschen weiter oben auf dem Walde. Da sei der Jammer grenzenlos. Es verginge kein Tag, wo sie nicht schaarenweis herabkämen und ihre Nägel feil böten, eigentlich sei es ihnen aber nur um Betteln, ja um Stehlen zu thun. Neulich – hier rückte Frau Urban etwas näher und flüsterte noch aufgeregter – neulich gegen Abend, als es schon fast dunkel war, kam eine junge Person hier auf den Hof, die auch Nägel verkaufen und sich gar nicht abweisen lassen wollte, so daß ich meine rechte Noth mit ihr hatte. Und denken Sie sich, gnädiges Fräulein, als die Person, die übrigens recht verwegen aussah, endlich fort war, erzählt mir meine Ursel, die auch vom Walde ist, das sei des Schulmeisters Schwester, die wilde Eve, die immer aus der Schule gelaufen sei. Was aber noch viel merkwürdiger: die junge Person hat sich bis in den Abend spät auf dem Kirchhof und hinter der Kirche herumgetrieben, und Ursel will gesehen haben, daß sie in der Nacht unter Herrn Leo's Fenster, das, wie Sie wissen, gnädiges Fräulein, auf dem Giebel nach dem Kirchhofe zu liegt, gestanden und mit dem Herrn Leo gesprochen habe. Ich habe noch keinem Menschen außer Ihnen ein Wort davon erzählt, und habe auch der Ursel streng verboten, davon zu sprechen, denn der Herr Leo und der Herr Tusky sind so gute Freunde, und ich möchte um Alles in der Welt nicht, daß ich den Einen oder den Anderen beleidigte. Ach, gnädiges Fräulein, eine arme Frau, wie ich, hat gar viele Sorgen! Der Junker macht mir auch Sorgen, Ihnen darf ich es ja am Ende sagen. Die Ursel ist ein hübsches Ding, und die ist manchmal recht bös auf den Junker, der sich wohl mehr mit ihr einläßt, als einem so vornehmen jungen Herrn anständig ist. Nicht, als ob ich nur etwas Böses dabei dächte! Gott soll mich bewahren! nein! aber es giebt immer Gerede und Unfrieden, und ich muß es büßen. Ach, da lobe ich mir meinen Walter, meinen guten Engel, wie ich ihn manchmal nenne! Und auch er kostet mir in der letzten Zeit recht, recht viele Thränen; ich habe ihm freilich versprechen müssen, gegen Niemand darüber zu reden, aber Sie sind ja so engelsgut, liebes, gnädiges Fräulein, und vielleicht wissen Sie doch einen Trost oder eine Auskunft. Er reimt jetzt nur noch Herz auf Schmerz und Noth auf Tod, und gestern hat er mir gar eine blaßrothe Schleife gegeben, die er bei sich nicht sicher glaubt, und die ich ihm, wenn er im Sarge liegt, auf sein Herz legen soll. Ja, was soll nur daraus werden, liebstes, himmlisches, gnädiges Fräulein? Heirathen kann er sie doch auf keinen Fall, und überdies sagt der arme Junge, – dann laufen ihm aber jedesmal die Thränen über die Backen, – daß er gar nicht daran denke, von ihr wieder geliebt zu werden, daß sie viel zu hoch und schön für ihn sei. Ach, liebes Fräulein, der arme Junge! es ist ein wahrer Jammer, und er ist so gut! Wenn Sie wüßten, wie gut der ist! Und Sie wollen schon fort, gnädiges Fräulein? Ich habe Sie gewiß durch mein Gespräch vertrieben; ich kann immer kein Ende finden, wenn ich einmal in's Reden komme.

Frau Urban erhob sich eilends, Charlotten den Shawl umzuhelfen, was ihr denn auch endlich gelang, nachdem sie alle Formen, in denen derselbe nicht sitzen konnte, durchprobirt hatte.

Der Abend war bereits stark hereingebrochen, als Charlotte den Pfarrhof verließ und den Schloßberg, der sich fast unmittelbar dahinter erhob, hinaufzusteigen begann. Dicht in ihren Shawl gehüllt, des ihr so wohlbekannten Weges kaum achtend, schritt sie rasch vorwärts, ganz erfüllt von den Gedanken, welche die Plauderei der Frau Urban in ihr wach gerufen hatte. Sie hatte so viel mehr gehört, als die gute Dame gesagt hatte, hatte sagen wollen! Das herzliche Verhältniß zwischen Herrn von Hey und dem Doctor, – Leo's Freundschaft mit dem Tusky – das verdächtige Erscheinen des Mädchens – zuletzt Walter's Liebe zu Amélie. Der liebe, liebe Junge! also hatte sie sich nicht über den eigenthümlichen Ausdruck getäuscht, den des Knaben große blaue Augen in letzter Zeit so oft gehabt hatten! Und die kleine Amélie! die eigentlich gar keine kleine Amélie mehr war, aber gewiß keine Ahnung davon hatte, welche Bestimmung blaßrothe Schleifen, die man in einer neckischen Laune dem Spielkameraden ins Knopfloch bindet, haben können. Jetzt durfte man darüber lachen; aber würde man einige Jahre später auch noch darüber lachen können, wenn der Jüngling, an Leib und Seele herangereift, sich das treue Herz bewahrt hatte, und in dem treuen Herzen die Poesie, die Träume seiner Jugend?

In Charlotten's Herzen wallte ein heißer Strom schmerzlicher Wehmuth auf; Thränen brachen aus ihren Augen, ihre Kniee zitterten – sie ließ sich auf eine Bank sinken, die in dem dichten Laubgang, in welchem sie sich gerade befand, weißlich aus dem Dunkel schimmerte.

Versunken in Erinnerungen, gänzlich vergessend, wo sie sich befand, mochte Charlotte ein paar Minuten so gesessen haben, als plötzlich aus nächster Nähe Schritte sich vernehmen ließen und das undeutliche Gemurmel von Stimmen. Aus Ueberraschung mehr, als aus Furcht, welche Charlotten fremd war, drückte sie sich in die Ecke; das Dunkel, das an der Stelle herrschte, und ihr schwarzer Anzug ließen sie hoffen, daß die Vorübergehenden sie nicht gewahr werden würden. Die Schritte kamen langsam näher, die Stimmen wurden deutlicher – besonders die eine tiefere, härtere – eine Stimme, die Charlotte nur einmal gehört hatte, um sie nicht wieder zu vergessen.

Charlotten's Herz begann heftig zu klopfen; sie hielt unwillkürlich den Athem an; all' ihre Fassungskraft schien sich auf ihr leises Ohr concentrirt zu haben.

Habe keine Sorge, sagte die harte Stimme; ich weiß, wie man die wilde Katze geschmeidig macht. Sie soll sich nicht wieder hier unten sehen lassen.

Aber das hat sie doch nicht um mich verdient, daß ich sie so verrathe, sagte die zweite, eine wohlklingende, von Leidenschaft vibrirende Stimme.

Wie Du sprichst! Verrathen, was heißt verrathen! Wer den Zweck will, muß die Mittel wollen. Und übrigens brauch' ich Dich gar nicht zu nennen; es kann sie ja Jemand anders, der sie kennt, gesehen haben; Johann Brandt etwa, oder einer der anderen jungen Leute oben vom Walde. Ja, es ist wahrscheinlich, daß dies der Fall gewesen ist, und das macht mich eben so wüthend. Das tolle, unbedachte Geschöpf!

Geh' nicht zu rauh mit ihr um!

Die ist von guter Rasse, die zerbricht nicht so leicht.

Du erwähntest eben Johann Brandt; ich wollte, Du ließest Dich nicht zu tief mit dem ein!

Was hast Du gegen den Burschen?

Er hat böse, tückische Augen, wie ein Hund, der beißen will; ich meine: die Hand, die ihn füttert, eben so leicht, als die ihn züchtigt. Und dazu sieht er aus, wie ein Judas, der seinen Herrn und Meister für dreißig Silberlinge verkaufen würde.

Er ist ein ganzer Mann, der Johann Brandt.

Nicht älter, als ich.

Bist auch ein ganzer Mann, mein Junge. Nimm Dich in Acht: es führen hier ein paar Stufen hinab.

Die Redenden waren so dicht an Charlotte vorübergegangen, daß sie fast ihr Kleid gestreift hatten. Sie waren die Treppe hinabgestiegen; ihre Schritte, ihre Stimmen verwehte der Nachtwind, der in den dürren Blättern raschelte.

Charlotte erhob sich, lauschte in die Dunkelheit hinein und setzte dann ihren Weg nach dem Schlosse eiliger fort. Sie wußte nicht, was sie denken, was sie fürchten sollte. Aber sie war sogleich fest entschlossen, gegen ihren Bruder nichts von diesen dunklen Räthseln verlauten zu lassen. Wirklich gelang es ihr, noch bevor sie das Schloß erreicht hatte, das klopfende Herz zu beruhigen und dem Freiherrn, der schon über ihr langes Ausbleiben besorgt gewesen war, mit einem freundlichen Wort und einem Lächeln auf den Lippen entgegen zu treten.


 << zurück weiter >>