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Sechstes Capitel.

Dennoch waren diese Tage die glücklichsten, welche Leo noch erlebt hatte. Befreit von der fortwährenden Gesellschaft eines vor der Zeit alt gewordenen, kränklichen, grillenhaften Mannes, der ihn, ohne es zu wollen und zu wissen, auf das grausamste tyrannisirte; erlöst von einer Lebensweise, die bereits seine kräftige Constitution zu untergraben angefangen, fühlte der Knabe etwas von dem trauten Frieden, der über dem Försterhause lag, auch in sein junges Herz einziehen. Und in dem Maße, daß die unnatürliche Anspannung seiner geistigen Kräfte, mit welcher ihn der Vater heimgesucht, nachließ, trat auch die lichtere Seite seines Wesens mehr und mehr hervor. Es war wie mit dem Wetter, das jetzt nach einer Periode unerträglicher Hitze, welche häufige und furchtbare Gewitter nicht hatten abkühlen können, eine ungemeine Lieblichkeit und gleichmäßige Milde zeigte.

An solchen schönen Tagen des frühen Herbstes war das Forsthaus von Tuchheim ein entzückender Aufenthalt. In einem Paradiese konnte die Sonne nicht sanfter scheinen, der Himmel nicht reiner, durchsichtiger blauen, als hier. Die alten Eichen und Buchen, welche den Platz, auf dem das Haus mit den Nebengebäuden lag, umgaben, standen so still da, als hätten sie bereits Abschied genommen von dem Sonnenschein, dessen goldene Lichter noch eben so lieblich in dem dunkelnden Laube spielten, und erwarteten nun in ruhiger Ergebung den Winter, der sie ihres Schmuckes berauben und das Leben in ihnen erstarren würde. In dem Garten hinter dem Hause blühten die Astern und Georginen, auch noch einzelne Rosensträuche; aber die weißen Sommerfäden, die in der klaren Luft schwebten, sagten, daß die Zeit der Blumen nun unwiederbringlich vorbei sei. Dafür fingen die Aepfel an, durch das spärlichere Laub zu glänzen, und dunkler und dunkler färbten sich die mächtigen Trauben der breitblättrigen Reben, die an den Spalieren der nach Süden gelegenen Giebelwand bis fast auf den First des Daches hinauf rankten.

Diese und die anderen Züge des herbstlichen Angesichts der Natur trugen hier in dieser gänzlichen Abgeschlossenheit ein besonders deutliches Gepräge, und erregten das poetische Gemüth des leidenschaftlichen Knaben, bis es, in bald schwermüthigen, bald heiteren, jetzt ruhig klaren, jetzt wild verworrenen Weisen zu tönen begann. Besonders des Abends, wenn die Stimmen der Natur noch vernehmlicher zu seinen aufgeschlossenen Sinnen sprachen, fühlte er sich oft von der sonderbarsten Unruhe erfaßt. Das dumpfe Klappen einer fallenden Frucht, das Säuseln des Nachtwindes in den Blättern, auf denen der Schimmer des Mondes lag, das ferne Geschrei hoch oben in der Luft vorübersegelnder Kraniche – das Alles floß für ihn zu Melodien zusammen, für die er nie vergeblich nach Worten suchte. Oft überraschte es Walter, der mit ihm in derselben Giebelstube schlief, wenn er des Morgens beim Aufstehen auf einem Blatt, das am Abend, als sie zu Bett gingen, rein gewesen war, Verse geschrieben fand, die dem gläubigen Knaben das Größte zu sein schienen, was der menschliche Geist jemals ersonnen. Walter dachte nicht daran, Verse zu machen; er hatte keine Ahnung, wie man Verse machen könne, wo Leo all' die herrlichen Worte, all' die tönenden Reime hernahm. Walter kam sich so dumm vor, wenn er sah, wie sein begabter Genoß das Alles nur so spielend hinwarf; öfters betrübte es ihn auch, wenn er Vieles nicht gleich beim ersten Hören vollständig verstand und Manches, trotz wiederholter Lectüre, gar nicht verstehen konnte. Aber nie erwachte ein Neidgefühl in seinem Herzen und noch viel weniger ein Zweifel an dem Genie seines Vetters. Es fiel ihm nicht ein, sich zu fragen, ob denn die schönen Phrasen, in die er keinen Sinn hineinbringen konnte, überhaupt einen Sinn hätten. Leo war ihm sein Vorbild, sein Stern, sein Ideal. Leisten zu können, was Leo leistete, daran dachte Walter so wenig, als mit den Schwalben und Störchen nach Afrika zu fliegen.

So bildete sich zwischen den Knaben immer mehr eine Freundschaft aus, die wenigstens von Walter's Seite aufrichtig und enthusiastisch war und die den auffallendsten Gegensatz des sonderbaren Verhältnisses abgab, welches zwischen Leo und Silvia bestand.

Seit Leo's Ankunft auf dem Försterhause war eine große Veränderung in diesem Verhältnisse vorgegangen. Wenn der Knabe früher das um einige Jahre jüngere Mädchen stets als ein Wesen niedrigerer Gattung angesehen und demgemäß behandelt hatte, so schien er jetzt vielmehr eine Art von Scheu vor ihr zu empfinden. Er widersprach ihr nicht mehr heftig und hochfahrend, wie er es sonst bei jeder Gelegenheit zu thun pflegte, sondern nahm ihre wunderlichen und nicht selten unvorsichtigen Aeußerungen, auch wo dieselben unmittelbar gegen ihn gerichtet waren, mit einem verlegenen Schweigen hin, wie Jemand, dessen Zunge durch Rücksichten entschieden gebunden ist. Dieser Wechsel seines Betragens war zu groß, um nicht von Allen bemerkt zu werden, und Silvia selbst war nicht die Letzte, die ihn bemerkte. Aber merkwürdigerweise blieb sie, die sonst durch Nachgiebigkeit so leicht gewonnen wurde, von Leo's Sanftmuth scheinbar vollkommen ungerührt; man mußte glauben, daß er sie neulich Abends auf eine Weise beleidigt hatte, die durch keine Sühne wieder gut gemacht werden konnte. Natürlich ließ es Tante Malchen an Ermahnungen zu einem freundlichen Betragen nicht fehlen. Das trotzige Mädchen wollte nichts von Versöhnung wissen. Was will er hier? Was thut er hier? rief sie heftig; soll ich ihm dafür gut sein, daß Ihr mich seinetwegen vom frühen Morgen bis zum Abend ausscheltet? Was kann ich dafür, daß ich den häßlichen Zigeunerjungen nicht mag? Glaub' ihm doch nur nicht, Tante, wenn er so sanft und freundlich thut! Er verachtet uns Alle, weil er ein bischen Lateinisch und Verse machen kann, wie Walter sagt. Lateinisch! Verse machen! Das könnte ich auch, wenn ich nur wollte! und das Kind krümmte verächtlich die Lippe und schüttelte seine langen Locken. Mit dieser Abneigung, die Silvia ordentlich geflissentlich zur Schau trug, stimmte es wenig, daß sie die größten Anstrengungen machte, sich dem Verhaßten in geistiger Hinsicht so viel als möglich zu nähern. Sie suchte sich die Bücher zu verschaffen, aus denen er seine Kunde von fremden Ländern und Völkern geschöpft hatte; sie lernte französische Vocabeln zu Hunderten und Hunderten, um doch etwas vor ihm voraus zu haben; ja sie ließ sich zu der Bitte herab, ob er ihr nicht Unterricht im Lateinischen geben wolle; und als er sich sofort dazu bereit erklärte, folgte sie in den Stunden seinem Vortrage mit der gespanntesten Aufmerksamkeit, so daß sie wirklich in kürzester Zeit die Anfangsgründe überwunden hatte. Aber diese gemeinschaftlichen Studien konnten sie gegen ihren Vetter nicht milder stimmen. Verlegen und mürrisch nahm sie die Mühe hin, die er sich mit ihr gab, ohne ein Wort, ein Zeichen des Dankes. Er kann es ja bleiben lassen, wenn er nicht will – er kann froh sein, daß ich mich von ihm unterrichten lasse, sagte sie trotzig, wenn die Tante ihr eine so schreiende Undankbarkeit vorwarf. – Du bist eifersüchtig auf Leo, sagte Walter, Du möchtest gern ebenso viel wissen wie er, und ebenso leicht lernen wie er; darin liegt's. – Wenn ich so alt wie Leo bin, werde ich so viel wissen wie Leo, erwiederte Silvia, und was das Lernen betrifft, so fragt sich's noch sehr, wer leichter lernt, er oder ich. – Auch der Vater, den Silvia's wunderliches Betragen ernstlich betrübte, redete ihr in's Gewissen. Er sagte ihr, daß, wer die Gastfreundschaft verletze, sich eines schweren Vergehens schuldig mache; daß wir unseren Nächsten lieben müssen, wie uns selbst, daß der Hilfsbedürftige unser Nächster und der arme Leo doch gewiß der Hilfe bedürftig sei. Keines anderen Vergehens als der Lieblosigkeit gegen einen Unglücklichen habe sich Ahasver schuldig gemacht, und doch könne er, der Sage nach, keine Ruhe im Grabe finden. – Das paßt sehr gut auf Leo, unterbrach Silvia den Vater, der Unglückliche, den Ahasver von seiner Schwelle stieß, war Christus, und Leo bildet sich ein, er sei auch ein Heiland. – Wie Du nur so dummes Zeug schwatzen kannst, Mädchen, fuhr der Förster auf. – Ich weiß, was ich weiß, sagte Silvia.

Der brave Mann schwieg ganz bestürzt und theilte bald darauf Schwester Malchen des Kindes wunderliches Wort mit. Was ist dabei zu thun, sagte er, das Mädchen ist wie eine schlanke, junge Edeltanne; man kann sie brechen, aber nicht biegen.

Tante Malchen schüttelte den Kopf. Es ist dafür gesorgt, Fritz, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, sagte sie; und so wird auch schon der liebe Gott unser Kind in Gnaden vor Hochmuth und Sünde bewahren. Aber, Fritz, unsere Verantwortung ist deshalb nicht geringer, und die Strafe für unsere Nachlässigkeit wird uns nicht minder hart treffen.

Der Förster, welcher aus langer Erfahrung ganz genau wußte, worauf dies hinausging, würde unter allen anderen Umständen das Gespräch hier mit einem ärgerlichen Brummen abgebrochen haben; diesmal aber fühlte er sich wirklich so rathlos, daß er die Strafpredigt, die ihn erwartete, geduldig hinnehmen zu müssen glaubte.

Mit wortreicher Beredtsamkeit und unter vielen herzlichen Thränen entwickelte Malchen nun die Folgen des schlimmen Einflusses, den der Unglauben ihres Bruders auf die Kinder ausüben müsse. Sie behauptete, daß Gottesfurcht die Quelle aller menschlichen Tugenden sei; daß Kinder, welche nicht in der Furcht Gottes aufwüchsen, wie Tannensamen seien, der in der Luft umherfliege und aller Wahrscheinlichkeit nach in den Bach oder auf den harten Weg fallen werde. Sie erinnerte an den Spruch von dem bösen Beispiel, das zuletzt die besten Sitten verderbe, und ob es ein gutes Beispiel sei, wenn ein Vater des Jahres vielleicht einmal in die Kirche gehe und den Tisch des Herrn seit zwanzig Jahren, das heißt seit seiner Verheirathung, nicht ein einziges Mal besucht habe? Schließlich ergriff die gute Dame des Bruders braune Hände, benetzte sie mit ihren Thränen und beschwor ihn, sich ihrer, die vor Angst um sein und der Kinder Seelenheil fast sterbe, zu erbarmen und, wenn nicht um seinet-, so doch um der Kinder willen, Gott zu geben, was Gottes sei.

Der Förster konnte nicht gut Jemand weinen sehen, am allerwenigsten, wenn es in seiner Macht stand, die Thränen zu trocknen. Ueberdies hatte Silvia's Halsstarrigkeit und Herzenshärtigkeit ihn wirklich erschreckt und seine reine Seele mit dem Schatten einer geheimnißvollen Schuld, die er, Gott weiß wie, auf sich geladen habe, umschleiert. So gab er denn fast kleinlaut zu Malchen's Vorschlag, man wolle in Gemeinsamkeit am nächsten Sonntage in die Kirche gehen, seine Einwilligung.


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