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Zweiunddreißigstes Capitel.

Leo war seit vorgestern Abend, wo er in der Kirche mit Tusky die Unterredung gehabt hatte, wie in einem schweren Traume umhergeirrt. Was der Freund auch gesagt hatte, ihn vom Gegentheil zu überzeugen: er fühlte es wie ein zermalmendes Gewicht auf seiner Seele, daß er in dem Hause des Pfarrers nicht mehr bleiben könne, daß er das Band, das ihn an die Familie des Freiherrn, an seine eigene Familie knüpfen sollte und innerlich längst zerrissen war, auch äußerlich, in Aller Augen, lösen müsse.

Aber auch zwischen ihm und dem Freunde war es nicht mehr, wie es gewesen war. Es war Leo nicht entgangen, daß Tusky sein Versprechen, ihn nach und nach in alle Einzelheiten des Bundes einzuweihen, nicht erfüllte. Es gingen Dinge in der Gemeinde und in der Nachbarschaft vor, die Leo auf Tusky zurückführen mußte, und über die doch Tusky vorher nicht mit ihm gesprochen hatte und hernach nicht mit ihm sprechen wollte. Wer hatte die Kornschober auf den Hasenburg'schen Gütern, auf dem Hey'schen Vorwerk angezündet? Wer hatte die drei großen Dreschmaschinen, die der Freiherr auf seinen Gütern hatte aufstellen lassen, in einer Nacht zerstört? Tusky wollte, als er ihn fragte, nichts davon wissen. Dergleichen führt zu nichts, antwortete e, oder höchstens den, welcher sich mit solchen Albernheiten abgiebt, in's Zuchthaus. Welchen Nutzen hätte dies Brandstiften für meine, für unsere Sache? – Vielleicht den, erwiederte Leo, daß die gegenseitige Erbitterung immer größer wird und die Leute sich nach und nach an Gewalttaten gewöhnen, ohne die es schließlich, wie Du mir oft gesagt hast, doch nicht abgeht.

In Tusky's Augen hatte es, als Leo so sprach, seltsam geleuchtet; aber auch diesmal hatte er geschwiegen, war er Leo ausgewichen, wie früher.

Und nun kamen die Nachrichten aus der Residenz, und mit diesen Nachrichten Verwirrung für die ganze Gemeinde, eine sonderbare Aufregung, die jedem Scharfblickenden beweisen mußte, daß hier seit langer Zeit mit kluger Hand ein Zunder aufgehäuft war, den der erste Funke in Flammen setzen mußte.

Und die Flammen hatten nicht gezögert, hervorzubrechen, als der folgende Morgen die Nachrichten des vorigen nicht nur bestätigte, sondern noch viel wunderbarere brachte, die von den scharfen Winden in der Luft umhergewirbelt zu werden und, wo es ihnen beliebte, hinzufallen schienen, wie die Schneeflocken. Die ganze Gegend war in Aufregung, zumeist aber das Dorf Tuchheim, das von jeher durch seine Größe – es zählte über tausend Seelen – den Mittelpunkt der Landschaft abgegeben hatte. Von allen Seiten strömte es aus den umliegenden Ortschaften herbei – Bauern, Hinterhäusler, Tagelöhner – und alle hatten ihre besonderen, ganz besonderen Nachrichten, von denen die einen immer abenteuerlicher waren, als die andern. Der alte König hatte abgedankt, war gefangen, war ermordet; die Residenz hatte gestern gebrannt, brannte heute noch, war ein Schutthaufen – nein, nicht die Residenz, wohl aber die benachbarte Festung und Kreisstadt. Die Truppen waren mit klingendem Spiele zum Volke übergegangen; alle Reichen sollten ermordet werden, waren schon ermordet; ihr Geld war unter die Armen vertheilt. Jeder hatte dreißig – nein, hundert Thaler bekommen. Das mußte auch aus dem Lande geschehen; hier war die Sache noch einfacher; wie viel Pastoren und Herren gab es denn todtzuschlagen, und wer sollte sie daran hindern?

Solche Reden hörte man schon am Morgen.

Im Laufe des Vormittags, während dessen die Schänktische in den drei oder vier Wirthshäusern, die Tuchheim hatte, von rohen, zechenden Gesellen belagert waren, steigerte sich die Wuth. Man sprach, man schrie, man umarmte sich, die Bier- und Schnapsgläser in der Hand; man zankte, man tobte, weil man sich über die Vertheilung der Beute, die in Aussicht stand, nicht verständigen konnte.

In dem Pfarrhause, das abseits des Dorfes und von dem Dorfe durch den Ausläufer des Kirchberges eigentlich getrennt lag, hatte man erst gegen Mittag von der großen Aufregung, die in Tuchheim herrschte, Kunde erhalten. Doctor Urban hatte die Sache leicht genommen und spöttisch gemeint: es sei doch eigentlich ein gutes Zeichen für den Wohlstand in der Gemeinde, daß die Männer an einem Werkeltage feiern könnten; aber Leo war vom Hause fort geschlichen, um zu sehen, was es gäbe, und womöglich den Freund zu sprechen, den er seit vorgestern Abend nicht gesehen hatte. Er fand Tusky vor der Thür des größten Wirthshauses auf einer Bank stehend und einen Kreis von vielleicht fünfzig Menschen anredend, die nach jedem seiner Sätze Hurrah schrieen. Gerade als Leo herantrat, sprang Tusky von der Bank herunter, drängte sich durch die Halbbetrunkenen, die mit den vollen Gläsern auf ihn eindrangen, faßte seinen jungen Freund unter den Arm und führte ihn etwas abseits. Es geht vortrefflich, Leo, sagte er; ich glaube, der Tag der Ernte ist gekommen; ich will versuchen, wie weit ich's treibe.

Glaubst Du denn wirklich an die Nachrichten aus der Residenz?

Sie enthalten wenigstens nichts, was unmöglich wäre. Und da es mir nun einmal paßt, das Mögliche für wirklich zu nehmen, so habe ich den braven Burschen die Köpfe gehörig heiß gemacht.

Fürchtest Du nichts für Dich selbst? Das kann nicht verborgen bleiben – und was dann?

Was dann? wiederholte Tusky; ja. Bester, das weiß ich nicht. Einmal mußte doch die Maske fallen; habe ich sie zu früh, habe ich sie zur rechten Zeit fallen lassen – der Erfolg wird's lehren.

So hat auch für mich die Stunde der Freiheit geschlagen! rief Leo.

Tusky antwortete nicht. Ein Schwarm von schreienden Menschen drängte sich heran; man wollte wissen, was der Schulmeister zu dem Plan sage, die Reichen leben zu lassen, aber die Kinder der Armen an die Reichen zu vertheilen? Der Schulmeister sei ein gar gescheidter Mann! Der Schulmeister soll leben! Hurrah hoch!

Leo kehrte nicht wieder in das Pfarrhaus zurück. Das noch nie gesehene Schauspiel einer aufgeregten Volksmenge, so widerlich es ihm auch in seinen Einzelnheiten sein mochte, übte eine dämonische Anziehungskraft auf ihn aus. Er sah hier leibhaftig die Gestalten aus den Bauernkriegen vor sich, mit denen sich seine Phantasie so viel beschäftigt hatte: den rohen Ackerknecht, den verkommenen Häusler, den flachshaarigen Dorfbuben, der auf den herbstlichen Treibjagden mit der Klapper über die kahlen Felder keucht; den dicken Wirth, der im Interesse seines Ausschanks für Freiheit und Gleichheit ist, aber noch mehr dafür, daß jedes Glas Bier der Ordnung gemäß bezahlt werde; den Bandjuden, der auch auf Pfänder leiht und mißtrauisch aus der Ferne dem Lärm zuschaut – und inmitten dieses bunten Treibens die Gestalt seines Freundes, des Agitators, des Einbläsers, der all' diese Menschen, von denen Keiner weiß, was er will, ohne daß sie es merken, nach dem Ziele hinlenkt, das er allein deutlich sieht.

Seine Augen hingen fast unausgesetzt an dieser merkwürdigen Gestalt, die er so genau zu kennen glaubte und die ihm heute in einem ganz neuen Lichte erschien. Wie hätte er je gedacht, daß Tusky, auf dessen großen, harten Zügen sonst der Stempel tiefinnerlichsten Ernstes, ja einer fast krankhaften Schwermuth geprägt war, dessen dünne, für gewöhnlich festgeschlossene Lippen sich höchstens zu einem grimmigen Lächeln verzogen – lachen und scherzen könne, und anstoßen könne mit Jedem, der sich an ihn drängte! Freilich entging Leo auch nicht, daß diese laute Fröhlichkeit keineswegs aus dem Herzen kam; ja er bemerkte, wie des Mannes ausdrucksvolles Gesicht in Augenblicken, wo er sich unbeachtet glaubte, plötzlich wie in Nacht getaucht war.

So erschien es ihm wenigstens, als Tusky am Nachmittage an ihn herantrat und sagte:

Du mußt mir einen Gefallen thun. Ich muß die Tannenstädter zum Abend hier haben; ich habe sie mit Willen so lange oben gelassen, weil ich die alte Eifersucht zwischen ihnen und den Tuchheimern fürchtete; jetzt hat dies nichts mehr zu sagen. Bei Nacht sind alle Katzen grau. Du brauchst nicht bis nach Tannenstädt zu gehen; Eve wartet an der Waldecke vor der Steinhalde und trägt die Botschaft weiter. Du kommst zurück und bringst mir Bescheid.

Ich höre, Ihr wollt auf das Schloß ziehen? Ist das wahr?

Sie sprechen davon, ich weiß nicht, ich glaube nicht. Aber Du mußt eilen, Leo, sonst kann es uns nichts mehr helfen.

Es war kaum vier Uhr, als Leo aus dem Dorfe heraus in die Felder gelangte, die sich mälig bis zu den waldbedeckten Stufen des Gebirges erhoben, aber der Winterabend begann bereits hereinzubrechen. Der Himmel war mit schwerem, grauem Gewölk bedeckt; seltsam stachen die weißen Schneeflächen der Hügel von diesem dunklen Hintergrunde ab. Ein kalter Wind wehte vom Untergang her und raschelte in den dürren Blättern der Hecken an der Wegseite. Hie und da auf dem Schnee saßen ein paar Krähen, andere zogen vom Walde durch die trübe Luft nach dem Dorfe. Das schienen die einzigen lebenden Wesen in dieser Oede.

Rastlos, mit pochendem Herzen eilte Leo hügelauf dem Walde zu. Es hatte sich seiner Seele der Gedanke bemächtigt, daß von der Schnelligkeit, mit welcher er den ihm gewordenen Auftrag erfülle, der gute oder schlimme Ausgang des Aufstandes abhange, und dennoch wußte er nicht, ob er einen guten oder einen schlimmen Ausgang mehr fürchten solle. Auf jeden Fall aber war jetzt der Würfel geworfen; der Schritt, der ihn auf immer und immer von den Menschen trennte, auf welche das Schicksal ihn angewiesen hatte, war gethan. In das Pastorhaus, in das Försterhaus, in das Schloß würde er nie wieder seinen Fuß setzen – aber wohin, wohin würde er sich dann wenden? Gab es noch ein Dach, das ihn schützte? Ihn, der jedes Band, das sonst den Menschen heilig ist, zerrissen hatte? War für ihn nicht die Welt eine kahle, obdachlose Wüste, wie sie hier in grimmiger Unnahbarkeit vor seinen Blicken lag?

Weiter, weiter durch den tiefen Schnee des Hohlweges hinein in den sausenden, ächzenden Wald! An der Stelle vorbei, wo er mit Walter vor ein paar Monaten an dem schönen Sommerabend unter der Buche, die jetzt ihre kahlen Aeste gegen den Himmel streckte, im Moose gelegen und Walter ihm das Gedicht vorgelesen hatte. Er hatte nie wieder an diese Begegnung gedacht; nie daran, wem wohl das Gedicht gegolten haben möchte. Jetzt wußte er mit einemmale, daß es Niemand anders als Amélie gewesen sein konnte. Es war in dem Gedichte so viel von sanften braunen Augen die Rede gewesen: wer hatte so sanfte braune Augen wie Amélie? Es war ihm das aufgefallen, als er vorgestern auf dem Schlosse gewesen war. Die ganze Familie, mit Ausnahme des Freiherrn, hatte an dem runden Tische unter der großen Hängelampe gesessen – Fräulein Charlotte, Miß Jones, die beiden Mädchen – Alle eifrig mit Weihnachtsgeschenken für arme Kinder beschäftigt. Es war ein friedliches, schönes Bild gewesen, und das Lachen und das Geplauder der Mädchen und dazwischen Miß Jones' sonorer Alt und Fräulein Charlotten's milde Stimme! – Silvia hatte ein großes Stück blauen Zeuges, bevor es zerschnitten wurde, sich um die Schultern geschlungen und die Worte der Kassandra zu declamiren begonnen. Sie hatte sehr schön ausgesehen mit ihren wallenden Haaren und den leuchtenden blauen Augen. Es war noch nicht zwei Jahre her, da war sie ein Kind gewesen, damals, als sie im Bache unter den Wasserfällen sich gebadet hatte – ein wildes, übermüthiges, phantastisches Ding. Er hatte sie damals ein paar Wochen lang sehr lieb gehabt und auch Gedichte auf sie gemacht, wie jetzt Walter auf Amélie's braune Augen.

War das schon der Ausgang des Waldes? Unmöglich. Wie konnte er in der kurzen Zeit den weiten Weg zurückgelegt haben? Und doch mußte es sein.

Er mäßigte seinen Schritt und trocknete sich den Schweiß ab, der ihm trotz der eisigen Luft von der glühenden Stirn rann. Auf der Steinhalde hinter dem Walde sollte er Eve treffen. Er hatte sie nicht gesehen, seitdem sie sich an einem Abend im Spätherbst – kurz nach der ersten Begegnung in Tannenstädt – unter sein Fenster geschlichen und ihn erst leise und dann lauter gerufen, und als er sie bat, wegzugehen, ihm gedroht und ihn verwünscht hatte. Wie würde sie heute sein?

Dem Jüngling schlug das Herz. Er wäre in diesem Augenblicke lieber einem wilden Thiere begegnet, als dem jungen Mädchen mit den grauen, stechenden Augen. Aber hier war keine Wahl. Er hatte die letzten einzelnstehenden Bäume des Waldes erreicht, und dort – ein paar hundert Schritte weiter die kahle, schneebedeckte Halde hinauf – auf einem Stein saß eine weibliche Gestalt – es mußte die Eve sein.

Sie hatte den Kopf in beide Hände gestützt und regte sich nicht, selbst als Leo in ihre unmittelbare Nähe gekommen war. Was man von ihrem Gesichte, das die Hände fast bedeckten, sehen konnte, war bläulich bleich, wie die Hände. Leo faßte ein jäher Schrecken. Eilends trat er auf sie zu und legte seine Hand auf ihre Schulter.

Eve, Eve!

Die Hände sanken von dem Gesicht schwer herab auf die Kniee; das bleiche Gesicht wendete sich; die Lider mit den langen Wimpern hoben sich langsam, und die gerötheten Augen starrten ihn an, ausdruckslos, ohne eine Spur von Erkennung, ja nur von seelischem Leben.

Aber in den starren Augen zuckte es wie schwaches Wetterleuchten; die bleichen Wangen begannen sich zu röthen; sie strich sich langsam mit der Hand über die Stirn, und plötzlich sprang sie von dem Steine empor und schwankte auf Leo zu, der, von dem unheimlichen Ausdruck in dem Gesichte des Mädchens betroffen, zurücktaumelte.

Eve blieb stehen und brach in ein gellendes Gelächter aus. Sie hat er geschickt, rief sie, Sie! Ja, sagte Leo, und ich soll – Weiß es schon! sagte Eve; die Tannenstädter sollen kommen. Und dann geht's auf's Schloß! Ich will auch mit; ich will einmal in einem seidenen Bette schlafen. In der Stube mit der Todten kann ich so heute Nacht nicht bleiben.

Mit der Todten? rief Leo.

Nun ja, sagte Eve; die Alte ist heute Morgen gestorben, oder heute Nacht, ich weiß nicht; heute Morgen war sie schon kalt.

Und weiß Conrad – weiß Ihr Bruder es? Ja, natürlich weiß er es, erwiederte Eve; ich hab' ihm Botschaft geschickt.

Unmöglich, rief Leo; er hat mir kein Wort davon gesagt; er – er hat die Botschaft nicht erhalten. Eve lachte.

Nicht erhalten? sagte sie höhnisch; warum denn nicht? Hat er mir doch durch denselben Boten sagen lassen, es wäre gut, und ich sollte von Mittag an hier warten, bis er heraufschickte. Seit vier Stunden warte ich hier und hungere und friere. Was kümmert er sich um irgend einen Menschen, wenn er nur seinen Willen hat. Und wer ihm seinen Willen nicht thut, der mag sich in Acht nehmen Sie haben sich in Acht genommen, schöner junger Herr! Sie sind mir aus dem Wege gegangen, als wenn ich ein Molch oder eine Natter wäre. Aber dafür hasse ich Sie auch; ja, ich hasse Sie, und ich hasse ihn! O, wie ich ihn hasse!

Und Eve stampfte mit dm Füßen, ballte die Fäuste und knirschte mit den starken weißen Zähnen.

Leo war über dies Alles entsetzt. Tusky sollte von dem Tode seiner Mutter Kunde haben? Und konnte mit den Bauern trinken und schwatzen und ihnen Reden halten? Und Eve selbst, die so wenig Gefühl für den Tod ihrer Mutter hatte, wie der Bruder; Eve, die auch mitwollte, die sich freute, heute Nacht in einem seidenen Bette schlafen zu können!

Ueber die Halde heulte der Wind; die Kälte schüttelte den durch den raschen Lauf Erhitzten bis in's Mark.

Er wendete sich, unverständliche Worte murmelnd, von dem Mädchen ab und begann, so schnell es der steinige, schneebedeckte Boden gestattete, den Berg hinabzusteigen. Er glaubte hinter sich her Eve's höhnisches Lachen zu hören, doch konnte er sich auch irren; der Wind machte sich von Minute zu Minute stärker auf und sauste eben durch das trockene Laub einer Eiche, die vor dem Walde Wache stand.

Aber er hatte sich nicht geirrt. Eve, die dem Enteilenden, bis er zum Walde gelangte, mit starren Augen nachgeschaut hatte, lachte in diesem Augenblicke laut und gellend, und murmelte dann zwischen den weißen Zähnen:

Einer wie der Andere – nicht Ein freundliches Wort für mich, die ich ihretwegen friere und hungere. Aber ich will es Euch anstreichen! Ihr sollt an mich denken, wartet! Die Dame vom Schlosse giebt mir doch wenigstens zu essen. Ich will ihr sagen, daß Ihr sie todtschlagen wollt.

Und Eve, anstatt nach Tannenstädt zurückzukehren, lief über die Halde nach einer Stelle, wo, wie sie wußte, ein sehr beschwerlicher, aber auch viel kürzerer Fußpfad von dem Walde über die Berge nach dem Tuchheimer Schlosse führte.

Leo hatte gehofft, den Heimweg mit geringerer Anstrengung zurücklegen zu können, aber darin hatte er sich getäuscht. Das Hinabsteigen auf dem steilen, durch Thau und Frost zerrissenen, zum Theil mit Schnee ausgefüllten Wege war unendlich mühevoller. Ueberdies begann es im Walde bereits stark zu dunkeln, und dann fühlte er plötzlich, daß seine Kräfte fast gänzlich erschöpft waren. Er mußte sich entschließen, langsam und immer langsamer zu gehen, ja endlich sich an der Wegseite auf einen Baumstumpf zu setzen, um wenigstens einige Minuten auszuruhen.

Er stützte den Kopf in die Hände, und wie er so dasaß, überfiel ihn eine unbezwingliche Traurigkeit. Thränen, die er seit seiner Kindheit Tagen nicht geweint, rannen aus seinen Augen. Alles, was er heute gesehen und gehört hatte, kam ihm auf einmal so widerlich, so entsetzlich vor. War dies die Erfüllung der Träume seiner Knabenjahre? Dies ein Stück des Weges, den er weit in die Zukunft hinein hatte schimmern sehen, wenn er in einsamen nächtlichen Stunden in der stillen Giebelstube seines väterlichen Hauses am weinlaubumkränzten Fenster saß und zu dem Monde aufschaute, dessen goldene Schale in dem wolkenlosen Aether schwamm? Waren die trunkenen, lärmenden Gesellen, die er heute um Tusky sich drängen sah, waren sie die Menschheit, der er das Evangelium des Friedens und der Liebe hatte predigen wollen? Und Tusky selbst, war er der Apostel, der Mann der Zukunft, der Held sonder Makel, als welchen er ihn bis heute verehrt hatte? Wenn Tusky nur sein Spiel mit ihm getrieben? Wenn er ihm die furchtbaren Consequenzen seiner Lehre von der Freiheit und Gleichheit geflissentlich verheimlicht hatte, um ihn weiter und weiter zu locken, bis dahin, wo eine Umkehr nicht mehr möglich war?

Warum nicht möglich? Wessen bedurfte es weiter, als auf das Schloß zu gehen, anstatt zurück in das Dorf? Man würde ihn, wenn er käme, gewiß freundlich empfangen – die Mädchen, die in letzter Zeit immer so artig zu ihm gewesen waren, das gnädige Fräulein, das noch vorgestern so gütig mit ihm gesprochen hatte – war es nicht seine theure Pflicht, die Familie seines Wohlthäters von dem Verderben zu benachrichtigen, das über sie hereindrohte? Aber war dies, nicht in demselben Athem Verrath an Tusky – an Tusky, dem er die reinsten Freuden seines Lebens, dem er die schönsten Weihestunden gemeinsamer Begeisterung für die höchsten Ideale verdankte?

Verrath dort und Verrath hier! Wo – wo ein Ausweg aus diesem Irrsal? Die Flucht in die weite – in die öde, winterliche Welt, in die Nacht, die drohend heraufzog, in den Wald, der mitleidslos mit seinen finsteren, schneebelasteten Tannen ihn umstarrte!

Leo fuhr von seinem Sitze empor und blickte wirr um sich. Ihm war gewesen, als wenn Tusky durch den Wald daherkäme, rufend – nach ihm, dem Säumigen, dem Freunde, dem er alle seine Geheimnisse anvertraut, und der ihn nun so schnöde verrathen: Leo, Leo!

Aber es war Niemand da; auf der höchsten Spitze der Tanne auf der anderen Seite des Weges saß eine Krähe und krächzte. Die Dunkelheit hatte sehr zugenommen; in den Wipfeln der Bäume sauste der Wind.

Es war die höchste Zeit, daß er zurückkehrte. Mit welcher Sorge mußte Tusky der Botschaft harren! Die kurze Rast hatte ihn ein wenig erquickt, und er begann wieder das mühsame Hinabklettern auf dem steilen, zerrissenen Waldwege.

Nun war der Ausgang des Waldes erreicht. Es ging noch immer bergab, aber weniger steil; dafür aber begann es jetzt aus den dunklen schweren Wolken, die fast bis auf die Erde herabhingen, zu schneien, dichter und immer dichter – in wenig Minuten waren die undeutlichen Umrisse der Landschaft vor ihm verdeckt, und als er sich umwendete, war der Wald, den er eben erst verlassen hatte, verschwunden. Er sah nichts, als das Stück Boden unmittelbar zu seinen Füßen und rings um sich her, eine grauschwarze Dämmerung, durch welche in rasendem Durcheinander die großen Flocken wirbelten.

Leo schritt, so schnell er konnte, vorwärts; aber er mußte sich oft gegen den Schnee die Augen mit der Hand bedecken und manchmal auch stehen bleiben, um Athem zu schöpfen. Plötzlich hörte er unmittelbar zu seinen Füßen ein starkes Brausen. Es mußte der Bach sein, über den eine steinerne Brücke führte, aber es war keine Brücke da; weder rechts, noch links – nur überall der Bach, welcher zwischen seinen steilen Ufern über mächtige Steine dahinschoß. Leo konnte nicht länger daran zweifeln, daß er vom Wege abgekommen war.

Ein jäher Schrecken erfaßte ihn – nicht um seinethalben, obgleich seine Lage übel genug war – aber um Tusky, der jetzt ohne Botschaft blieb, sich in der Ungewißheit vielleicht zu falschen, unbedachten Schritten verleiten ließ, die seinen Untergang herbeiführen konnten.

Und doch, was thun? Der Bach, welcher die Schneewasser aus dem Walde in trüben Strudeln zu Thal wälzte, war ohne augenscheinliche Lebensgefahr nirgends zu durchschreiten; und dann führten ja außer der Hauptbrücke noch ein paar Stege über den Bach, von denen sich doch einer oder der andere finden lassen mußte, um so sicherer, als der Schneesturm vorüber war und er jetzt nur noch mit der Dunkelheit des Abends zu kämpfen hatte.

Mit der Dunkelheit – und dann mit der Müdigkeit, die zum zweiten Male, aber in viel stärkerem Grade, als vorhin im Walde ihn überfiel. Er konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen – hier am Rande des Baches, wo jeder Fehltritt ihm Verderben bringen mußte; dazu fühlte er heftige Stiche in der Brust, und seine Schläfe begannen ihn grausam zu schmerzen. Der Tod, den er sich gewünscht hatte, schien seinen Ruf vernommen und ihn mit seiner grimmigen Faust gepackt zu haben.

Zu seiner Linken fing ein rother Schein, der mit jedem Augenblick heller wurde, an, die trübe Schneeluft zu färben; aber der von tödtlicher Erschöpfung Gefolterte wußte nicht mehr, ob dies ein Spiel seiner überreizten Sinne oder ob es Wirklichkeit sei. Er hatte keine Kraft, darüber oder über irgend etwas nachzudenken; er hatte nur den einen Wunsch, eine trockene, warme Stelle zu finden, auf der er die entkräfteten Glieder ausstrecken könnte.

Da tauchte ein Licht unmittelbar vor ihm aus der Dunkelheit auf. Mechanisch schwankte er darauf zu. Wenige Schritte auf einem ebenen Pfade brachten ihn zu einer Hütte, in deren Thür eine junge Frau stand. Leo kannte sie wohl. Ihr Mann, ein Weinbauer, der ein vertrauter Freund Tusky's gewesen, war vor einigen Wochen gestorben; Leo war in der Hütte wohl bekannt.

Die Gewißheit der Rettung aus Todesgefahr gab ihm auf Augenblicke die Besinnung wieder. Er hörte Ausrufe der Verwunderung über sein plötzliches Erscheinen von den Lippen der jungen Frau; dann hörte er eine andere Stimme – die der Schwester der Frau – sagen, daß es im Dorf brenne. Er murmelte ein paar Worte, daß er sich verirrt habe, daß er sich einige Minuten ausruhen müsse – aber nur einige Minuten, weil Tusky ihn erwarte –

Dann aber schwand Alles in Nacht. Die beiden mitleidigen Frauen geleiteten den Schwankenden, Halbohnmächtigen in das niedrige Zimmer, legten ihn auf das Bett und deckten ihn warm zu.

Die Frauen standen wieder an der Thür und blickten nach dem rothen Schein, der jetzt bis zum Zenith hinaufreichte.

Ich hab' gewußt, daß es heute ein Unglück geben würde, sagte die Eine; die Todtenuhr, die seit dem Tage, wo mein Mann starb, stillgestanden ist, hat gestern die ganze Nacht durch gepickt.

Dummes Zeug! erwiederte die Andere, das Unglück kommt nicht davon her. Die schlechten Menschen machen es. Hab' Deinen Mann und Conrad oft genug davon sprechen hören. Ich fürcht', es giebt heut' Mord und Todtschlag im Dorf.


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