Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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95.

An demselben Morgen reisten wir von Mantua nach Brescia ab. Hier ward der andere Gefangene, Andrea Tonelli, freigelassen. Dieser Arme erfuhr dort, daß er seine Mutter verloren habe, und seine trostlosen Tränen zerrissen mir das Herz.

So bang mir aus vielen Gründen war, der folgende Vorfall stimmte mich jedoch wieder ein wenig heiter.

Auf einem Tische im Gasthofe lag ein Theaterzettel. Ich nehme ihn und lese: Francesca da Rimini, Oper in Musik gesetzt usw.

»Von wem ist diese Oper?« frage ich den Kellner.

»Wer die Verse und die Musik gemacht hat, weiß ich nicht,« erwiderte er. »Aber im allgemeinen ist es immer dieselbe Francesca da Rimini, die jedermann kennt.«

»Jedermann? Sie irren sich. Ich komme aus Deutschland, was soll ich von euren Francescas wissen?«

Der Kellner (es war ein Bursche mit einem trotzigen, echt brescianischen Gesicht) sah mich mit verächtlichem Mitleid an.

»Was Sie davon wissen sollen? Mein Herr, es handelt sich nicht um mehrere Francescas. Es handelt sich bloß um die eine Francesca da Rimini. Ich meine das Trauerspiel von Herrn Silvio Pellico. Hier hat man eine Oper daraus gemacht, wobei es etwas umgestaltet worden ist, aber das ist ganz gleich, es ist immer ein und dieselbe.«

»Ah! Silvio Pellico? Den Namen meine ich schon gehört zu haben. Ist das nicht der leichtsinnige Vogel, der zum Tode und nachher zu schwerem Kerker verurteilt wurde, es mögen acht oder neun Jahre her sein?«

Besser hätte ich diesen Scherz unterlassen sollen! Er blickte wild um sich, dann sah er mich an, zeigte grinsend zweiunddreißig sehr schöne Zähne, und hätte er nicht Geräusch gehört, ich glaube, er hätte mich totgeschlagen.

Er entfernte sich murmelnd: »Der leichtsinnige Vogel?« Aber ehe ich weiterreiste, entdeckte er, wer ich war. Nun war er nicht mehr imstande, weder etwas zu fragen noch zu antworten oder aufzuwarten oder hin und her zu laufen. Nichts tat er weiter als starrte mich an, rieb sich die Hände, sagte zu allen, ohne auf das, was sie wünschten, zu achten: »Jawohl, Herr, jawohl!« als wenn es in seinem Kopfe nicht recht richtig wäre.Im Italienischen steht eigentlich: – Sior si, Sior si! als wenn er nieste. Scharf gesprochen hören sich jene Worte so an, als wenn jemand niest. Anmerk. des Übersetzers.

Zwei Tage später, am 9. September, gelangte ich mit dem Kommissar nach Mailand. Als ich mich jener Stadt näherte, als ich den spitzen Turm des Domes wiedersah, durch die von mir so oft und gern durchschrittene Allee von Loreto fuhr, wieder durch die Porta Orientale die Stadt betrat, mich wieder auf dem Korso befand, die Häuser wiedersah, die Kirchen, diese Straßen, da durchzogen meine Seele die angenehmsten und schmerzlichsten Gefühle: ein bis zum Wahnsinn gehender Wunsch, mich einige Zeit in Mailand aufzuhalten und die Freunde, die ich noch wiederfinden möchte, wieder zu umarmen; ein unsäglicher Schmerz bei dem Gedanken an die, welche ich auf dem Spielberge zurückgelassen, an die, welche in fremden Ländern umherirrten, an die gestorbenen; ein lebhaftes Gefühl der Dankbarkeit bei dem Andenken an die Liebe, welche mir im allgemeinen die Bewohner Mailands bewiesen; eine Regung des Unmuts gegen einzelne, die mich verleumdet hatten, während sie stets Gegenstand meines Wohlwollens und meiner Achtung gewesen waren.

Wir kehrten im Gasthofe »zum schönen Venedig« ein. Hier hatte ich so oft mit Freunden beim heiteren Mahle gesessen; hier hatte ich so viele angesehene Fremde besucht; hier hatte eine achtbare, schon bejahrte Dame inständigst aber vergebens mich durch Bitten zu bewegen versucht, ihr nach Toskana zu folgen, da sie das Unglück voraussah, das mir zustoßen würde, wenn ich in Mailand bliebe. Welche erschütternden Erinnerungen! O Vergangenheit, erfüllt von Freuden und Schmerzen! Wie reißend schnell bist du entflohen!

Die Kellner des Gasthofes entdeckten sogleich, wer ich war! Das Gerede verbreitete sich, und gegen Abend sah ich viele auf dem Platze stillstehen und nach den Fenstern herausschauen. Einer (wer es war, weiß ich nicht) schien mich wiederzuerkennen und streckte beide Arme zum Gruße empor.

Ach, wo waren Porros Söhne, meine Söhne? Warum sah ich sie nicht?


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