Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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17.

Aber wenn sich mein Gemüt wieder beruhigt hatte, dachte ich über die ausgestandenen Qualen nach, und wegen meiner Schwachheit auf mich selbst erzürnt, überlegte ich ernstlich, auf welche Weise ich mich von ihr losmachen könnte. Hierzu schien mir folgendes Mittel sehr geeignet. Jeden Morgen, nachdem ich dem Schöpfer meine Verehrung kurz bewiesen, war das erste Geschäft für mich, über alle möglichen Ereignisse, die mein Gemüt zu erschüttern vermöchten, eine sorgfältige, mutige Prüfung anzustellen. Dadurch, daß ich bei einem jeden längere Zeit mit meiner Phantasie verweilte, bereitete ich mich darauf vor: alle Besuche, von den liebsten an bis zu dem des Henkers herab, ging ich der Reihe nach durch. Einige Tage kam mir diese traurige Übung unerträglich vor; aber standhaft wollte ich sein, und in kurzem war ich ganz damit zufrieden.

Am Neujahrstage 1821 erhielt Graf Luigi Porro die Erlaubnis, mich zu besuchen. Die zärtliche und warme Freundschaft, die zwischen uns bestand, das auf beiden Seiten gefühlte Bedürfnis, uns so mancherlei zu sagen, der Zwang, der uns durch das Dabeisein eines Aktuars auferlegt wurde, da wir einander unsere Herzen ausschütten wollten, die allzu kurze Zeit, welche man uns zu einer Zusammenkunft gestattet hatte, die schlimmen Ahnungen, von denen ich geängstigt ward, die Anstrengung, die wir gleichzeitig machten, ruhig zu erscheinen, alles das, meinte ich, würde mein Herz in eine ganz furchtbare Aufregung versetzen. Aber als ich mich von diesem teuren Freunde getrennt hatte, fühlte ich mich völlig ruhig; ich war weich gestimmt, aber ohne Unruhe.

Das ist der Erfolg, wenn man sich im voraus gegen gewaltige Erschütterungen rüstet.

Das Bestreben, eine sich stets gleichbleibende Gemütsruhe zu erlangen, ging weniger aus dem Verlangen, mein Mißgeschick zu erleichtern, hervor, als vielmehr daraus, daß mir die Unruhe niedrig, eines Mannes unwürdig vorkam. Ein aufgeregtes Gemüt ist nicht mehr fähig zu überlegen, hineingerissen in einen unwiderstehlichen Strudel übertriebener Vorstellungen, bildet es sich eine ungereimte, tolle, böswillige Logik: es befindet sich in einer Verfassung, die mit der Philosophie und dem Christentume völlig im Widerspruche steht.

Wäre ich Prediger, so würde ich den Leuten die Notwendigkeit oft ans Herz legen, daß man jede Unruhe verbannen müsse; denn ohne diese Vorbedingung kann man nicht gut sein. Wie lebte doch Er in Frieden mit sich und mit anderen, Er, den wir alle nachahmen sollen! Es gibt keine Hochherzigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Mäßigung, ohne eine Gesinnung, die bemüht ist, über die Erlebnisse dieses kurzen Daseins lieber zu lächeln, als in Zorn zu geraten. Dem Zorne gebricht es an Kraft, außer in dem ganz seltnen Falle, wo man annehmen kann, durch denselben einen Bösewicht zu demütigen und ihn von unbilligen Handlungen abzubringen. Möglich daß es Aufwallungen gibt, von denen, die ich kenne, ihrer Natur nach verschieden und weniger verdammenswert; aber diejenige, von der ich bis dahin beherrscht war, diese war nicht bloß die Folge großer Betrübnis: oftmals mischte sich wilder Haß darein, eine starke Sucht zu schelten, mir die Gesellschaft, diese oder jene einzelne Person in dem abscheulichsten Lichte darzustellen. Das ist wie eine ansteckende Seuche in der Welt! Der Mensch hält sich selber für besser, indem er seine Mitmenschen verabscheut. Es ist, als sagten sich alle Freunde ins Ohr: Unsere gegenseitige Liebe soll sich auf uns beschränken; indem wir schreien, daß alle anderen Gesindel sind, wird man uns für Halbgötter ansehen.

Sonderbar, daß diese Art das Leben voll Erbitterung hinzubringen, so viel Gefallen findet! Man sieht darin eine Art von Heldenmut. Wenn der Gegenstand, gegen den man gestern ergrimmt war, tot ist, so sucht man sogleich wieder einen neuen auf. – Gegen wen werde ich mich heute in Klagen ergehen? Wen werde ich hassen? ist etwa dieser das Ungeheuer? ... O Jubel! ich habe ihn gefunden. Kommt, Freunde, laßt uns ihn zerreißen! –

So ist der Lauf der Welt: und ohne sie zu zerreißen, darf ich wohl sagen, daß es schlecht in ihr zugeht.


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