Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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7.

In Freiheit zu leben ist gewiß weit schöner, als sich im Kerker zu befinden; wer möchte daran zweifeln? Doch auch im Elende eines Kerkers, wenn man daran denkt, daß Gott gegenwärtig ist, daß die Freuden der Welt vergänglich sind, daß das wahre Glück in dem guten Gewissen und nicht in äußerlichen Dingen beruht, auch da kann man mit Lust das Leben empfinden. In weniger als einem Monate war ich mir, ich will nicht sagen, mit voller Sicherheit, aber doch in erträglicher Weise über mein Verhalten klar geworden. Ich sah, wenn ich nicht so niedrig handeln wollte, durch das Verderben anderer für mich Straflosigkeit zu erlangen, daß mein Schicksal höchstens der Galgen oder ein langwieriges Gefängnis sein könnte. Es war notwendig, sich darein zu fügen. – Atmen will ich, solange man mir den Odem gönnt, sagte ich, und sollte man mir ihn nehmen, so will ich das tun, Was alle Kranken tun, wenn ihr letzter Augenblick gekommen ist: ich werde sterben.

Mein Streben ging dahin, über nichts Klage zu führen und meinem Geiste alle nur möglichen Freuden zu gestatten. Die gewöhnlichste Erholung gewährte es mir, wenn ich die Güter, welche meine Tage verschönert hatten, immer von neuem aufzählte: ein trefflicher Vater, eine vorzügliche Mutter, ausgezeichnete Brüder und Schwestern, diese und jene Freunde, eine gute Erziehung, Liebe zu den Wissenschaften und vieles andere. Gab es wohl einen Menschen, der mit Glücksgütern reicher gesegnet worden als ich? Warum Gott nicht dafür danken, wenn ich jetzt gleichwohl durch Mißgeschick in ihrem Genusse gestört bin? Manchmal brachen mir bei solch einer Aufzählung Tränen der Rührung aus den Augen, ich weinte eine Weile; der Mut und die Freudigkeit aber kehrten stets wieder zurück.

Gleich in den ersten Tagen meiner Haft hatte ich mir einen Freund erworben: nicht der Kerkermeister war es, nicht einer von den Secondini, auch keiner von dem Gerichtspersonal. Dennoch spreche ich von einem menschlichen Wesen. Wer war es? – Ein taubstummes Kind, fünf oder sechs Jahre alt. Seine Eltern waren Räuber, das Gesetz hatte sie erreicht. Die arme kleine Waise ward mit einigen anderen Kindern aus gleichen Verhältnissen von der Polizei erhalten. Sie wohnten alle in einer Stube, der meinigen gegenüber, und zu bestimmten Stunden öffnete sich für sie die Tür, damit sie draußen auf dem Hofe frische Luft schöpften.

Der Taubstumme kam dann unter mein Fenster, lachte mich an und machte Bewegungen mit den Händen. Ich warf ihm ein tüchtiges Stück Brot hinunter; voll Freude sprang er darauf los, um es zu ergreifen, lief dann zu seinen Gefährten, gab allen etwas ab, kehrte dann zurück, um seinen Anteil unter meinem Fenster zu verzehren, wobei er seine Dankbarkeit durch ein Lächeln seiner schönen Augen ausdrückte.

Die anderen Kinder betrachteten mich von ferne, ohne sich heranzuwagen; der Taubstumme hatte große Zuneigung zu mir, aber nicht bloß aus Eigennutz. Manchmal wußte er nicht, was er mit dem herabgeworfenen Brote machen sollte, und gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß er und seine Kameraden satt wären und nichts mehr essen könnten. Wenn er dann einen der Unteraufseher nach meinem Zimmer gehen sah, gab er ihm das Brot, um es mir wieder zuzustellen. Obwohl er dann von mir nichts erwartete, fuhr er doch fort, vor meinem Fenster mit äußerst liebenswürdiger Anmut zu schäkern, und freute sich, daß ich ihn sähe. Einmal gestattete ein Aufseher dem Kinde, in mein Zimmer zu kommen; kaum war es eingetreten, da lief es auf mich zu, um meine Knie zu umfassen, und stieß dabei einen Freudenschrei aus. Ich nahm es auf den Arm, und das Entzücken läßt sich nicht beschreiben, unter welchem es mich mit Liebkosungen überhäufte. Wieviel Liebe in diesem teuren Geschöpfe! Wie gern hätte ich es erziehen lassen und aus der Verworfenheit retten mögen, in der es sich befand!

Seinen Namen habe ich nie erfahren. Es selber wußte nicht, ob es einen hätte. Stets war es vergnügt, niemals sah ich es weinen, nur ein einziges Mal, als es von dem Kerkermeister, ich weiß nicht aus welcher Ursache, geschlagen wurde. Sonderbar!

An dergleichen Orten zu leben, erscheint als das höchste Maß von Elend, und doch fühlte dies Kind sich gewiß ebenso glücklich, als nur der Sohn eines Fürsten in diesem Alter es sein kann. Ich dachte eine Weile hierüber nach und lernte, daß man die Stimmung von dem Orte unabhängig machen kann. Bemühen wir uns nur, unsere Einbildungskraft in unserer Gewalt zu haben, und wir werden uns beinahe überall wohl fühlen. Ein Tag ist bald vergangen, und wenn man sich am Abend ohne Hunger und ohne heftige Schmerzen niederlegt, was liegt daran, ob das Bett sich zwischen Wänden befindet, die man ein Haus oder einen Palast nennt, oder zwischen Wänden, die ein Gefängnis heißen?

Ein vortrefflicher Schluß! Aber wie stellt man es an, daß man seine Einbildungskraft so in der Gewalt hat? Ich versuchte es, und manchmal schien es mir wohl zu gelingen; aber ein andermal triumphierte die Tyrannin, und ich erstaunte verdrießlich über meine Schwachheit.


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