Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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6.

Als ich nicht mehr durch Verhöre gequält ward und nichts mehr hatte, was meinen Geist den Tag über beschäftigte, da empfand ich die Last der Einsamkeit höchst bitter. Wohl erlaubte man mir, daß ich eine Bibel und den Dante erhielt; wohl stellte mir der Kerkermeister seine Bibliothek zur Verfügung, welche aus einigen Romanen von Scuderi, von Piazzi und noch geringerer Ware bestand; aber mein Geist war so aufgeregt, daß er zu keiner Lektüre irgendwelcher Art aufgelegt war. Jeden Tag lernte ich einen Gesang aus Dante auswendig, diese Übung geschah jedoch so mechanisch, daß ich mehr an meine Lage als an den Sinn der Verse dachte. Ebenso erging es mir bei der Lektüre anderer Gegenstände; nur einigemal darf ich ausnehmen, wenn ich in der Bibel las. Dies göttliche Buch, das ich stets so sehr geliebt hatte, selbst in der Zeit, wo ich in meinem Glauben durch Zweifel gestört war, studierte ich jetzt mit weit mehr Ehrfurcht als jemals; nur daß ich trotz des besten Willens, oftmals wenn ich darin las, in meinen Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, so daß ich gar nichts auffaßte. Allmählich aber gewann ich die Fähigkeit, über das Gelesene ernstlich nachzudenken und ihm immer mehr Geschmack abzugewinnen.

Eine derartige Lektüre erweckte in mir niemals die mindeste Neigung zur Frömmelei; ich meine damit jene falsch verstandene Frömmigkeit, welche zum Kleinmut oder zur Schwärmerei führt. Vielmehr lehrte sie mich, Gott und die Menschen lieben, dem Reiche der Gerechtigkeit immer mehr nachtrachten, von der Bosheit mich mit Abscheu abwenden, gegen die Boshaften selber aber Verzeihung üben. Das Christentum bestärkte das Gute, was die Philosophie in mir bewirkt haben mochte, anstatt es aufzuheben, und verlieh ihm durch tiefere und schwerer wiegende Gründe immer neue Antriebe. Eines Tages hatte ich gelesen, daß man ohne Unterlaß beten solle, das wahre Beten sei nicht ein bloßes Herplappern von Worten, wie es die Heiden tun, sondern es bestehe darin, daß man Gott mit einfältigem Sinne in Worten und Werken verehre und so handle, daß man in diesen beiden Gottes heiligen Willen erfülle; da nahm ich mir vor, mit diesem Beten ohne Unterlaß ernstlich einen Anfang zu machen: das heißt, in mir nicht einen Gedanken aufkommen zu lassen, der nicht von dem Verlangen beseelt wäre, mich ganz nach den Geboten Gottes zu richten.

Die Gebetsformeln, welche ich zur Verrichtung meiner Andacht hersagte, waren immer wenige, nicht etwa aus Mißachtung (ich glaube vielmehr, daß dieselben sehr heilsam sind, für den einen mehr, für den anderen weniger, um die Aufmerksamkeit bei der Anbetung festzuhalten), vielmehr deswegen, weil ich weiß, daß ich meiner Natur nach unfähig bin, viele Formeln auszusprechen, ohne daß meine Gedanken zerstreut umherschweifen und die Richtung auf die Anbetung verlieren.

Weit entfernt, daß der ernste Wille, die Gegenwart Gottes beständig vor Augen und im Herzen zu haben, meinem Geiste einen mühevollen Zwang verursacht hätte oder ihm ein Gegenstand der Furcht gewesen wäre, vielmehr war derselbe höchst wohltuend für mich. Indem ich nicht vergaß, daß Gott stets bei uns, daß er in uns ist, oder daß wir vielmehr in ihm sind, verlor die Einsamkeit mit jedem Tage mehr von ihrem Schrecken für mich: Bin ich nicht in der allerbesten Gesellschaft? fragte ich mich beständig. Dann ward ich heiter, fing an zu singen und zu pfeifen, mit inniger Freude und voll sanfter Rührung. Doch wie? dachte ich bei mir, wenn mich ein Fieber befallen und mich in das Grab gebracht hätte? Alle die Meinigen, hätten sie sich bei meinem Tode ihrem Schmerze auch noch so sehr hingegeben, dennoch würden sie allmählich die Kraft wiedergewonnen haben, sich mit Ergebung in meinen Verlust zu schicken. Anstatt eines Grabes hat mich das Gefängnis verschlungen; soll ich glauben, daß Gott sie nicht mit gleicher Stärke ausrüsten werde?

Die innigsten Gebete richtete mein Herz für ihr Wohl an Gott, manchmal weinte ich dabei; aber die Tränen selber waren mit Süßigkeit vermischt. Ich hatte die volle Zuversicht, daß Gott sie und mich aufrechterhalten werde. Ich habe mich nicht getäuscht.


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