Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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38.

Ohne einen Überrest von Groll zerriß ich die vier Stücke des Briefes in ganz kleine Teile; dann trat ich ans Fenster, streckte die Hand hinaus, blieb aber stehen, um das Schicksal der einzelnen Papierstückchen im Spiele des Windes anzusehen. Einige flogen auf das Bleidach der Kirche, andere kreisten lange in der Luft und fielen dann zur Erde. Ich sah, daß alle weit zerstreut wurden, so daß nicht zu befürchten war, es möchte sie jemand sammeln und das Geheimnis derselben erraten.

Dann schrieb ich an Giuliano und gab mir alle Mühe nicht gereizt zu sein oder zu scheinen.

Ich scherzte über seine Befürchtung, ich möchte die Peinlichkeit des Gewissens bis zu einem Grade treiben, der sich mit der Philosophie nicht vereinigen ließe, und sagte ihm, daß er sein Urteil hierüber wenigstens noch aufschieben möchte. Ich lobte ihn, daß er sich zur Aufrichtigkeit bekannt hätte, versicherte ihn, daß er mich in dieser Beziehung ihm ganz gleichgesinnt finden werde, und fügte hinzu, um ihm eine Probe davon zu geben, wollte ich mich anschicken, das Christentum zu verteidigen; »in der vollen Überzeugung,« so waren meine Worte, »daß Sie die Freundlichkeit haben werden, meine Ansichten mit Ruhe anzuhören, wie ich stets bereit sein werde, die Ihrigen in aller Freundschaft zu vernehmen.«

Diese Verteidigung, nahm ich mir vor, wollte ich nach und nach ausführen, und fing sie sogleich damit an, daß ich mit sorgfältiger Treue das Wesen des Christentums darlegte: Verehrung Gottes, Aufgeben des Aberglaubens – Brüderlichkeit unter den Menschen – unausgesetztes Streben nach Tugend – Demut ohne Erniedrigung – Würde ohne Hochmut – das Urbild: ein Gottmensch! Was gibt es Philosophischeres und Erhabeneres?

Dann suchte ich nachzuweisen, wie eine so hohe Erkenntnis mehr oder weniger schwach schon alle diejenigen erleuchtet, welche mit dem Lichte der Vernunft das Wahre gesucht, wie sie aber niemals sich über die gesamte Welt verbreitet; und wie dann der göttliche Meister, als er auf der Erde erschienen, darin ein überraschendes Zeichen von sich gegeben, daß er diese Ausbreitung mit den für menschliche Verhältnisse einfachsten Mitteln gewirkt habe. Was die größten Philosophen niemals vermochten: die Ausrottung des Götzendienstes und die an alle ergehende Predigt von der Liebe gegen die Brüder wird durch wenige ungebildete Glaubensboten ausgeführt. Die Freilassung der Sklaven wird von nun an immer häufiger, und zuletzt tritt eine staatliche Gemeinschaft ohne Sklaven ein, ein Zustand der Gesellschaft, der den Philosophen des Altertums unmöglich erschien.

In einem Überblicke über den Verlauf der Geschichte von Jesus Christus an bis auf die Gegenwart sollte zum Schluß der Nachweis geführt werden, wie die von ihm gestiftete Religion sich stets für alle möglichen Stufen der Zivilisation passend erwiesen habe. Daher sei es falsch, wenn man behaupte, bei dem weiteren Fortschreiten der Zivilisation könne das Evangelium sich mit derselben nicht mehr vertragen.

Ich schrieb mit den allerkleinsten Zeichen und soweit mir auf dem Papiere möglich war, aber da mir dies denn doch ausging, so konnte ich nicht viel weiter gelangen. Wiederholt las ich meine Einleitung durch, und sie schien mir wohlgelungen. Es fand sich darin auch nicht ein einziger Ausdruck von Empfindlichkeit über den beißenden Spott Giulianos, vielmehr war sie mit Äußerungen einer liebevollen Gesinnung angefüllt, diese hatte mir mein Herz eingegeben, das sich vollkommen wieder der Toleranz zugeneigt hatte.

Der Brief ward abgeschickt, und den nächsten Morgen erwartete ich mit Spannung die Antwort darauf.

Tremerello kam und bestellte mir: »Der Herr hat nicht schreiben können, bittet Sie aber, mit Ihrem Scherze fortzufahren.«

»Mit was für einem Scherze?« schrie ich auf. »Wie, Scherz wird er wohl nicht gesagt haben! Ihr werdet ihn falsch verstanden haben.«

Tremerello zuckte die Achseln: »Ich werde ihn falsch verstanden haben.«

»Glaubt Ihr wirklich, daß er Scherz gesagt habe?«

»Geradeso wie ich in diesem Augenblicke die Schläge von St. Marco zu hören glaube. – (Eben tönte die große Glocke.) Ich trank meinen Kaffee, ohne etwas zu sagen.«

»Aber sagt mir, hatte denn der Herr meinen Brief schon ganz gelesen?«

»Ich denke, ja; denn er lachte, er lachte wie ein Narr und machte aus dem Brief einen Ball und warf ihn durch die Luft, und als ich ihn erinnerte, er möchte nicht vergessen, ihn nachher zu zerreißen, zerriß er ihn augenblicklich.«

»Das ist ja einzig.«

Darauf gab ich die Kanne an Tremerello zurück und bemerkte dabei, man könne wohl spüren, daß Frau Bettina den Kaffee gemacht habe.

»Haben Sie ihn schlecht gefunden?«

»Äußerst schlecht.«

»Aber ich habe ihn gemacht und kann Sie versichern, ihn recht stark gekocht zu haben, und es war kein Satz darin.«

»Vielleicht habe ich dann einen schlechten Geschmack im Munde.«


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