Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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83.

Daß mir die Zeitung heimlich in die Hände gekommen war, dies darf den Leser nicht etwa auf die Vermutung bringen, als wäre mir's gelungen, häufiger Nachrichten von der Außenwelt zu erlangen. Nein: wohl war meine ganze Umgebung gegen mich gut gesinnt, aber alle hielt die äußerste Furcht gefesselt.

Falls irgendeine geringfügige Heimlichkeit vorkam, so geschah es nur in dem Falle, daß geradezu gar keine Gefahr vorhanden zu sein schien. Freilich war es ein schwieriges Ding, daß inmitten so vieler ordentlicher und außerordentlicher Untersuchungen keine Gefahr sich zeigen konnte.

Mit Ausnahme jenes eben mitgeteilten Winkes hinsichtlich meiner Schwester war es mir niemals vergönnt, heimliche Nachrichten über meine Familie in der Ferne zu erhalten.

Die Besorgnis, daß meine Eltern nicht mehr am Leben seien, wurde von da an eine Zeitlang eher in mir vermehrt als vermindert, und zwar durch die Art und Weise, in der mir der Polizeidirektor eines Tages ankündigte, daß bei mir zu Hause alles sich Wohl befände.

»Seine Majestät der Kaiser befiehlt,« sagte er, »daß ich Ihnen über Ihre Verwandten, die Sie zu Turin haben, gute Nachrichten mitteile.«

Vor freudiger Überraschung über diese mir nie zuvor gemachte Mitteilung sprang ich in die Höhe und bat um mehr Einzelheiten.

»Ich habe«, sagte ich zu ihm, »Eltern, Brüder und Schwestern zu Turin verlassen. Sind sie alle noch am Leben? Ach, wenn Sie von irgendeinem derselben einen Brief haben, so bitte ich Sie inständig, ihn mir zu zeigen!«

»Gar nichts vermag ich Ihnen zu zeigen. Sie müssen hiermit zufrieden sein. Immerhin ist es ein Beweis von dem Wohlwollen des Kaisers, wenn er Ihnen diese tröstlichen Worte sagen läßt. Das ist bisher noch keinem zuteil geworden.«

»Daß dies ein Beweis von der Güte des Kaisers ist, gebe ich gern zu, aber Sie werden selbst empfinden, daß es mir unmöglich ist, aus so unbestimmten Worten Trost zu schöpfen. Welches sind diejenigen meiner Verwandten, die sich wohl befinden? Habe ich keinen davon verloren?«

»Bedaure sehr, mein Herr, Ihnen nicht mehr sagen zu können, als mir aufgetragen worden.«

Damit entfernte er sich.

Sicherlich lag die Absicht zugrunde, mir mit dieser Nachricht einen Trost zu spenden. Aber ich war überzeugt, hatte der Kaiser der Verwendung eines meiner Verwandten nachgeben und gestatten wollen, daß man mir diesen Wink zukommen ließe, so hatte er doch zu gleicher Zeit nicht gewünscht, daß man mir einen Brief vorzeigte, damit ich nicht erführe, welche von meinen Lieben mir genommen wären.

Einige Monate später ward mir eine ähnliche Andeutung wie die frühere gemacht; aber keinen Brief, keine weitere Erklärung erhielt ich.

Man sah, daß ich dadurch nicht befriedigt war, daß ich nur noch betrübter darüber ward, und seitdem sagte man mir nichts mehr von meiner Familie.

So bildete ich mir ein, daß meine Eltern gestorben wären, ebenso vielleicht auch meine Brüder und meine andere vielgeliebte Schwester Josephine, daß Mariechen vielleicht allein noch am Leben sei, die in der kummervollen Einsamkeit und unter quälenden Bußübungen bald zugrunde gehen werde; und dies machte mir das Leben noch weit unerträglicher.

Manchmal ward ich von meinen gewöhnlichen Schwächezuständen oder von neuen Krankheiten heftig befallen, so von einer furchtbaren Kolik, welche mit sehr schmerzhaften, der Cholera ganz ähnlichen Symptomen auftrat, so daß ich zu sterben hoffte. Ja, der Ausdruck ist der passende: Ich hoffte es.

Und dennoch, wie groß sind die Widersprüche im Menschen! wenn ich auf meinen dahinschmachtenden Gefährten blickte, zerriß mir der Gedanke, ihn allein lassen zu sollen, das Herz, und aufs neue wünschte ich zu leben.


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