Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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68.

Eines Abends standen Oroboni und ich am Fenster und beklagten uns gegenseitig über unseren Hunger. Wir sprachen etwas laut dabei, und die Wachen riefen uns an. Der Oberinspektor, der zum Unglück gerade auf dieser Seite vorüberging, hielt sich verpflichtet, Schillern rufen zu lassen und ihm einen derben Verweis zu erteilen, daß er nicht besser aufpaßte, um uns in Ruhe zu erhalten.

Schiller kam in heftigem Zorne, sich bei mir zu beschweren, und schärfte mir ein, ich solle nicht mehr zum Fenster hinaussprechen. Er verlangte von mir, daß ich ihm daraufhin ein Versprechen geben sollte.

»Nein,« entgegnete ich, »das will ich Euch nicht versprechen.«

»O, der Teufel! der Teufel!« schrie er; »mir zu erwidern: ich will nicht! mir, der ich Ihretwegen einen verdammten Rüffel bekommen!«

»Um den Rüffel, den Ihr bekommen habt, tut es mir leid, mein lieber Schiller, aufrichtig tut es mir leid; aber ich will Euch nicht etwas versprechen, wovon ich genau weiß, daß ich es nicht halten würde.«

»Weswegen würden Sie es denn nicht halten?«

»Weil ich es nicht könnte; denn die fortwährende Einsamkeit ist eine so grausame Marter für mich, daß ich dem Bedürfnisse nicht würde widerstehen können, irgendeinen Laut aus der Kehle hervorzubringen und meinen Nachbar zum Antworten aufzufordern. Und wenn der Nachbar schwiege, würde ich die Worte an das Gitter meines Fensters, an die Hügel, die ich vor mir sehe, an die vorüberfliegenden Vögel richten.«

»Der Teufel! und Sie wollen mir's nicht versprechen?«

»Nein, nein, nein!« rief ich.

Jetzt warf er das rasselnde Bund Schlüssel auf den Boden und schrie fortwährend: »Der Teufel! der Teufel!« Dann warf er sich mir um den Hals und rief aus: »Soll ich dieser Lumpenschlüssel wegen etwa aufhören, ein Mensch zu sein? Sie sind ein Herr wie sich's gehört, und es macht mir Freude, daß Sie etwas nicht versprechen wollen, was Sie doch nicht halten würden. Ich selber würde es nicht anders machen.«

Ich hob die Schlüssel wieder auf und gab sie ihm.

»Diese Schlüssel«, sagte ich zu ihm, »sind doch nicht so lumpig, da sie aus einem ehrlichen Korporal, wie Ihr seid, keinen gemeinen Schergen zu machen vermögen.«

»Und wenn ich glauben müßte, daß sie das vermöchten,« entgegnete er, »dann würde ich sie zu meinen Vorgesetzten tragen und würde zu ihnen sprechen: ›Wenn Sie mir kein anderes Brot geben wollen als das eines Henkersknechtes, so will ich lieber um Almosen betteln gehen.‹«

Dabei zog er sein Tuch aus der Tasche, wischte sich die Tränen aus den Augen, richtete sie dann in die Höhe und faltete die Hände wie zum Gebete. Auch ich faltete die meinigen und betete wie er im stillen. Er verstand, daß ich für ihn betete, so wie ich verstand, daß er dasselbe für mich tat.

Als er wegging, sagte er leise zu mir: »Wenn Sie mit dem Grafen Oroboni sprechen, sprechen Sie so leise Sie können. So werden Sie zweifach gut daran tun: mir werden Sie die Schelte des Herrn Inspektors ersparen, und ferner wird man Ihre Unterhaltung nicht verstehen ... darf ich es sagen? ... eine Unterhaltung, die, an den Mann gebracht, den, der strafen kann, vielleicht noch mehr aufreizen möchte.«

Ich versicherte ihn, daß über meine Lippen nie ein Wort käme, das, wenn es auch hinterbracht würde, irgendwie Anstoß erregen könnte.

Wir hatten in der Tat nicht nötig, uns Vorsicht anempfehlen zu lassen. Zwei Gefangene, die einmal eine Verbindung unter sich angeknüpft haben, verstehen es wohl, sich ein Kauderwelsch zu erfinden, womit sie sich alles zu sagen vermögen, ohne von irgendeinem Zuhörer verstanden zu werden.


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