Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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66.

An dem einen Ende jenes Walles lag die Wohnung des Oberinspektors, an dem anderen wohnte ein Korporal mit seiner Frau und einem Söhnchen. So oft ich jemand aus den Wohnungen herauskommen sah, erhob ich mich, trat auf die Person oder die Personen, die sich zeigten, zu und ward von ihnen mit Beweisen der Höflichkeit und des Mitleids überhäuft.

Die Frau des Oberinspektors lag seit langer Zeit krank danieder und zehrte langsam ab. Öfter ließ sie sich auf einem Kanapee ins Freie tragen. Mit welcher sanften Rührung sie sich gegen uns aussprach, wie großes Mitleid wir alle ihr erweckten, läßt sich nicht beschreiben. Ihr Blick war sehr sanft und schüchtern, und wenn er schon schüchtern war, so heftete sie ihn zeitweise mit gespanntem, aufmerksamem Vertrauen auf das Gesicht dessen, mit dem sie sprach.

Einmal sagte ich lächelnd zu ihr: »Wissen Sie, verehrte Frau, daß Sie mit einer Person, die mir teuer war, einige Ähnlichkeit haben?«

Sie errötete, darauf antwortete sie mit ernster und liebenswürdiger Einfachheit: »Vergessen Sie mich deswegen nicht, wenn ich einst tot sein werde; beten Sie für meine arme Seele und für die Kinder, die ich auf der Erde zurücklasse.«

Von jenem Tage an konnte sie das Bett nicht mehr verlassen; ich sah sie nicht wieder. Sie kränkelte noch einige Monate, dann starb sie.

Sie hatte drei Söhne, wie Liebesgötter so schön, und einer war noch ein Säugling. Die Unglückliche, umarmte dieselben oft in meiner Gegenwart und sagte: »Wer weiß, was für eine Frau nach meinem Tode ihre Mutter werden wird! Wer diese auch sein mag, der Herr möge ihr das Herz einer Mutter geben auch für diese Kinder, die sie nicht geboren!« Dabei weinte sie.

Tausendmal ist mir dies ihr Gebet eingefallen, und ebenso diese Tränen.

Als sie tot war, umarmte ich diese Kinder manches Mal, behandelte sie zärtlich und wiederholte die Bitte ihrer Mutter. Dann dachte ich an meine Mutter und an ihre heißen Gebete, die ihr liebevolles Herz ohne Zweifel für mich emporsandte, und schluchzend rief ich aus: »Ach, wieviel glücklicher diese Mutter, welche sterbend unerwachsene Kinder zurückläßt, als jene, welche die ihrigen unter tausend Sorgen aufgezogen und sich dann ihrer beraubt sieht!«

Zwei brave alte Damen pflegten bei diesen Kindern zu sein, eine war die Mutter des Oberinspektors, die andere die Tante. Sie wünschten meine ganze Geschichte zu wissen, und ich erzählte sie ihnen in der Kürze.

»Wie unglücklich sind wir,« sagten sie mit dem Ausdrucke wahren Schmerzes, »daß wir Ihnen in nichts hilfreich sein können! Aber seien Sie dessen gewiß, wir wollen für Sie beten, und wenn eines Tages die Begnadigung für Sie eintreten sollte, so wird es ein Fest für unsere ganze Familie sein.«

Die erstere von ihnen, die ich am öftesten sah, besaß eine sanfte, ungewöhnliche Beredsamkeit, wenn sie mir Trost einsprach. Mit kindlicher Dankbarkeit hörte ich ihr zu, und ihre Worte hafteten fest in meinem Herzen.

Sie sagte manches, was ich schon wußte, aber es ergriff mich wie etwas Neues: – daß das Unglück den Menschen nicht erniedrigt, wenn er nicht schon niedrig ist, daß es ihn vielmehr erhebt; könnten wir die Ratschläge Gottes durchschauen, dann würden wir sehen, daß weit öfter die Sieger mehr zu beklagen sind als die Besiegten, die Frohlockenden mehr als die Betrübten, die Begüterten mehr als die jedes Gutes Beraubten; die Freundschaft insbesondere, welche der Gottmensch gegen die Leidenden an den Tag gelegt hat, ist etwas sehr Beachtenswertes; wir dürften uns unseres Kreuzes rühmen, nachdem es von seinen göttlichen Schultern getragen worden.

Diese beiden guten alten Damen, die ich so gern sah, mußten indes aus Familienrücksichten binnen kurzem den Spielberg verlassen; auch die Kinder kamen nicht mehr auf den Wall. Ach, wie tief schmerzten mich diese Verluste.


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