Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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37.

Ich betrachtete die beiden Stücke und dachte einen Augenblick über die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge und über das Trügerische ihres äußeren Scheines nach. – Vor kurzem noch das heftige Verlangen nach diesem Briefe, und jetzt zerreiße ich ihn voll Unmut! Soeben noch dies lebhafte Vorgefühl einer künftigen Freundschaft mit diesem Leidensgefährten, eine so sichere Überzeugung von der tröstenden Einwirkung aufeinander, so große Bereitwilligkeit, mich gegen ihn liebenswürdig zu zeigen, und jetzt nenne ich ihn einen Unverschämten!

Ich legte die beiden Stücke übereinander, und nachdem ich sie wieder wie vorher zwischen Daumen und Zeigefinger der einen Hand und zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen genommen, hob ich wieder die linke empor und zog die rechte schnell herab.

Eben wollte ich dieselbe Operation wiederholen, aber eins der Viertel fiel mir aus der Hand auf die Erde, ich bückte mich, um es aufzuheben, und in der kurzen Zeit, die ich brauchte, um mich zu bücken und wieder aufzurichten, änderte ich meinen Entschluß und bekam Lust, dies hochmütige Schreiben noch einmal zu lesen.

Ich setze mich nieder, passe die vier Stücke auf der Bibel zusammen und lese sie nochmals. In diesem Zustande lasse ich sie liegen, gehe auf und ab, und während ich sie aufs neue lese, überlege ich: Wenn ich ihm nicht antworte, so wird er denken, ich sei vor Verwirrung vernichtet, wagte vor den Augen eines solchen Herkules nicht wieder zu erscheinen. Antworten wir also, zeigen wir ihm, daß wir eine Gegenüberstellung der Ansichten nicht fürchten. Beweisen wir ihm auf eine gute Art, daß keine Feigheit darin liegt, wenn man seine Entschließungen reiflich erwägt, wenn man schwankend ist, sobald es sich um einen Entschluß handelt, der mit Gefahr verknüpft ist, und mit mehr Gefahr für andere, als für uns. Lernen möge er, daß der wahre Mut nicht darin besteht, das Gewissen zu verlachen, daß die wahre Würde nicht im Hochmut beruht. Machen wir ihm das Vernunftgemäße des Christentums und das Unzureichende des Unglaubens klar. – Schließlich aber, wenn dieser Giuliano offen Ansichten äußert, die den meinigen so sehr widerstreben, wenn er mich mit beißenden Spottreden nicht verschont, wenn er sich so wenig herabläßt, mich für sich einzunehmen, liegt darin nicht wenigstens ein Beweis, daß er kein Spion ist? – Oder sollte dies etwa ein versteckter Kunstgriff sein, daß er die Geißel so grob gegen meine Eigenliebe führt? – Doch nein, ich kann es nicht glauben! Ich bin ein böswilliger Mensch, der sich durch diese mutwilligen Scherze beleidigt fühlt und deswegen sich einreden möchte, daß derjenige, welcher sie gegen mich geschleudert, der verworfenste unter den Menschen sei. Gemeine Schlechtigkeit, die ich so oft an anderen verdammte, fort aus meinem Herzen! Nein, Giuliano ist, wer er ist, nichts weiter; er ist ein Unverschämter, nicht aber ein Spion. – Und steht mir wirklich das Recht zu, dem was er Offenheit nennt, den gehässigen Namen Unverschämtheit zu geben? – Das ist deine Demut, du Heuchler! Kaum daß einer in geistiger Verwirrung falsche Ansichten aufstellt und deinen Glauben verspottet, sogleich maßest du dir an, ihn zu verachten! – Gott aber weiß, ob diese leicht erregbare Demut und dieser böswillige Eifer in meinem Herzen, als dem eines Christen, nicht schlimmer ist, als die freche Offenherzigkeit dieses Ungläubigen! – Vielleicht bedarf es für ihn nur eines Strahles der Gnade, damit jene kräftige Liebe zur Wahrheit in ihm sich in eine weit beständigere Religion verwandle, als die meinige ist. – Wäre es nicht besser von mir gehandelt, wenn ich für ihn betete, anstatt daß ich in Zorn gerate und mich für besser erachte? – Wer weiß, während ich ergrimmt seinen Brief zerriß, las er vielleicht den meinigen mit sanfter Freundlichkeit wieder und vertraute so sehr auf die Güte meines Herzens, daß er mich für unfähig hielt, in seinen freimütigen Worten eine Beleidigung gegen mich zu finden? – Wer von beiden wäre der Unbilligere, einer welcher liebt und sagt: »Ich bin kein Christ,« oder einer der sagt: »Ich bin ein Christ,« und nicht liebt? – Schwer ist es, einen Menschen ganz zu kennen, mit dem man jahrelang zusammen gelebt hat; und ich wollte diesen Mann nach einem einzigen Briefe beurteilen? Kann es unter so vielen Möglichkeiten nicht auch die geben, daß er, ohne es sich selbst zu gestehen, über seinen Unglauben ganz und gar nicht beruhigt ist, und daß er mich deswegen stachle, ihn zu bekämpfen, mit der stillen Hoffnung nachgeben zu müssen? Ach, wäre es doch so! O großer Gott, in dessen Hand alle, selbst die unwürdigsten Werkzeuge mächtig wirken können, erwähle, erwähle mich zu diesem Werke! Gib mir so gewaltige und heilige Gründe ein, daß sie diesen Unglücklichen überzeugen! daß sie ihn dahin führen, dich zu preisen und zu lernen, daß es fern von dir keine Tugend gibt, die nicht ein Widerspruch wäre!


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