Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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1.

Freitag den 13. Oktober 1820 wurde ich zu Mailand verhaftet und nach Santa Margherita gebracht. Es war drei Uhr nachmittags. Diesen Tag und ebenso an den darauf folgenden Tagen stellte man ein langes Verhör mit mir an. Aber hiervon schweige ich. Ich verhalte mich der Politik gegenüber wie ein Verliebter, der von seiner Schönen schlecht behandelt ward, und deswegen zu dem ernsten Entschluß gekommen ist, sich von ihr zurückzuziehen, ich lasse sie auf sich beruhen und rede von anderen Dingen.

Abends neun Uhr an jenem traurigen Freitage überwies mich der Gerichtsschreiber dem Gefängniswärter; dieser führte mich auf das für mich bestimmte Zimmer, ließ sich mit höflicher Entschuldigung meine Uhr, das Geld und alles andere, was ich in der Tasche hatte, aushändigen, um es mir seinerzeit wieder zuzustellen, darauf wünschte er mir ehrerbietig gute Nacht.

»Wartet ein wenig, mein Lieber,« sagte ich, »ich habe heute noch nicht zu Mittag gegessen; laßt mir etwas bringen.«

»Sogleich, mein Herr, das Wirtshaus ist ganz in der Nähe; und Sie werden finden, daß der Wein gut ist!«

»Wein trinke ich nicht.«

Bei dieser Antwort sah mich Herr Angiolino erstaunt an und schien zu erwarten, daß ich nur gescherzt hätte. Die Gefängniswärter, welche eine Schankwirtschaft halten, haben vor einem Gefangenen, der keinen Wein trinkt, einen wahren Schauder.

»Wahrhaftig, ich trinke keinen!«

»Tut mir Ihretwegen leid, der Herr werden die Einsamkeit doppelt empfinden ...«

Da er aber sah, daß ich meinen Entschluß nicht änderte, ging er hinaus, und in einer kleinen halben Stunde stand meine Mahlzeit vor mir. Ich aß nur wenige Bissen, schluckte ein Glas Wasser hinunter, darauf ward ich allein gelassen.

Das Zimmer war zu ebner Erde und lag nach dem Hofe hinaus. Gefängnisse hier, Gefängnisse dort; über mir Gefängnisse, Gefängnisse mir gegenüber. Ich lehnte mich an das Fenster und blieb eine Weile stehen, um auf das Kommen und Gehen der Kerkermeister und auf den wahnsinnigen Gesang einiger von den Eingesperrten zu hören.

Ich dachte: Ein Jahrhundert ist es her, da war dies ein Kloster; obwohl die frommen büßenden Jungfrauen, die es damals bewohnten, eine Ahnung davon hatten, daß heute in ihren Zellen nicht mehr Seufzer von Frauen und andächtige Lobgesänge, sondern Lästerungen und unkeusche Lieder ertönen würden, und daß dieselben heute Leute jeden Schlages aufnähmen, die meistens für die Arbeitshäuser oder für den Galgen bestimmt sind? Und wer wird nach Verlauf eines neuen Jahrhunderts in diesen Zellen atmen? O, über die Flüchtigkeit der Zeit! O, über den Wechsel der Dinge! Kann wer, der darüber nachdenkt, sich betrüben, wenn das Glück aufgehört hat, ihm zu lächeln, wenn er in das Gefängnis vergraben wird, wenn ihm der Galgen droht? Gestern war ich einer der glücklichsten Sterblichen auf der Erde: heute besitze ich von den Annehmlichkeiten, welche mein Leben erfreuten, keine mehr: nicht mehr Freiheit, nicht mehr den Umgang mit Freunden, keine Hoffnungen mehr! Nein, sich noch einer Täuschung hinzugeben wäre Torheit! Von hier werde ich nur herauskommen, um in noch schrecklichere Löcher geworfen oder dem Henker überantwortet zu werden! Gleichwohl, an dem Tage nach meinem Tode wird es sein, als wäre ich in einem Palaste gestorben und wäre mit den größten Ehren zu Grabe, getragen worden!

So verlieh das Nachdenken über die Flüchtigkeit der Zeit meinem Herzen neuen Mut. Aber vor meinen Geist traten mein Vater, meine Mutter, zwei Brüder, zwei Schwestern, eine andere Familie, die ich wie meine eigne liebte; da hatten die philosophischen Betrachtungen ihre Kraft verloren. Von Rührung überwältigt, weinte ich wie ein Kind.


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