Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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15.

Nach Verlauf von zwei Tagen kam mein Vater wieder. Die vorhergehende Nacht hatte ich gut geschlafen und war ohne Fieber. So zwang ich mich abermals zu einem unbefangenen, heiteren Benehmen, so daß mir niemand anmerkte, was mein Herz gelitten und noch litt.

»Ganz sicher glaube ich,« sagte mein Vater zu mir, »daß man dich in wenigen Tagen nach Turin entlassen wird. Wir haben das Zimmer schon für dich eingerichtet und erwarten dich mit banger Sehnsucht. Meine Berufsgeschäfte nötigen mich, wieder abzureisen. Sorge nur, ich bitte dich, sorge dafür, daß du bald wieder bei mir bist.«

Seine zärtliche und wehmütige Liebenswürdigkeit zerriß mir das Herz. Mich zu verstellen schien mir durch die kindliche Liebe geboten, und doch tat ich es, nicht ohne bittere Gewissensbisse zu empfinden. Wäre es nicht meines Vaters und meiner würdiger gewesen, wenn ich ihm offen gesagt hätte: »Wahrscheinlich sehen wir uns in dieser Welt nie wieder! Laß uns als Männer voneinander Abschied nehmen, ohne Murren, ohne Seufzen; sprich über mein Haupt deinen väterlichen Segen aus!«

Eine solche Sprache wäre mir tausendmal lieber gewesen als die Verstellung. Aber als ich dem ehrwürdigen Greise in die Augen sah, auf seine Gesichtszüge, seine grauen Haare blickte, da war es mir, als könne der Unglückliche nimmer so viel Kraft besitzen, um solche Worte zu hören.

Und wenn ich nun, indem ich ihn nicht hintergehen wollte, hätte sehen müssen, wie Verzweiflung ihn erfaßte, wie er vielleicht in Ohnmacht sank, vielleicht – ein schrecklicher Gedanke! – vom Schlage getroffen in meinen Armen verschied!

Nein, ich konnte ihm die Wahrheit nicht sagen, nicht einmal sie durchblicken lassen! Meine erkünstelte Heiterkeit täuschte ihn vollkommen. Wir schieden voneinander ohne Tränen. Aber in den Kerker zurückgekehrt, ward ich, wie das erstemal, von Herzensangst gequält, diesmal vielleicht noch furchtbarer; und wieder flehte ich vergebens um das Geschenk der Tränen.

Mich in all den Schrecken einer langen Gefangenschaft, mich in den Tod am Galgen mit Ergebung zu schicken, dazu fühlte ich die Kraft in mir. Aber die Fassung zu behalten bei dem ungeheuren Schmerze, der Vater, Mutter, Brüder und Schwestern darüber ergreifen würde, ach! das war etwas, was meine Kraft überstieg.

Da warf ich mich mit einer Inbrunst, wie ich sie tiefer niemals empfunden, nieder und sprach folgendes Gebet her: O, mein Gott, alles nehme ich aus deiner Hand hin; aber verleihe du den Herzen derer, denen ich unentbehrlich war, so wunderbare Stärke, daß ich aufhöre, ferner es ihnen zu sein, und laß darum keinem einzigen von ihnen das Leben auch nur um einen Tag verkürzt werden!

Ach, welch ein Segen liegt im Gebete! Mehrere Stunden blieb mein Gemüt zu Gott erhoben, meine Zuversicht wuchs, je mehr ich die göttliche Güte in meinem Herzen begriff, je mehr ich die Größe der menschlichen Seele mir vorstellte in den Lagen des Lebens, wo sie aus ihrer Selbstsucht heraustritt und sich bestrebt, keinen anderen Willen zu haben als den Willen der unendlichen Weisheit.

Ja, dies vermag man, das ist des Menschen Pflicht! Die Vernunft, welche Gottes Stimme ist, die Vernunft sagt uns, daß man der Tugend alles zum Opfer bringen muß. Und würde das Opfer, welches wir der Tugend schuldig sind, vollständig von uns dargebracht sein, wenn wir in den schmerzlichsten Unglücksfällen gegen den Willen dessen uns auflehnten, welcher der Uranfang aller Tugenden ist?

Wenn der Tod am Galgen oder irgendeine andere schwere Marter unvermeidlich ist, dann ist feige Furcht vor derselben, das Unvermögen voll Lob und Preis gegen den Herrn ihr entgegenzugehen, ein Zeichen beklagenswerter Erniedrigung oder Unwissenheit. Und man ist nicht bloß verpflichtet, sich in den eignen Tod zu schicken, sondern sich auch in die Betrübnis zu fügen, welche die Unsrigen darüber empfinden werden. Höchstens darf man Gott bitten, daß er sie lindre, daß er uns alle leite und führe: solch eine Bitte findet stets Erhörung.


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