Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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69.

Eines Morgens kehrte ich vom Spaziergang zurück: es war der 7. August. Die Tür von Orobonis Gefängnis stand offen, und drinnen befand sich Schiller, der mich nicht hatte kommen hören. Meine Wachen wollten mir vorauseilen, um die Tür zu schließen. Ich komme ihnen zuvor, stürze hinein und liege in Orobonis Armen.

Schiller war bestürzt. »Der Teufel! der Teufel!« rief er und hob den Finger auf, um uns zu drohen. Aber seine Augen füllten sich mit Tränen, und schluchzend schrie er: »Ach, mein Gott, erbarme dich dieser armen Jünglinge und meiner und aller dieser Unglücklichen, du, der du selber so unglücklich auf Erden gewesen bist!«

Auch die beiden Wachen weinten. Die Schildwache auf dem Gange war herbeigelaufen und weinte gleichfalls. Oroboni sagte zu mir: »Silvio, Silvio, dies ist einer der schönsten Tage meines Lebens!« – Was ich zu ihm redete, weiß ich nicht mehr; ich war vor Freude und Rührung ganz außer mir.

Da Schiller uns beschwor, wir möchten uns trennen, und da wir ihm gehorchen mußten, brach Oroboni in den lautesten Jammer aus: »Werden wir uns je auf Erden wiedersehen?«

Ich sah ihn nie wieder! Einige Monate vergingen, da war sein Zimmer leer, und Oroboni lag auf dem Kirchhofe, den ich vor meinem Fenster hatte!

Seit wir uns auf einen Augenblick gesehen hatten, kam es mir vor, als liebten wir uns noch weit zärtlicher und stärker als zuvor; es schien mir, als wären wir einander unentbehrlich geworden.

Er war ein hübscher junger Mann von edler Gestalt, aber bleich und von schwacher Gesundheit. Nur seine Augen waren voll Leben. Meine Zuneigung zu ihm wurde durch das Mitleid vergrößert, welches seine Magerkeit und seine Blässe mir einflößten. Ebenso erging es ihm mit mir. Beide empfanden wir, wie wahrscheinlich es wäre, daß es einen von uns bald treffen werde, daß er den anderen überlebte.

Wenige Tage drauf ward er krank. Ich konnte nichts anderes tun, als um ihn seufzen und für ihn beten. Nach einigen Fieberanfällen erholte er sich wieder etwas, und wir konnten unsere freundschaftlichen Gespräche wieder aufnehmen. Ach, wie tröstete es mich, den Klang seiner Stimme von neuem zu hören. »Täusche dich nicht!« sagte er zu mir, »es wird nicht lange dauern. Sei stark und bereite dich auf meinen Verlust vor; flöße mir Mut ein durch deinen Mut!«

In jenen Tagen wollte man die Wände unserer Gefängnisse weißen und brachte uns währenddessen in die Kellerräume. Unglücklicherweise wurden wir in dieser Zwischenzeit in nicht anstoßende Kerker gebracht. Schiller teilte mir mit, es ginge mit Oroboni gut, aber ich vermutete, daß er mir die Wahrheit verhehlte, und besorgte, daß seine an sich schon schwache Gesundheit in diesen unterirdischen Kerkern sich noch verschlechtern möchte.

Hätte ich wenigstens das Glück gehabt, bei dieser Gelegenheit meinem teuren Maroncelli näher zu sein! Übrigens vernahm ich seine Stimme. Wir begrüßten uns durch Singen trotz des Rufens der Wachen.

In jener Zeit machte uns der Oberarzt aus Brünn einen Besuch, vielleicht war er abgesandt infolge eines Berichtes, den der Oberinspektor nach Wien erstattet hatte über die außerordentliche Schwäche, in die wir durch den Mangel an Speise versetzt waren, oder aber weil damals in den Gefängnissen ein sehr ansteckender Skorbut herrschte.

Da ich die Ursache dieses Besuchs nicht kannte, bildete ich mir ein, er geschehe wegen einer neuen Erkrankung Orobonis. Die Angst, ihn zu verlieren, verursachte mir eine unbeschreibliche Unruhe. Damals wurde ich von einer heftigen Schwermut und von dem Verlangen zu sterben ergriffen. Der Gedanke an einen Selbstmord stellte sich wieder ein. Ich suchte ihn zu bekämpfen, aber ich war wie ein ermüdeter Wandrer, der zu sich selber sagt: Es ist meine Pflicht, bis zum Ziele zu gehen – und doch fühlt er das ihn übermannende Bedürfnis, sich auf die Erde zu werfen und auszuruhen.

Man hatte mir gesagt, daß vor nicht langer Zeit ein alter Böhme sich in einer dieser finsteren Höhlen dadurch getötet hätte, daß er sich den Kopf an den Wänden zerschmetterte. Ich konnte die Versuchung, dasselbe zu tun, nicht aus meiner Phantasie loswerden. Ich weiß nicht, ob mein Wahnsinn nicht zuletzt zu solchem Ende geführt hätte, wenn mich ein Blutspucken aus der Brust nicht zu dem Gedanken gebracht hätte, daß mein Tod nahe sei. Ich dankte Gott, daß er mich auf diese Weise wolle sterben lassen, indem er mir so eine Tat der Verzweiflung ersparte, die meine Vernunft verdammte.

Aber Gott wollte mich vielmehr am Leben erhalten. Das Blutspucken erleichterte meine Übel. Inzwischen ward ich wieder in das obere Gefängnis hinaufgebracht, und wegen der größeren Tageshelle und der wiedererlangten Nähe Orobonis gewann ich das Leben aufs neue lieb.


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