Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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19.

Der Gefängniswärter ging unter unseren Fenstern vorüber und gebot uns zu schweigen.

Was denn für ein unglücklicher Herzog von der Normandie? dachte ich bei mir selbst. Ist das nicht der Titel, welchen man dem Sohne Ludwig XVI. gegeben? Aber jenes arme Kind ist ohne Zweifel tot. Gleichviel, mein Nachbar wird einer von den Unglücklichen sein, die versucht haben, ihn wieder aufleben zu lassen.

Mehrere schon hatten sich für Ludwig XVII. ausgegeben, sie wurden aber als Betrüger erkannt: sollte dieser etwa größere Glaubwürdigkeit beanspruchen?

Obwohl ich mich bemühte, wegen dieser Sache Zweifel zu hegen, so behauptete doch eine unbezwingliche Ungläubigkeit in mir die Oberhand, und behauptet sie seitdem noch stets. Nichtsdestoweniger nahm ich mir vor, den Unglücklichen nicht zu kränken, welche Possen er mir auch erzählen möchte.

Nach wenigen Augenblicken fing er wieder zu singen an, darauf nahmen wir die Unterhaltung wieder auf.

Auf mein Befragen über seine Person erwiderte er, daß er wirklich Ludwig XVII. sei, und ließ sich fortreißen, gegen seinen Oheim Ludwig XVIII., als den Usurpator seiner Rechte, tüchtig loszuziehen.

»Aber wie kommt es, daß Sie jene Rechte zur Zeit der Restauration nicht geltend machten?«

»Ich lag damals zu Bologna auf den Tod krank. Kaum hergestellt, eilte ich nach Paris, stellte mich den hohen Mächten vor, aber das Geschehene war nicht mehr zu ändern: mein ungerechter Oheim wollte mich nicht anerkennen, meine Schwester verband sich mit ihm zu meiner Unterdrückung. Der wackere Prinz von Condé allein nahm mich mit offenen Armen auf, aber seine Freundschaft vermochte nichts. Eines Abends, als ich auf den Straßen von Paris einherging, ward ich von Meuchelmördern angefallen, welche Dolche in den Händen schwangen, und nur mit Mühe entkam ich ihren Stößen. Nachdem ich mich eine Zeitlang in der Normandie aufgehalten, kehrte ich nach Italien zurück und blieb in Modena. Von hier aus schrieb ich unablässig an die Monarchen Europas, hauptsächlich an den Kaiser Alexander, der mir mit der größten Artigkeit antwortete; ich verlor die Hoffnung nicht, endlich noch Gerechtigkeit zu erlangen, oder wenn jene aus Gründen der Politik meine rechtmäßigen Ansprüche auf den französischen Thron dennoch preisgeben wollten, so hoffte ich doch wenigstens einen anständigen Jahrgehalt ausgesetzt zu bekommen. Aber plötzlich ward ich verhaftet, an die Grenzen des Herzogtums Modena gebracht und der österreichischen Regierung überliefert. So bin ich seit acht Monaten hier begraben, und Gott allein weiß, wann ich herauskommen werde!«

Nicht allen seinen Worten schenkte ich Glauben; aber daß er hier begraben wäre, das war in der Tat eine Wahrheit, die mir lebhaftes Mitleid einflößte.

Ich bat ihn, mir in der Kürze sein vergangenes Leben zu erzählen. Darauf teilte er mir mit kleinlicher Genauigkeit alle Einzelheiten mit, die ich über Ludwig XVII. schon kannte; wie sie ihn verleiteten, eine schmähliche Verleumdung gegen die Sitten der armen Königin, seiner Mutter, durch sein Zeugnis zu bestätigen usw. Und endlich, während er im Gefängnis saß, seien in einer Nacht Leute gekommen, um ihn fortzuführen; ein blödsinniges Kind, namens Mathurin, ward an seiner Stelle zurückgelassen, und er selbst entführt. Auf der Straße stand eine vierspännige Kutsche bereit, aber eins von den Rossen war nur eine hölzerne Maschine, in der man ihn verbarg. Sie gelangten glücklich an den Rhein, überschritten die Grenze, der General ... (er nannte mir den Namen, den ich aber vergessen habe), der ihn gerettet hatte, diente ihm eine Zeitlang als Erzieher, als Vater; er schickte oder begleitete ihn alsdann nach Amerika. Hier erlebte der junge König ohne Königreich die mannigfachsten Wechsel des Glücks, er litt Hunger in Wüsten, diente als Soldat, lebte geehrt und glücklich am Hofe des Kaisers von Brasilien, ward verleumdet, verfolgt und genötigt zu fliehen. Darauf kam er in der letzten Zeit der napoleonischen Herrschaft nach Europa zurück; zu Neapel hielt ihn Joachim Murat gefangen, und als er nach wiedererlangter Freiheit eben im Begriffe stand, seine Ansprüche auf den französischen Thron zu erheben, befiel ihn zu Bologna jene unheilvolle Krankheit, während welcher Ludwig XVIII. gekrönt ward.


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