Silvio Pellico
Meine Gefängnisse
Silvio Pellico

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36.

Die Antwort kam mit dem Kaffee. Ich umschlang Temerellos Hals und sagte ihm voll Rührung: Gott vergelte dir so viele Liebe! – Mein Verdacht gegen ihn und den Unbekannten war verschwunden, weshalb weiß ich nicht zu sagen: weil er mir verhaßt war; weil er mir unnötig schien, da ich die Vorsicht hatte, niemals unbesonnen von Politik zu sprechen; weil ich, obgleich ein Bewunderer von dem Talente des Tacitus, doch niemals glauben mochte, daß es sich rechtfertigen lasse, nach des Tacitus Weise alle Dinge im schwarzen Lichte zu betrachten.

Giuliano (so beliebte der Schreiber sich zu unterzeichnen) begann seinen Brief mit weitschweifigen Höflichkeitsphrasen und versicherte für seine Person, wegen des unternommenen Briefwechsels nicht die mindeste Unruhe zu empfinden. Dann scherzte er zuerst mit Maß über meine Unentschlossenheit, weiterhin aber nahm der Scherz etwas Beißendes an. Nach einer gewandten Lobrede auf die Aufrichtigkeit bat er mich schließlich um Verzeihung, wenn er mir nicht verhehlen könne, ein gewisses Mißfallen empfunden zu haben, indem er, wie er sich ausdrückte, an mir »eine Art von zaghafter Unschlüssigkeit wahrgenommen habe, eine gewisse christliche Gewissensklauberei, die sich mit wahrer Philosophie nicht in Einklang bringen lasse. Immer jedoch werde ich Sie hochschätzen,« fügte er hinzu, »selbst wenn wir uns über diesen Punkt nicht verständigen könnten; aber die Aufrichtigkeit, zu der ich mich bekenne, legt mir die Pflicht auf, Ihnen zu sagen, daß ich keine Religion habe, daß ich alle Religionen verabscheue, daß ich aus ›Bescheidenheit‹ den Namen Giuliano annehme, weil jener treffliche Kaiser ein Feind der Christen war, daß ich aber in Wahrheit noch viel weiter gehe als er. Der gekrönte Giuliano glaubte an Gott und hatte seine Art von ›Frömmelei‹! ich bin frei davon, ich glaube nicht an Gott, ich setze alle Tugend in die Liebe zur Wahrheit und zu dem, der sie sucht, sowie in den Haß gegen den, der mir nicht gefällt.«

In dieser Manier fortfahrend, brachte er für nichts Gründe vor, griff das Christentum von allen Seiten an, lobte mit prunkhaftem Nachdrucke die Erhabenheit der religionslosen Tugend und begann mit halb ernstem, halb spöttischem Stile eine Lobrede auf den Kaiser Julian für seinen Abfall vom Christentume und seinen »menschenfreundlichen Versuch« jegliche Spur des Evangeliums von der Erde zu vertilgen.

Voll Besorgnis, hierdurch meine Ansichten zu stark verletzt zu haben, bat er mich wiederholt um Verzeihung und richtete sich dann abermals gegen den allzu häufigen Mangel an Aufrichtigkeit. Er wiederholte seinen lebhaften Wunsch, mit mir in Verbindung zu bleiben, und grüßte mich zum Schluß.

Eine Nachschrift lautete: »Ich habe keine anderen Bedenken, als daß ich noch nicht aufrichtig genug bin. Deswegen kann ich Ihnen den Argwohn nicht verhehlen, daß die von Ihnen gegen mich geführte christliche Sprache eine Verstellung sei. Ich wünsche dies sehnlichst. In diesem Falle werfen Sie die Maske ab; ich habe Ihnen das Beispiel dazu gegeben.«

Welchen sonderbaren Eindruck dieser Brief auf mich machte, vermöchte ich nicht zu schildern. Bei den ersten Sätzen klopfte mir das Herz wie einem Verliebten; dann schien es mir von einer eiskalten Hand gepreßt zu werden. Dieser beißende Spott über meine Gewissenhaftigkeit beleidigte mich. Es war mir leid, mit einem solchen Menschen eine Beziehung angeknüpft zu haben: ich, der ich den Zynismus so sehr verachte! der ich ihn für die unphilosophischste und niedrigste aller Richtungen halte; ich, auf den Überhebung so wenig Eindruck macht!

Nachdem ich das letzte Wort gelesen, faßte ich den Brief zwischen Daumen und Zeigefinger der einen Hand und zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen, und indem ich die linke emporhob, zog ich die rechte schnell herab, so daß auf diese Weise jede der beiden Hände im Besitze eines halben Briefes blieb.


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