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Des Kaisers Begräbnis

Am Sonntag vor Weihnachten sollte Katrine in Skrolycka begraben werden, und um diese Zeit pflegen ja nicht viele Leute in der Kirche zu sein, denn die meisten wollen sich ihren Kirchgang auf die großen Festtage aufsparen.

Aber als die wenigen Leute von Askedalarna, die sich dem kleinen Leichenzug angeschlossen hatten, auf dem Platz zwischen der Kirche und dem Gemeindehaus ankamen, fühlten sie sich fast verlegen. Denn eine so große Schar Menschen, wie an diesem Tag vor der Kirche versammelt war, konnte man kaum sehen, wenn der alte Propst von Bro einmal im Jahr in der Kirche zu Svartsjö predigte, oder wenn eine Pfarrwahl stattfand.

Selbstverständlich waren alle diese Leute nicht hierhergekommen, um die alte Katrine zu ihrer letzten Ruhestatt zu begleiten, nein, es mußte etwas anderes hier vor sich gehen. Vielleicht wurde irgendein besonders vornehmer Herr beim Gottesdienst erwartet, oder es sollte ein anderer Pfarrer als der gewohnte an diesem Tag predigen.

Die Leute aus Askedalarna wohnten ja so sehr entlegen, da konnte im Kirchspiel manches geschehen, was sie nicht wußten und nicht erfuhren.

Die Leidtragenden fuhren wie gewöhnlich in ihren Gefährten auf den Platz vor dem Gemeindehaus und stiegen da aus. Der Platz stand gedrängt voll mit Menschen, aber sonst war nichts Außergewöhnliches wahrzunehmen. Die Leidtragenden verwunderten sich immer mehr, aber sie scheuten sich doch zu fragen, was denn eigentlich los sei. Denn die Leute, die sich einem Leichenzug anschließen, sollen ja für sich bleiben und sich nicht mit denen unterhalten, die nichts mit dem Trauerfall zu tun haben.

Der Sarg wurde von dem Leiterwagen, auf dem er während der Fahrt nach der Kirche gestanden hatte, heruntergehoben und auf zwei schwarze Böcke gestellt, die schon vor dem Gemeindehaus bereitstanden. Hier mußten nun alle, die zu dem Leichengefolge gehörten, warten, bis die Glocken läuteten und der Pfarrer und der Küster sich einfanden, um mit dem Leichenzug auf den Kirchhof ans Grab zu gehen.

Schon seit dem Morgen war das Wetter sehr schlecht gewesen. Heftige Regengüsse stürzten hernieder und klatschten auf den Sargdeckel. Soviel war sicher, was auch immer so viele Menschen an diesem Tag nach der Kirche gelockt hatte, des schönen Wetters wegen hatte kein einziger von ihnen sein Haus verlassen.

Aber niemand schien an diesem Tag auch nur das geringste nach Wind und Regen zu fragen. Still und geduldig standen die Leute im Freien, ohne in der Kirche oder im Gemeindehaus Schutz zu suchen.

Die sechs Träger und die andern, die um Katrine versammelt waren, sahen, daß außer den Böcken, auf denen Katrinens Sarg stand, noch ein zweites Paar Böcke daneben aufgestellt war. Es sollte also noch jemand begraben werden. Auch davon hatten die Leute in Askedalarna nichts gewußt. Es kam offenbar auch kein zweiter Leichenzug, und überdies war es jetzt schon so spät, daß er schon vor der Kirche hätte angekommen sein müssen.

Als es nur noch zehn Minuten bis zehn Uhr war, und man jeden Augenblick zum Gang auf den Kirchhof bereit sein mußte, sahen die Leute aus Askedalarna, daß sich alle Umherstehenden jetzt nach Där Nol in Prästerud begaben, einem Hof, der nur ein paar hundert Schritte von der Kirche entfernt lag.

Und nun sahen sie, was sie vorher nicht bemerkt hatten. Von dem Gemeindehaus bis zu dem Wohnhaus war mit Tannenreisern gestreut, und auf beiden Seiten der Haustür waren Tannen aufgepflanzt. Dort also lag wohl ein Toter im Hause. Aber sie verstanden immer noch nicht, daß gar keine Nachricht von einem Todesfall in dem Hause dort zu ihnen gedrungen war. Auch waren die Fenster nicht verhängt, wie es doch sein soll, wenn ein Toter im Hause ist.

Jetzt wurde die Haustür weit aufgemacht, und nun kam ein Leichenzug aus dem Hause heraus. August Där Nol ging voraus mit dem Trauerstab in der Hand, und hinter ihm kamen die Träger mit dem Sarg.

Dann schlossen sich diesem Zug alle die Menschen an, die bisher vor der Kirche gestanden und gewartet hatten. Um dieses Toten willen waren sie also hierhergekommen.

Der Sarg wurde bis vors Gemeindehaus getragen und rechts von dem andern gestellt, der schon da war. August Där Nol rückte die Böcke zurecht, damit die beiden Särge dicht nebeneinander zu stehen kamen.

Der Sarg, der jetzt niedergestellt wurde, war nicht so neu und glänzend wie Katrines. Er sah aus, als sei er schon vor diesem Tag von vielen Regenschauern übergossen worden. Er war auch unachtsam behandelt worden, wodurch er Schrammen bekommen und an den Kanten abgestoßen war.

Fast war es, als komme ein und derselbe tiefe Atemzug der Erleichterung aus der Brust aller der Leute, die aus Askedalarna hier versammelt waren, denn jetzt fingen sie an zu verstehen. In diesem Sarg lag nicht ein Verwandter von August Där Nol. Alle die Leute, die hier vor der Kirche versammelt waren, hatten sich nicht in das Regenwetter hinausbegeben, um etwas Merkwürdiges zu sehen. O nein, sie wollten nur hier dabei sein, wo zwei alte Eheleute wieder vereinigt wurden.

Jetzt flogen aller Blicke zu Klara Gulla hinüber, um zu sehen, ob auch sie begriff, was hier vorging. Und man sah ihr wohl an, daß es so war.

Sie hatte die ganze Zeit über bleich und verweint neben dem Sarg ihrer Mutter gestanden; aber als sie den andern Sarg, der aus Där Nol herausgetragen wurde, erkannte, drückte ihr Gesicht eine fast überwältigend frohe Erwartung aus, wie dies wohl geschieht, wenn jemand das vor sich sieht, um das er sich lange bemüht hat. Aber sie beruhigte sich rasch wieder. Ein trauriges Lächeln machte der frohen Erwartung Platz, und sie strich nur sachte ein paarmal über den Sarg der Mutter hin.

›Jetzt geht es dir so gut,‹ wie du dir überhaupt jemals hättest wünschen können, schien sie zu der toten Mutter sagen zu wollen.

August Där Nol trat zu Klara Gulla und reichte ihr die Hand.

»Ihr habt doch wohl nichts dagegen, daß wir es auf diese Weise eingerichtet haben?« sagte er. »Er ist erst am letzten Freitag gefunden worden, und ich dachte, es werde auf diese Weise leichter für Euch sein, Klara Gulla.«

Klara Gulla antwortete nur mit ein paar Worten, aber ihre Lippen zitterten dabei so heftig, daß er kaum verstehen konnte, was sie sagte.

»Ich dank Euch. Es ist gut so. Ich weiß, er kommt nicht zu mir, sondern zur Mutter.«

»Er kommt zu euch beiden, Klara Gulla, Ihr werdet es schon sehen,« erwiderte August Där Nol.

Die alte Mutter in Falla, die jetzt achtzig Jahre alt und von vielen Sorgen gebeugt war, hatte es sich nicht nehmen lassen, mit zur Kirche zu fahren, um Katrine, die ihr so lange eine treue Dienerin und Freundin gewesen war, die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatte den Kaiserstock und die Mütze mitgenommen, die ihr wieder zurückgegeben worden waren. Es war ihre Absicht gewesen, sie Katrine mit ins Grab zu legen, denn sie dachte, die Alte würde sich darüber freuen, wenn sie etwas bei sich hätte, das an Jan erinnerte.

Doch nun trat Klara Gulla zu der Mutter in Falla und bat um die Kaiserkleinode; sie lehnte den langen Stock an Jans Sarg und hängte die Mütze an den silbernen Knopf. Und die Leute verstanden Klara Gullas Tun. Jetzt dachte sie daran, daß sie seit ihrer Rückkehr Jan nicht mehr hatte erlauben wollen, sich mit dem Kaiserstaat zu schmücken. Nun wollte sie wieder gut machen, was in ihrer Macht stand, ob es auch noch so wenig war. Für einen Toten kann man nicht mehr viel tun.

Kaum lehnte der Stock an dem Sarg, als die Kirchenglocken läuteten, und zugleich traten der Pfarrer und der Küster und der Kirchendiener aus der Sakristei und stellten sich an die Spitze des Leichenzuges.

Ein Regenschauer nach dem andern jagte an diesem Tag daher; aber es traf sich so günstig, daß gerade eine Pause zwischen den Schauern eingetreten war, als sich die Leute, zuerst die Männer und dann die Frauen, zum Leichenzug ordneten, um die beiden Alten nach dem Kirchhof zu geleiten.

Während sich die Leute aufstellten, drückten ihre Gesichter eine Art Verwunderung aus, weil sie überhaupt hier dabei waren; denn es war ja nicht gerade aus Schmerz über den Tod dieser beiden, warum sie gekommen waren, und sie hatten ihnen auch nicht eine besondere Ehre erweisen wollen. Nein, die Sache verhielt sich anders; als sich die Nachricht im Kirchspiel verbreitete, daß Jan von Skrolycka gerade zu rechter Zeit gefunden worden war, um mit seiner Frau in das gleiche Grab gelegt zu werden, da hatten alle gedacht, das sei doch sehr schön und sehr merkwürdig, und so wollten sie gerne dabei sein, wenn diese beiden alten Eheleute im Tode wieder vereint wurden.

Sie hatten sich ja nicht gedacht, daß so viele andere auf denselben Gedanken kommen würden. Jetzt hatten sie fast das Gefühl, als habe man aus dem Begräbnis dieser armen, geringen Menschen eine viel zu große Sache gemacht. Die Leute sahen einander an, ja sie schämten sich fast ein wenig; aber da sie nun doch einmal da waren, konnten sie ja nicht anders, als sich dem Zuge nach dem Grabe anzuschließen.

Im stillen konnten sie sich auch eines leisen Lächelns nicht erwehren, wenn sie bedachten, wie sehr dies alles nach dem Sinn des Kaisers von Portugallien war. Das hätte ihm gefallen! Zwei Trauerstäbe, denn man hatte ja auch einen von Askedalarna mitgebracht, wurden vor Jan und Katrinens Särgen hergetragen, und fast das ganze Kirchspiel ging mit im Leichenzuge. Es hätte nicht besser sein können, wenn der Kaiser selbst das Leichenbegängnis angeordnet hätte.

Und es war ja auch nicht sicher, ob nicht am Ende all dies sein Werk war. Der alte Kaiser war jetzt nach seinem Tode eine höchst merkwürdige Persönlichkeit geworden. Er hatte gewiß eine Absicht dabei gehabt, daß er die Tochter dort auf dem Landungssteg so lange vergeblich auf sich hatte warten lassen. Und so viel war auch sicher und gewiß, wenn er jetzt ganz zur rechten Zeit wieder aus der Tiefe heraufgekommen war, so hatte er auch dabei eine bestimmte Absicht gehabt.

Als sich alle um das breite Grab versammelt hatten und die Särge hinabgesenkt worden waren, stimmte der Küster das Lied an: »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende – – –«

Küster Svartling war nun ein alter Mann, und sein Gesang erinnerte Klara Gulla an den eines andern alten Mannes, den sie nicht hatte anhören wollen.

Diese Erinnerung war ihr überaus schmerzlich. Sie drückte die Hände aufs Herz und schloß die Augen, damit ihr Ausdruck nicht verraten sollte, welche Qual sie empfand.

Während sie so mit geschlossenen Augen an dem Grab stand, sah sie plötzlich ihres Vaters Gesicht vor sich, so wie es in ihrer Kindheit und ersten Jugend ausgesehen hatte, wo sie und er so überaus gute Freunde gewesen waren.

Sie sah es wieder vor sich, wie sie es an einem Morgen gesehen hatte, wo in der Nacht Schnee gefallen und die Wege so dicht verschneit waren, daß er sie hatte in die Kirche tragen müssen.

Und sie sah es wieder vor sich, wie sie es an jenem Sonntag gesehen hatte, wo sie in dem roten Kleid in die Kirche gewandert war. Sicher hatte kein Mensch je so froh und so glücklich ausgesehen wie Jan an jenem Sonntagmorgen.

Dann aber war es aus mit seinem Glück gewesen, und auch sie hatte sich später nie mehr so recht von Herzen froh und glücklich gefühlt.

Sie gab sich alle Mühe, dieses Gesicht ihres Vaters festzuhalten. Das tat ihr wohl. Als sie es sah, wallte eine heiße Woge von Zärtlichkeit in ihrem Herzen auf. Dieses Gesicht wollte ihr wohl, mehr als wohl. In diesem Gesicht war nichts, vor dem sie sich hätte fürchten müssen.

Das war ja nur das Gesicht des alten guten Jan in Skrolycka. Nein, er wollte sich nicht zum Richter über sie auswerfen, er wollte nicht Unglück und Strafe über sein einziges Kind herabziehen.

Nun kam Ruhe über Klara Gulla. Seit sie ihn so sehen konnte, wie er früher gewesen war, hatte sie eine Welt betreten, wo es nichts als Liebe gab. Wie hätte sie glauben können, daß er sie hasse? Er wollte nichts als vergeben.

Wo sie ging und stand, wollte er um sie sein und sie beschützen. Das war das einzige, was er wollte.

Noch einmal fühlte sie die große Zärtlichkeit in ihrem Herzen aufwallen wie eine mächtige Woge, die ihr ganzes Wesen erfüllte. Und zugleich wußte sie, daß nun alles wieder gut war. Jetzt waren sie und der Vater wieder eins wie vorher. Jetzt, wo sie ihn liebte, brauchte nichts mehr versöhnt, nichts mehr gesühnt werden.

Klara Gulla erwachte wie aus einem Traum. Während sie hiergestanden und das gute Gesicht ihres Vaters vor sich gesehen hatte, war das Begräbnis vor sich gegangen. Jetzt sprach der Pfarrer noch ein paar Worte an die Versammelten. Er dankte ihnen, daß sie so zahlreich zu diesem Begräbnis gekommen seien. Kein hoher, vornehmer Mann sei hier zur letzten Ruhe eingesegnet worden, sagte er, aber er sei der Mann gewesen, der das wärmste und reichste Herz im ganzen Dorfe gehabt habe.

Als der Pfarrer dies sagte, sahen sich die Leute, die das Grab umstanden, wieder an, und jetzt sahen sie freundlich und zufrieden aus. Der Pfarrer hatte recht. Und gerade aus diesem Grunde waren sie auch zu dem Begräbnis gekommen.

Darauf richtete er noch ein paar Worte an Klara Gulla. Sie habe von ihren Eltern mehr Liebe empfangen als irgend sonst jemand, den er kenne, und eine solche Liebe müsse sich in Segen verwandeln.

Als der Pfarrer das sagte, richteten sich aller Augen auf Klara Gulla, und alle verwunderten sich über das, was sie sahen.

Die Worte des Pfarrers schienen schon in Erfüllung gegangen zu sein. Da stand Klara Fina Gulleborg von Skrolycka, sie, die nach der Sonne selbst genannt worden war, am Grabe ihrer Eltern, und ihr Antlitz leuchtete wie das einer Verklärten.

Sie war jetzt ebenso schön wie an jenem Sonntag, wo sie in dem roten Kleid zur Kirche gewandert war, wenn nicht noch schöner.

 

Ende


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