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Agrippa

Die kleine Klara Gulla war ein zu merkwürdiges Mädchen. Als sie noch keine zehn Jahre alt war, wurde sie sogar schon mit Agrippa Prästberg fertig.

Wenn man sich nur vorstellt, wie dieser Agrippa aussah, mit seinen gelben rotgeränderten Augen unter den buschigen Brauen, mit der entsetzlichen Nase, die einen Höcker neben dem andern aufwies, mit dem dichten Stoppelbart, der ihm wie lauter Borsten um den Mund stand, mit den tiefen Runzeln auf der Stirne, mit dem langen hageren Körper und mit der zerlumpten Soldatenmütze auf dem Kopf, so muß man zugeben, daß sich jeder vor ihm fürchten konnte, der mit ihm zu tun bekam.

Eines Tages saß das kleine Mädchen ganz allein auf der breiten Steinstufe vor der Haustür und aß sein Butterbrot zum Abendessen. Da sah es einen großen Mann des Weges daherkommen, und es währte nicht lange, da erkannte die Kleine, daß es Agrippa Prästberg war.

Aber Klara Gulla verlor darum den Kopf noch lange nicht. Zuerst brach sie ihr Butterbrot mitten durch und legte die beiden Stücke auseinander, damit sie keine Fettflecken machen konnten, und fuhr damit unter ihre Schürze.

Und auch dann lief sie weder davon, noch versuchte sie, sich ins Haus einzuschließen, denn einem solchen Menschen gegenüber hätte das doch nichts genützt, das wußte sie wohl, sondern sie blieb ruhig sitzen. Das einzige, was sie tat, war, daß sie das Strickzeug ergriff, das Katrine auf der Steinstufe hatte liegen lassen, als sie vor einer Weile fortgegangen war, um Jan sein Abendbrot zu bringen, und so eifrig zu stricken anhub, daß die Nadeln laut klapperten.

Anscheinend saß sie ganz ruhig und zufrieden da, aber heimlich schielte sie nach der Gitterpforte. Und richtig, sie hatte sich nicht getäuscht, Agrippa kam gerade darauf zu! Eben war er dabei, den Haken der Gittertür loszumachen.

Klara Gulla setzte sich auf ihrer Steinplatte zurecht und breitete ihre Röcke aus, denn jetzt war sie diejenige, die Haus und Heim zu bewachen hatte, das fühlte sie ganz deutlich.

So viel wußte die Kleine natürlich wohl, daß Agrippa nicht stahl und auch nicht zuschlug, so lange man ihn nicht »Greppa« nachrief, oder ihm ein Butterbrot anbot. Auch blieb er niemals lange in einem Hause, wenn nicht das Unglück es wollte, daß sich eine von den großen Kastenuhren aus Dalarna im Hause befand.

Agrippa lief im Dorf herum und besserte die Uhren aus, und wenn er in ein Haus kam, wo er eine von den alten Kastenuhren entdeckte, dann ruhte er nicht, bis er das Uhrwerk herausnehmen durfte, um nachzusehen, ob ihm nicht etwas fehle. Und es fehlte immer irgendwo. Er sagte, er sei geradezu gezwungen, die Uhr vollständig auseinanderzunehmen. Nachher konnte es mehrere Tage dauern, bis er sie wieder zusammengesetzt hatte, und so lange mußte man ihm Unterstand gewähren und ihn füttern.

Das schlimmste an der Sache war aber, daß eine Uhr, die Prästberg in die Hände gefallen war, nachher niemals mehr so gut ging wie vorher. Mindestens einmal im Jahre mußte sie von Prästberg nachgesehen werden, sonst ging sie überhaupt nicht mehr. Der Alte gab sich wohl Mühe, seine Arbeit redlich und gewissenhaft zu vollbringen, aber es half alles nichts, die Uhr ging nicht mehr richtig.

Darum war es auf alle Fälle am besten, wenn man seine Uhr wohl vor ihm hütete. Das wußte Klara Gulla sehr genau; aber jetzt sah sie keinen Ausweg, die große Hausuhr zu retten, die drinnen im Zimmer tickte. Prästberg wußte, es war eine Uhr im Hause, und lauerte schon lange auf eine Gelegenheit, sie näher zu untersuchen; aber so oft er sich früher gezeigt hatte, war Katrine zu Hause gewesen und hatte ihn verhindert, an die Uhr zu kommen.

Als der Mann am Hause angelangt war, blieb er vor dem kleinen Mädchen stehen, stieß seinen Stock hart auf den Boden und leierte herunter:

»Hier kommt Johann Utter Agrippa Prästberg, seiner königlichen Majestät und der Krone Trommelschläger. Hat im Kugelregen gestanden und fürchtet sich weder vor Engel noch Teufel. Ist hier jemand zu Hause?«

Klara Gulla brauchte keine Antwort zu geben. Der Alte ging ohne weiteres an ihr vorbei ins Haus hinein und richtete seine Schritte sofort nach der großen Kastenuhr.

Das Mädchen lief ihm eilends nach und versuchte ihm auseinanderzusetzen, wie gut die Uhr gehe. Sie gehe weder vor noch nach und brauche durchaus nicht nachgesehen zu werden.

»Wie kann eine Uhr recht gehen, die nicht von Johann Utter Agrippa gerichtet worden ist?« sagte der Alte.

Prästberg war so groß, daß er den Uhrkasten öffnen konnte, ohne auf einen Stuhl zu steigen. Im nächsten Augenblick war das Zifferblatt und das Werk herausgehoben und auf den Tisch gelegt. Klara Gulla ballte die Faust unter der Schürze und Tränen traten ihr in die Augen, aber es stand nicht in ihrer Macht, ihn zu hindern.

Prästberg hatte es sehr eilig, zu ergründen, was der Uhr fehlen könne, ehe Jan und Katrine nach Hause kommen und sagen könnten, sie brauche nicht nachgesehen zu werden. Er hatte ein Bündel mit Werkzeug und Schmierbüchsen bei sich; schnell riß er es auf, verfuhr aber dabei so hastig, daß ein Teil des Inhalts auf den Fußboden hinunterfiel.

Klara Gulla erhielt den Befehl, alles, was hinuntergefallen sei, aufzulesen. Und wer Agrippa Prästberg je gesehen hat, sieht gut ein, daß sie gar nichts anderes tun konnte als gehorchen. Sie kniete auf dem Boden nieder und reichte ihm eine kleine Säge und einen Meißel.

»Liegt sonst nichts drunten?« rief der Alte. »Du solltest froh sein, wenn du seiner königlichen Majestät und der Krone Trommelschläger einen Dienst erweisen darfst, du verflixte Häuslerdirn!«

»Nein, es liegt nichts mehr drunten, so viel ich sehe,« antwortete Klara Gulla; sie war so niedergeschlagen und unglücklich, wie noch nie in ihrem Leben. Sie sollte doch für Vater und Mutter das Haus behüten, und nun ging es ihr so schlimm.

»Na und wo ist denn meine Brille?« fragte Prästberg. »Die muß auch hinuntergefallen sein.«

»Nein–n,« antwortete Klara Gulla. »Hier unten liegt keine Brille.«

Und mit einem Male regte sich eine leise Hoffnung in Klara Gullas Herzen. Wie, wenn er ohne die Brille nichts an der Uhr machen könnte, wenn er die Brille verloren hätte?

Gerade in diesem Augenblick entdeckte sie das Brillenfutteral. Es war hinter das Tischbein gefallen.

Der Alte kramte und suchte eifrig zwischen den alten Rädchen und Uhrfedern, die er in seinem Bündel hatte. Ach, vielleicht ging noch alles gut und er fand die Brille nicht!

»Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muß selbst auf den Boden knien und suchen,« sagte er. »Steh auf, Häuslermädel!«

Rasch wie der Blitz fuhr des Mädchens Hand hinter das Tischbein, ergriff das Brillenfutteral und stopfte es unter ihre Schürze hinein.

»Auf mit dir!« knurrte der Alte. »Ich trau dir nicht über den Weg! Was hast du denn da unter der Schürze? Heraus damit, sag ich dir!«

Die Kleine streckte rasch die eine Hand vor, die andere hatte sie während der ganzen Zeit unter der Schürze versteckt gehalten. Jetzt aber mußte sie diese auch zeigen, und so bekam der Alte das Butterbrot zu sehen.

»Pfui Kuckuck! Ich glaube gar, das ist ein Butterbrot!« rief Agrippa Prästberg und fuhr zurück, wie wenn ihm das Mädchen eine Kreuzotter entgegengehalten hätte.

»Ich war eben dabei, mein Butterbrot zu essen, als Ihr kamt, und da hab ich's unter die Schürze gesteckt, weil ich weiß, daß Ihr Butterbrot nicht leiden könnt,« sagte die Kleine.

Nun kniete der Alte selbst auf den Boden; aber es war vergebens, es war nichts zu finden.

»Vielleicht habt Ihr die Brille dort liegen lassen, wo Ihr zuletzt gewesen seid,« sagte Klara Gulla.

Dasselbe hatte der Alte auch gedacht, obgleich er kaum glauben konnte, daß dem so sei.

Jedenfalls aber konnte er mit der Uhr nichts anfangen, well er seine Brille nicht hatte. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Bündel wieder zu schnüren und das Uhrwerk wieder in den Uhrkasten hineinzusetzen.

Während er nun dem kleinen Mädchen den Rücken drehte, schmuggelte dieses rasch die Brille in das Bündel hinein.

Und da fand Agrippa seine Brille, als er auf dem Herrenhof Lövdala, wo er zuletzt gearbeitet hatte, zurückgegangen war, um nach ihr zu fragen. Dort hatte er das Bündel aufgemacht, um zu zeigen, daß sie nicht drinnen sei, und das erste, was seine Augen sahen, war das Brillenfutteral.

Als er das nächstemal mit Jan und Katrine auf dem Kirchplatz zusammentraf, ging er zu ihnen hin.

»An eurem kleinen Mädchen, eurem behändigen kleinen Mädchen werdet ihr noch viel Freude erleben,« sagte er.


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