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In Erwartung

Ingenieur Boräus auf Borg machte beinahe jeden Morgen einen Spaziergang an den Landungssteg hinunter, um das Dampfschiff ankommen zu sehen, und das war kein Wunder. Er hatte nur einen kurzen Weg durch das schöne Tannengehölz zurückzulegen, und es war beinahe immer jemand auf dem Schiff, mit dem er einige Worte austauschen konnte; das brachte eine kleine Abwechselung in die Einförmigkeit des Landlebens.

Gerade am Rande des Gehölzes, wo der Weg steil zum Landungssteg hinunterführte, ragten einige große nackte Steinblöcke aus der Erde hervor, und gar oft ließen sich die Leute, die von weit her kamen und auf das Schiff warteten, auf diesen Steinen nieder. Am Landungssteg von Borg gab es immer viele Wartende, denn man war nie ganz sicher, wann das Schiff ankam. Vor zwölf Uhr kam es allerdings selten; aber man war eben doch nicht vollkommen sicher, ob es nicht doch schon um elf Uhr an der Lände eintraf. Ganz unmöglich war es allerdings auch nicht, daß es ein Uhr oder gar zwei Uhr wurde, bis es dahergefahren kam; wer also ganz sicher gehen wollte und sich schon um zehn Uhr an dem Steg einfand, der konnte möglicherweise den ganzen Vormittag dort sitzen müssen.

Ingenieur Boräus hatte von seinem Fenster in Borg eine prächtige Aussicht über den Löven. Er sah, wann das Dampfboot hinter der Landzunge vorkam, und ließ sich immer erst zur rechten Zeit am Landungssteg sehen. Er selbst brauchte also niemals auf den Wartesteinen Platz zu nehmen und warf denen, die dort saßen, nur im Vorbeigehen einen raschen Blick zu.

Aber eines Sommers konnte er nicht umhin, einen kleinen Mann zu bemerken, der mild und freundlich aussah und jeden Tag dort wartend saß. Stets saß er ruhig da und sah gleichgültig drein, bis das Dampfboot sichtbar wurde. Dann sprang er auf, und sein Gesicht leuchtete vor Freude. Er eilte das Ufer hinunter und stellte sich ganz vorne am Landungssteg auf, als ob er mit Sicherheit jemand erwarte. Aber es kam niemals jemand. Wenn das Schiff abfuhr, stand er wieder so allein da wie vorher.

Dann war die Freude aus seinem Gesicht verschwunden, und wenn er sich auf den Heimweg machte, sah er alt und müde aus. Man mußte beinahe fürchten, er habe nicht mehr die Kraft, das steile Ufer hinaufzusteigen.

Ingenieur Boräus kannte den Mann nicht; aber eines schönen Tages, als er ihn wieder dasitzen und auf den See hinausstarren sah, knüpfte er ein Gespräch mit ihm an. Bald hatte er erfahren, daß der Mann eine Tochter erwartete, die von Hause abwesend war und heute heimkommen sollte.

»Wißt Ihr denn ganz gewiß, daß sie heute kommt?« fragte der Ingenieur. »Ich habe Euch nun zwei Monate lang hier sitzen und warten sehen. Sie muß Euch doch schon öfter ungenauen Bescheid geschickt haben.«

»Ach nein, das hat sie nicht getan,« erwiderte der Mann sanftmütig. »Sie hat uns keinen unrichtigen Bescheid geschickt, gewiß nicht.«

»Aber ums Himmels willen, was meint Ihr denn?« rief der Ingenieur etwas heftig, denn er war ein hitziger Herr. »Hier sitzt Ihr und wartet Tag für Tag, ohne daß sie gekommen wäre, und da soll sie Euch keinen falschen Bescheid geschickt haben!«

»Nein,« sagte der kleine Mann und blickte mit seinen freundlichen hellen Augen dem Ingenieur ins Gesicht. »Das hat sie gar nicht tun können. Sie hat uns überhaupt keinen Bescheid geschickt.«

»Habt Ihr denn keinen Brief von ihr erhalten?« fragte der Ingenieur.

»Nein, wir haben seit dem ersten Oktober letzten Jahres keinen Brief erhalten.«

»Aber warum kommt Ihr dann hier herunter?« fragte der Ingenieur verwundert. »Hier sitzt Ihr jeden Vormittag und habt Maulaffen feil. Könnt Ihr denn nur so von Eurer Arbeit davonlaufen?«

»Ach nein, das ist eigentlich nicht recht von mir,« gab der Mann zu, lächelte jedoch dabei vor sich hin. »Aber die Sache wird schon wieder in Ordnung nun kommen.«

»Aber seid Ihr denn ein solcher Schafskopf, daß Ihr Euch ohne alle und jede Ursache hierhersetzt und wartet?« rief Ingenieur Boräus ganz wütend. »Ihr gehört ins Narrenhaus.«

Der Mann gab keine Antwort. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und saß völlig gelassen da. Das Lächeln um seine Lippen wurde breiter und breiter, und von Sekunde zu Sekunde sah er siegesgewisser aus.

Der Ingenieur zuckte die Achseln und ließ ihn sitzen. Wer als er halbwegs drunten war, tat es ihm leid, und er kehrte zurück. Er hatte eine freundliche Miene aufgesetzt, alle Bitterkeit, die für gewöhnlich auf den strengen Zügen lag, war verschwunden, und er reichte dem Manne die Hand.

»Ich möchte Euch nur die Hand drücken,« sagte er. »Bis jetzt hab' ich gemeint, hier im Dorfe sei ich der, der am meisten an Sehnsucht leidet, aber jetzt sehe ich, daß ich in Euch einen gefunden habe, der mir über ist.«


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