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Die Hauschristenlehre

Über nichts war Lars Gunnarsson vergnügter als über seinen Einfall, Jan in Skrolycka die lederne Mütze und den Stock abzunehmen. Es sah ja wahrhaftig aus, als hätte er ihm damit zugleich auch die Verrücktheit abgenommen.

Ein paar Wochen nach der Auktion in Bervik sollte auf dem Fallaer Hofe die übliche Christenlehre gehalten werden. Aus der ganzen Gegend um den Duvsee versammelten sich die Leute, und unter ihnen waren auch die Bewohner von Skrolycka. Und, o Wunder!, Jan war nicht das geringste anzumerken, daß irgend etwas mit seinem Verstand nicht in Ordnung war!

Alles, was an Bänken und Stühlen in Falla aufgetrieben werden konnte, war in das große Zimmer im Erdgeschoß gebracht worden. In dichten Reihen nahmen hier die zur Christenlehre gekommenen Leute Platz, und unter ihnen auch Jan, aber ohne daß er sich an einen besseren Platz gedrängt hätte, als ihm zukam. Lars behielt ihn die ganze Zeit über fest im Auge, und wirklich, die Verrücktheit war in der Tat zurückgegangen. Jan benahm sich vollständig wie ein anderer Mensch, das mußte Lars zugeben.

Jan war überaus schweigsam, und wer ihn begrüßte, bekam keine andere Erwiderung als ein kurzes Kopfnicken; aber das konnte ja auch daher kommen, daß er die Andacht nicht unterbrechen wollte, denn eine solche Christenlehre wurde ja als eine Art Gottesdienst betrachtet.

Ehe die Christenlehre selbst begann, mußten alle Anwesenden aufgeschrieben werden, und als der Pfarrer Jan Andersson in Skrolycka aufrief, antwortete Jan ohne das geringste Zögern, wie wenn der Kaiser Johannes von Portugallien niemals existiert hätte.

Der Pfarrer saß an einem Tisch ganz vorne im Zimmer mit dem gewaltigen Rechenschaftsberichtsbuch vor sich. Neben ihm saß Lars Gunnarsson und half ihm, indem er ihm Auskunft darüber gab, wer während des letzten Jahres aus diesem Gemeindebezirk weggezogen war und wer sich etwa verheiratet hatte.

Als nun Jan so richtig antwortete, sahen alle Anwesenden, wie sich der Pfarrer an Lars wendete und eine stumme Frage an ihn richtete.

»O, 's war nicht so gefährlich, wie's ausgesehen hat,« antwortete Lars. »Ich hab's ihm ausgetrieben. Er kommt jetzt wieder jeden Tag hierher nach Falla und arbeitet gerade wie vorher.«

Lars war nicht so klug gewesen, seine Stimme zu dämpfen, wie der Pfarrer es getan hatte; alle Anwesenden verstanden, von wem die Rede war, und vieler Augen richteten sich auf Jan, der aber so ruhig dasaß, als hätte er gar nichts gehört.

Dann nahm die Christenlehre ihren Anfang, und da befahl der Pfarrer einigen jungen Leuten, die in ihren Kenntnissen der christlichen Lehre geprüft werden sollten und denen es etwas bänglich zumute war, das vierte Gebot herzusagen.

Es war indes nicht so ganz zufällig, daß der Pfarrer an diesem Tage gerade dieses Gebot gewählt hatte. Da er hier in einer behaglichen, stattlichen Stube saß, mit festen Bänken an den Wänden und altertümlichem Hausrat, und er auch sonst überall deutliche Zeichen von Wohlstand wahrnahm, fühlte er sich berufen, die Menschen daran zu erinnern, wie gut es den Familien gehe, wo ein Geschlecht ums andere zusammenhalte, wo die Jungen die Alten regieren ließen, so lange diese Kraft dazu hätten, und sie auch später noch ehrten und achten, so lange sie auf dieser Erde weilten.

Er hatte eben angefangen, die große Verheißung zu erklären, die Gott denen gegeben hat, die Vater und Mutter ehren, als Jan von Skrolycka plötzlich von seinem Stuhl aufstand.

»Es steht einer draußen vor der Tür, der nicht hereinzukommen wagt,« sagte er.

»Börje, Ihr sitzt am nächsten an der Tür, seht einmal nach, wie es sich verhält!« sagte der Pfarrer.

Börje stand auf, öffnete die Tür und sah auf den Flur hinaus.

»Nein, 's ist niemand da,« sagte er. »Jan hat nicht recht gehört.«

Die Christenlehre kam wieder in Gang. Der Pfarrer erklärte seinen Zuhörern, dieses Gebot sei nicht so sehr ein Befehl, sondern vielmehr ein guter Rat, den man genau befolgen sollte, wenn man wolle, daß es einem im Leben gut gehe. Er sei ja nur erst ein junger Mann, sagte er, aber so weit sei er in der Erfahrung doch schon gekommen, um bezeugen zu können, wer seine Eltern verachte und ihnen ungehorsam sei, der lege den sichersten Grund zum Unglück seines Lebens.

Während der Pfarrer also redete, drehte Jan ein Mal ums andere den Kopf nach der Tür. Dann machte er Katrine, die in der hintersten Stuhlreihe saß und sich leichter durchdrängen konnte, ein Zeichen, hinzugehen und aufzumachen. Katrine blieb noch lange still sitzen; aber sie war doch ein wenig ängstlich, Jan in diesen Tagen zuwider zu handeln, und so gehorchte sie ihm schließlich. Aber als sie die Tür aufgemacht hatte und hinausschaute, sah sie ebensowenig jemand im Flur wie vorhin Börje. Sie schüttelte den Kopf gegen Jan und setzte sich wieder auf ihren Platz.

Der Pfarrer hatte sich durch Katrinens Hin- und Hergehen nicht stören lassen. Zur großen Freude aller derer, die abgefragt werden sollten, war er fast ganz vom Fragenstellen abgekommen und entwickelte dafür seinen Zuhörern alle die schönen Gedanken, die sich ihm aufdrängten.

»Denkt euch,« sagte er, »wie gut und sicher doch alles für die lieben Alten, die in unseren Häusern bei uns wohnen, angeordnet ist! Ist es nicht köstlich für uns, denen eine Stütze sein zu dürfen, die uns geholfen haben, als wir noch nicht vermochten, ihnen das Leben leicht zu machen, die vielleicht gehungert und gefroren haben, um uns Nahrung und Kleidung zu verschaffen? Es ist eine Ehre für ein junges Paar, wenn es einen alten Vater oder eine alte Mutter glücklich und zufrieden mit ihrem Los bei sich im Hause – – –«

Gerade als der Pfarrer dies sagte, erhob sich in einer andern Ecke des Zimmers leises Weinen. Lars Gunnarsson, der mit andächtig gesenktem Kopf dagesessen hatte, stand rasch auf, ging auf den Zehen, um den Pfarrer nicht zu stören, durchs Zimmer, legte den Arm um seine Schwiegermutter und zog sie mit sich vor an den Tisch, wo der Pfarrer saß.

Hier mußte sie Lars Gunnarssons Platz einnehmen, während er sich selbst hinter sie stellte und zu ihr hinuntersah. Auch seiner Frau machte er ein Zeichen; da kam sie herbei und stellte sich neben ihn. Das sah sehr schön aus, und alle begriffen, was Lars ihnen zeigen wollte, nämlich daß es hier bei ihm so sei, wie der Herr Pfarrer gesagt hatte, daß es sein sollte.

Der Pfarrer sah froh und erfreut aus, als sein Blick auf der alten Mutter und ihren Kindern ruhte. Eines nur flößte ihm etwas Unbehagen ein; die alte Frau weinte noch immer zum Herzbrechen. Noch nie war es ihm gelungen, bei irgendeinem seiner Gemeindeglieder eine solche Rührung hervorzurufen.

Nach einer kleinen Pause fuhr er fort:

»Ja, es ist nicht schwer, das vierte Gebot zu halten, so lange wir jung sind und unter der Vormundschaft der Eltern stehen, aber später, da kostet es Anstrengung. Wenn wir selbst erwachsen und mündig geworden sind und meinen, wir seien ebenso klug –«

Hier wurde der Pfarrer abermals von Jan unterbrochen, der sich nun schließlich bis zur Tür durchgedrückt, sie geöffnet hatte und hinausgetreten war.

Und Jan hatte mehr Glück als die andern. Man hörte, wie er zu jemand, der draußen im Flur stand, guten Tag sagte.

Aller Augen richteten sich auf die Tür, um zu sehen, wer während der ganzen Christenlehre da draußen gestanden und nicht gewagt hatte, hereinzukommen. Sie hörten, wie Jan den draußen inständig bat, einzutreten, und sie sahen ihn auch die Tür weit zurückschlagen; aber der Draußenstehende sträubte sich offenbar immer noch. Schließlich zog Jan die Türe wieder zu und trat allein ins Zimmer herein. Aber er ging nicht an seinen vorigen Platz zurück, sondern drängte sich mit großer Mühe bis zu dem Tisch vor, an dem der Pfarrer saß.

»Nun, Jan, werden wir nun erfahren, wer uns den ganzen Abend hindurch gestört hat?« sagte der Pfarrer etwas ungeduldig.

»Der alte Hofbauer von Falla ist draußen gewesen,« verkündigte Jan, ohne auch nur eine Spur von Verwunderung oder Erstaunen über das, was er mitzuteilen hatte, an den Tag zu legen. »Er wollte nicht hereinkommen, hat mir aber aufgetragen, Lars Gunnarsson zu sagen, er solle sich vor dem ersten Sonntag nach dem Johannisfest in acht nehmen.«

Im ersten Augenblick verstanden die Leute nicht, was diese Worte bedeuteten.

Auf den hinteren Bänken hatte man nicht recht verstehen können, was Jan gesagt hatte; aber man sah, daß der Pfarrer heftig zusammenfuhr, und da merkten die Leute wohl, daß Jan etwas Schreckliches gesagt haben mußte. Sie sprangen von ihren Sitzen auf, drängten näher herbei und fragten nach rechts und links, von wem denn ums Himmels willen Jan seinen Austrag erhalten habe.

»Aber Jan!« rief der Pfarrer mit strenger Stimme. »Weißt du denn, was du sagst?«

»Gewiß, weiß ich's,« versetzte Jan und nickte dem Pfarrer zur Bestätigung seiner Worte zu. »Denn ich hatt ihn ja schon die ganze Zeit draußen gehört. Ich hab ihn gebeten, hereinzukommen, aber er hat nicht gewollt, sondern hat mir nur den Auftrag an seinen Schwiegersohn gegeben; dann ist er gleich fortgegangen. ›Sag ihm,‹ hat er gesagt, ›nicht ich wolle ihm etwas Böses antun, weil er mich in meinem elenden Zustand im Schnee draußen liegen gelassen hat und mir nicht zur rechten Zeit zur Hilfe gekommen ist; aber das vierte Gebot sei ein strenges Gebot. Grüß ihn von mir und sag ihm, er solle bekennen und bereuen, das sei das beste für ihn. Er habe noch Zeit bis zum ersten Sonntag nach dem Johannisfest‹.«

Da Jan ganz vernünftig redete und den merkwürdigen Auftrag vollkommen glaubwürdig vorbrachte, waren sowohl der Pfarrer als auch alle die andern mehrere Sekunden lang in dem Wahne befangen, Erik von Falla habe tatsächlich vor der Zimmertür seines Hauses gestanden und mit dem alten Häusler geredet. Und unwillkürlich richteten sich aller Augen auf Lars Gunnarsson, um zu sehen, welche Wirkung Jans Worte auf ihn hätten.

Aber Lars begann zu lachen und sagte:

»Ich hab Jan bis jetzt für klug gehalten, sonst hätt' ich ihn nicht an der Christenlehre teilnehmen lassen. Der Herr Pfarrer muß so gut sein und die Störungen entschuldigen. Der Irrsinn bricht wieder bei ihm hervor.«

Der Pfarrer fuhr sich mit der Hand über die Stirne und sagte erleichtert: »Ja, ja, so ist es!«

Er war nahe daran gewesen, an etwas übernatürliches zu glauben. Aber nun handelte es sich vielleicht nur um das Wahngebilde eines Geisteskranken; das war eine große Beruhigung.

»Der Herr Pfarrer muß nämlich wissen, daß Jan keine besondere Liebe für mich empfindet,« fuhr Lars in seiner Erklärung fort; »und das verrät er jetzt, weil er den Verstand nicht mehr hat, es zu verbergen. Und eins muß ich ja auch zugeben; wenn man genau zusieht, so bin ich schuld dran, daß die Tochter fort mußte, um Geld zu verdienen. Und das ist's, was Jan mir nie verzeihen kann.«

Der Pfarrer verwunderte sich wohl etwas über den eifrigen Ton. Seine tiefen blauen Augen richteten sich forschend aus Lars Gunnarsson. Und Lars konnte diesen Blick nicht aushalten, sondern wendete sich weg. Aber er fühlte, daß dies unrichtig war, und gab sich deshalb alle Mühe, dem Pfarrer ins Gesicht zu sehen, konnte es jedoch nicht, und so wendete er sich mit einem Fluch ab.

»Lars Gunnarsson!« rief der Pfarrer. »Was habt Ihr denn?«

Lars faßte sich rasch.

»Kann ich denn diesen verrückten Kerl nicht los werden!« sagte er, wie wenn er über Jan geflucht hätte. »Da steht nun der Herr Pfarrer mit allen meinen Nachbarn, und man hält mich für einen Mörder, nur weil ein Narr einen alten Groll gegen mich hegt. Ich hab ja schon gesagt, wie's ist. Wegen der Tochter will er mir zu Leib. Aber ich hab doch nicht wissen können, daß sie ins Unglück rennen würde, weil ich meine Ansprüche erhoben hatte. Ist denn hier keiner, der für Jan sorgt, damit wir andern unsere Andacht fortsetzen können?«

Noch einmal strich sich der junge Pfarrer mit der Hand über die Stirn. Er fühlte sich von Lars' Worten peinlich berührt, konnte ihm aber auch keinen ernstlichen Vorhalt machen, da er ja nichts Bestimmtes wußte. Er sah sich nach der alten Hofbäuerin um: doch diese hatte sich fortgeschlichen. Dann ließ er seinen Blick über die Versammelten hingleiten, aber von ihnen bekam er keine Hilfe. So viel war sicher, von den Anwesenden wußte jeder, ob Lars ein Verbrecher war oder nicht, aber als der Pfarrer sich zu ihnen wendete, schienen sich alle die Gesichter vor ihm gleichsam zu verschließen und allen Ausdruck zu verlieren.

Katrine war unterdessen vorgetreten und hatte Jan untergefaßt. Sie waren schon auf dem Weg nach der Ausgangstür, und mit dem Irrsinnigen wollte der Pfarrer jetzt auch kein Verhör anstellen.

»Ich glaube, ich will es für heute genug sein lassen,« sagte der Pfarrer. »Wir wollen die Christenlehre beschließen.«

Er sprach ein kurzes Gebet, und man sang ein Lied. Dann verließen alle das Zimmer.

Der Pfarrer war der letzte, der ging.

Als Lars ihn nach der Gitterpforte begleitete, lenkte er das Gespräch von selbst auf das, was sich eben zugetragen hatte.

»Der Herr Pfarrer hat wohl gehört, daß ich mich vor dem ersten Sonntag nach Johanni in acht nehmen soll?« sagte er. »Das ist ein Beweis, daß Jan an seine Tochter gedacht hat. Am Sonntag nach Johanni im vorigen Jahre bin ich bei Jan gewesen, um wegen seines Hauses ins Reine zu kommen.«

Dem Pfarrer wurde bei allen diesen Erklärungen immer unheimlicher zu Mute. Ganz hastig legte er Lars Gunnarsson die Hand auf die Schulter und versuchte, ihm in die Augen zu sehen.

»Lars Gunnarsson!« sagte er mit herzlicher, überredender Stimme. »Ich bin kein Richter. Und wenn Ihr etwas auf Eurem Gewissen habt, könnt Ihr zu mir kommen. Vergeht das nicht! Ich erwarte Euch jeden Tag, Lars Gunnarsson! Wartet nur nicht, bis es zu spät ist!«


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