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Das Begräbnis

Zwar war weder eine Botschaft noch eine Einladung für Jan Andersson in Skrolycka gekommen, daß er an Björn Hindrikssons Begräbnis in Loby teilnehmen sollte; nein, das war nicht geschehen, aber die Überlebenden konnten ja auch nicht recht wissen, ob er sich noch als Verwandter rechnen wollte, seit ihm so hohe Ehren zuteil geworden waren und er in solcher Pracht und Herrlichkeit lebte.

Sie meinten vielleicht auch, es würde ihnen schwerfallen, dies oder jenes umzuorgeln, was nötig wäre, wenn so ein Mann wie er zum Begräbnis käme.

Björn Hindrikssons nächste Verwandte würden selbstverständlich ganz vorne in dem Leichenzug fahren; aber für ihn, den Kaiser, müßte ja dann mit allem Recht dort Platz gemacht werden.

Sie konnten ja nicht wissen, wie wenig genau er es mit solchen Dingen, auf die andere so besonders viel Wert legen, nahm. Er war ja trotzdem der, der er war. Es fiel ihm nie ein, denen den Platz streitig machen zu wollen, die froh und beglückt waren, wenn sie bei einer Gesellschaft oben am Tische sitzen durften.

Um nicht Anlaß zu irgendeinem Ärgernis zu geben, ging er also am Morgen nicht in das Trauerhaus, bevor der Leichenzug von dort abgefahren war, sondern wanderte geradenwegs nach der Kirche. Und erst als die Glocken läuteten und er sah, wie sich der lange Zug der Leidtragenden vor der Kirche aufstellte, trat er vor und nahm zwischen den andern Verwandten Platz.

Das ganze Trauergefolge sah wie etwas bestürzt aus, als er herzutrat; aber er war nun schon daran gewöhnt, daß die Leute von seiner Herablassung überrascht waren, das war also nichts, um sich daran aufzuhalten. Man hätte ihn sicherlich in die erste Reihe stellen wollen, aber dazu war jetzt keine Zeit mehr, denn der Zug hatte sich schon nach dem Grabe in Bewegung gesetzt.

Als das Begräbnis vorüber war und er mit den Leidtragenden in die Kirche ging und sich auch auf dieselbe Bank mit ihnen setzte, sahen sie abermals etwas verlegen aus. Aber sie kamen nicht so weit, irgendeine Bemerkung darüber zu machen, daß er ihretwegen den vornehmen Platz im Chor verlassen und sich hier heruntergesetzt habe.

Es hätte sich auch gerade jetzt, wo das erste Lied angestimmt wurde, nicht geschickt, Entschuldigungen vorzubringen.

Nach Schluß des Gottesdienstes, als die Gefährte, die den an dem Begräbnis Beteiligten gehörten, an der Kirche vorfuhren, ging Jan hin und setzte sich auf den großen Leiterwagen, auf dem der Sarg zur Kirche gefahren worden war. Jan wußte, der Wagen würde jetzt leer auf den Hof zurückfahren, und so nahm er also hier niemand den Platz weg.

Björn Hindrikssons Tochter und Schwiegersohn gingen wiederholt vorüber und sahen ihn an, während er da saß. Jan dachte, sie seien vielleicht bekümmert, weil sie ihm nicht einen Platz in einem der ersten Wagen anbieten konnten; aber er wollte ja gar nicht, daß seinetwegen irgendeine Verschiebung in der Anordnung eintreten sollte. Er war ja doch der, der er war.

Während er so von der Kirche wegfuhr, konnte er nicht umhin, daran zu denken, wie er und die kleine Klara Gulla damals nach dem Hofe gewandert waren, um die reichen Verwandten zu begrüßen. Ja, jetzt war es anders, jetzt war alles gerade umgekehrt. Wer war jetzt der Reiche und Angesehene? Wer war jetzt der, der den andern eine Ehre erwies, wenn er sie besuchte?

Bei der Ankunft im Trauerhause wurden die Gäste zum Ablegen in das große Wohnzimmer im Erdgeschoß geführt. Dann trat einer von Björn Hindrikssons Nachbarn, die, wie es Brauch und Sitte ist, dazu ausersehen waren, dem Leichenschmaus vorzustehen, herzu und bat die vornehmsten unter den Gästen, in den oberen Stock hinaufzukommen, wo der Mittagstisch gedeckt war.

Es war eine recht verantwortungsvolle Aufgabe, die von den Gästen auszuwählen, die zuerst hinaufgehen sollten, denn bei so einem großen Begräbnis war es nicht möglich, für alle Gäste zugleich Platz am Tisch zu schaffen, sondern es mußte in verschiedenen Abteilungen hintereinander gegessen werden. Aber es waren viele da, die es für einen großen Beweis von Mißachtung angesehen hätten, den sie nie wieder verziehen haben würden, wenn sie nicht unter der ersten Abteilung gewesen wären.

Und was nun insbesondere den betraf, der zum Kaiser erhoben worden war, so konnte er ja in vielen Stücken Nachsicht üben, aber daß er mit der ersten Abteilung zu Tische gebeten würde, darauf mußte er durchaus bestehen. Sonst würden ja die Leute meinen, er sei sich seines Rechts, vor allen anderen zu kommen, gar nicht bewußt.

Aber so etwas geschah auch nicht, o nein, dazu war sicher keine Gefahr vorhanden, obgleich er nicht mit den allerersten in das obere Stockwerk gebeten worden war. Selbstverständlich würde er mit dem Pfarrer und den vornehmen Herrschaften zugleich zu Tische sitzen, darüber brauchte er sich nicht zu beunruhigen.

Still und allein saß er auf einer Bank, denn hier war natürlich niemand, der zu ihm kam und über die Kaiserin mit ihm reden wollte. Ein bißchen bedrückt fühlte er sich jetzt allmählich doch. Als er daheim fortgegangen war, hatte Katrine gesagt, er täte besser, nicht zu dem Begräbnis zu gehen, weil diese Hofbauernfamilie von so altem Geschlecht und so vornehm sei, daß sie sich weder vor König noch Kaiser verbeugte. Jetzt sah es wirklich aus, als sollte Katrine recht bekommen. Alte Bauern, die seit der Erschaffung der Welt auf einem und demselben Hofe sitzen, halten sich für vornehme, als alle andern Hoheiten.

Es ging nicht so rasch, bis alle ausgesucht waren, die zu der ersten Abteilung der Tischgäste gehören sollten. Die Nachbarsleute, die an diesem Tage den Wirt und die Wirtin vorstellten, gingen lange umher und suchten nach den würdigsten; aber zu ihm, dem Kaiser, kamen sie nicht.

Neben Jan saßen zwei unverheiratete Frauenzimmer, die nicht die geringste Hoffnung hatten, jetzt schon gerufen zu werden, und die sich in aller Ruhe miteinander unterhielten. Sie sagten, wie merkwürdig es doch sei, daß Linnart Björnsson, Björn Hindrikssons Sohn, gerade noch zu rechter Zeit zu Hause eingetroffen sei, um sich mit seinem Vater zu versöhnen.

Es hatte zwar keine eigentliche Feindschaft zwischen den beiden geherrscht, sondern die Sache verhielt sich folgendermaßen: Vor etwa dreißig Jahren, als Linnart im Anfang der Zwanziger stand und sich verheiraten wollte, hatte er seinen Vater gefragt, ob er ihm den Hof übergeben wolle, oder wie man es sonst einrichten solle, damit er, der Sohn, sein eigener Herr würde. Aber der alte Björn hatte ihm das eine und das andere rundweg abgeschlagen. Sein Wunsch war, der Sohn sollte wie früher daheimbleiben und erst, wenn der Alte einmal den Kopf zur ewigen Ruhe niederlegte, den Hof übernehmen.

Aber da hatte der Sohn eine offene Antwort gegeben. »Nein,« hatte er gesagt, »ich will nicht hier daheim bleiben und Knecht unter dir sein, und wenn du auch mein Vater bist. Da will ich lieber in die Welt hinaus und mir meinen eigenen Herd gründen, denn ich muß ebensogut Herr sein wie du, sonst wäre es bald aus mit der Freundschaft zwischen uns.«

Darauf hatte Björn Hindriksson geantwortet: »Die Freundschaft kann auch zu Ende sein, wenn du deine eigenen Wege gehst.«

Alsdann war der Sohn in die großen Wälder gezogen, die nördlich und östlich vom Duvsee liegen, hatte sich dort mitten im schlimmsten Ödland niedergelassen und sich einen Hof urbar gemacht. Sein Eigentum lag im Broer Kirchspiel, und er zeigte sich nie mehr in Svartsjö. Seit dreißig Jahren hatten ihn die Eltern nicht ein einziges Mal mehr gesehen; aber siehe! am letzten Sonntag war er plötzlich daheim erschienen, gerade als der alte Björn im Sterben lag.

Dies erzählten die beiden Frauen, und da wurde es Jan recht froh zu Mut. Das waren gute Nachrichten. Am letzten Sonntag, als Katrine von der Kirche nach Hause gekommen war und berichtete, es werde mit Björn Hindriksson bald zu Ende sein, hatte Jan gleich nach dem Sohn gefragt und hätte gerne gewußt, ob man nicht nach ihm geschickt hatte.

Aber das war nicht geschehen. Katrine hatte gehört, Björn Hindrikssons Frau habe inständig gebeten, ihm Nachricht senden zu dürfen, aber es sei ihr streng verboten worden. Der Alte habe erklärt, er wolle auf seinem Sterbebette Frieden haben.

Aber damit hatte sich Jan nicht beruhigen können. Immerfort hatte er an Linnart Björnsson denken müssen, der dort weit drinnen in seinem Walde wohnte und von nichts wußte. Und dann hatte er, Jan, beschlossen, dem Wunsche des alten Björn gerade entgegen zu handeln und dem Sohn Nachricht zu bringen.

Er hatte nachher nicht gehört, wie alles abgelaufen war; erst jetzt hier beim Begräbnis erfuhr er es. Voller Eifer hörte er zu, während die beiden Frauen von Linnart und seinem Vater erzählten, und dabei vergaß er vollständig, wer schließlich zur ersten und zur zweiten Abteilung der Tischgäste bestimmt wurde.

Die eine der Frauen erzählte dann weiter.

Als der Sohn zu Hause ankam, waren alle beide, Vater und Sohn, äußerst freundlich gegeneinander gewesen. Der Alte hatte gelacht und den Anzug des Sohnes verwundert betrachtet. – »Du kommst in diesem Arbeitsanzug?« hatte er gesagt. – »Ja, ich hätte mich wohl in Staat werfen sollen, da es Sonntag ist,« hatte Linnart Björnsson geantwortet. »Aber seht, Vater, in diesem Sommer hatten wir eine wahre Sintflut von Regen da droben, und da hab ich am Sonntag nachmittag etwas Hafer einfahren wollen.« – »Nun, und hast du tüchtig hereingebracht?« fragte der Alte. – »Ja, eine Fuhre hatt' ich schon daheim; aber als dann der Bote kam, hab ich alles liegen und stehen lassen und mich sofort auf den Weg gemacht, ohne auch nur noch die Kleider zu wechseln.« – »Wer war denn der Mann, der dir die Nachricht gebracht hat?« fragte nach einer Weile der Vater. – »Es war ein Mann, den ich noch nie gesehen hab,« antwortete der Sohn. »Ich hab gar nicht daran gedacht, ihn zu fragen, wer er sei. Er sah eigentlich wie ein alter Bettler aus.« – »Den Mann mußt du ausfindig machen, Linnart, und ihm in meinem Namen danken,« hatte der alte Björn mit großem Nachdruck gesagt. »Und wo du ihn triffst, da sollst du ihm Ehre erweisen. Er hat's gut mit uns gemeint.«

Recht friedlich und gut war alles zwischen den beiden gewesen ganz bis zuletzt. Beide waren sehr beglückt über die Versöhnung, fast war es, als wollte ihnen der Tod nicht Kummer sondern Freude bringen.

Jan war erschreckt zusammengefahren, als er hörte, daß Linnart Björnsson ihn einen alten Bettler genannt hatte. Aber natürlich, er hatte ja weder die Mütze noch den Kaiserstock mit in die Wälder hinaufgenommen, da begriff er es.

Dadurch kehrten Jans Gedanken wieder zu seinem gegenwärtigen Kummer zurück. Nun hatte er sicherlich lange genug gewartet. Er müßte jetzt wirklich schon aufgerufen worden sein, wenn es nicht zu spät werden sollte.

Er stand auf und ging entschlossen über den Hofplatz und die Veranda, stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum großen Saal im oberen Stockwerk.

Das Essen war schon im vollen Gang, das sah er gleich. Der große Tisch in Hufeisenform war mit Gästen vollbesetzt, und das erste Gericht war schon herumgereicht worden. Man hatte also nicht die Absicht gehabt, ihn bei der ersten Abteilung mitkommen zu lassen.

Da saß der Pfarrer, da saß der Küster, da saßen der Leutnant von Lövdala und seine Frau, kurz, da saßen alle, die hier sitzen mußten, nur er allein nicht.

Eines der jungen Mädchen, die die Speisen auftrugen, eilte zu Jan hin, sobald er unter der Tür erschienen war.

»Was habt Ihr hier verloren, Jan?« fragte sie ihn leise. »Geht wieder hinunter!«

»Aber meine liebe Schaffnerin!« sagte er. »Der Kaiser von Portugallien gehört doch an den ersten Tisch.«

»Ach, schweigt doch still, Jan!« erwiderte sie. »Heut paßt das nun einmal gar nicht, daß Ihr mit Euern Dummheiten kommt. Geht hinunter, dann bekommt Ihr auch was zu essen, sobald Ihr an der Reihe seid.«

Der Fall war ja nun so, daß Jan für dieses Haus mehr Hochachtung empfand als für irgendein anderes in der Gemeinde. Aber gerade darum hätte er auch großen Wert darauf gelegt, hier so empfangen zu werden, wie es ihm zustand. Und wie er nun so mit der Mütze in der Hand an der Türe stand, überkam ihn eine ganz merkwürdige Niedergeschlagenheit. Er hatte das Gefühl, als falle seine ganze Kaiserwürde auf einmal von ihm ab.

Aber mitten in dieser schwierigen Lage hörte er, wie Linnart Björnsson dort am Tisch plötzlich einen leichten Ruf der Überraschung ausstieß.

»Da steht ja der Mann, der letzten Sonntag mit der Nachricht, daß Vater krank sei, zu mir gelaufen kam!« rief er.

»Was sagst du?« fragte seine Mutter. »Bist du deiner Sache auch ganz sicher?«

»Ja, gewiß, es kann ja niemand anders sein. Ich hab ihn schon früher gesehen, aber ich hab ihn nicht wiedererkannt, weil er so sonderbar gekleidet ist. Jetzt seh ich, daß er's ist.«

»Wenn er's wirklich ist, so soll er nicht länger wie ein Bettler dort an der Türe stehen,« sagte die alte Hofbäuerin. »Dann müssen wir hier am Tisch Platz für ihn machen. Wir sind ihm Dank und Ehrerbietung schuldig, denn er ist's gewesen, der dem alten Björn das Sterben leicht gemacht hat. Und mir hat er den einzigen Trost verschafft, der mir das Leid um so einen Mann, wie ich einen verloren habe, lindern kann.«

Und es wurde für Jan Platz gemacht, obgleich es tatsächlich vorher schon recht eng am Tisch zugegangen war. Er bekam einen Stuhl innen an der hufeisenförmigen Tafel, dem Pfarrer gerade gegenüber. Einen besseren Platz hätte er sich gar nicht wünschen können.

Zu Anfang war er wohl wie vor den Kopf geschlagen, denn er konnte nicht begreifen, daß man ein solches Wesen von ihm machte, nur weil er mit einer Botschaft an Linnart Björnsson ein paar Meilen durch den Wald gelaufen war. Aber bald erkannte er, wie die Sache zusammenhing. Natürlich war es der Kaiser, den sie in erster Linie ehren wollten. Und vielleicht wurde es auf diese Weise gemacht, damit sich niemand zurückgesetzt fühlen konnte.

Eine andere Erklärung konnte sich Jan durchaus nicht denken. Denn freundlich und bescheiden und gefällig war er seiner Lebtag gewesen, aber darum war er noch niemals auch nur im mindesten geehrt und gefeiert worden.


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