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Ein alter Troll

In dem zweiten Winter, den das kleine Mädchen von Skrolycka in der weiten Welt draußen war, wurde es gegen Ende Januar ganz unheimlich kalt. Es war eine furchtbare Kälte. Um die kleinen Häuser in Askedalarna mußten die Leute den Schnee hoch aufhäufen, um ihre Stuben nur einigermaßen warmhalten zu können, und die Kühe im Stall mußte man jede Nacht mit Stroh zudecken, damit sie nicht erfroren.

Ja, es war furchtbar kalt! Das Brot gefror und der Käse gefror, selbst die Butter wurde zu einem Eisklumpen. Und als es am allerkältesten war, schien auch das Feuer nicht mehr die Macht zu haben, so warm zu machen wie sonst. Man mochte ein noch so großes Feuer auf dem Herd anzünden, es wollte nicht warm im Zimmer werden, die Wärme reichte nur gerade bis an den Rand der Herdplatte.

Eines Tages, als die Kälte besonders empfindlich war, ging Jan in Skrolycka nicht zu seiner Arbeit aus, er blieb daheim und half Katrine das Feuer zu unterhalten. Weder er noch Katrine hatten sich an diesem Tag vor die Tür hinausgewagt, aber je länger sie daheim saßen, desto mehr froren sie. Als dann gegen fünf Uhr die Dämmerung hereinbrach, sagte Katrine, es wäre am besten, sie gingen jetzt zu Bett. Es habe gar keinen Zweck, noch länger aufzubleiben und zu frieren.

Jan war am Nachmittag mehrmals ans Fenster getreten und hatte durch eine kleine Ecke in der Fensterscheibe, die noch immer durchsichtig war, während sonst alle Scheiben mit dicken Eisblumen bedeckt waren, hinausgespäht, und auch jetzt ging er wieder zum Fenster hin.

»Ja, geh du ruhig zu Bett, Katrine,« sagte er, während er wieder durch die klare Stelle hinauslugte; »ich selbst muß noch eine Weile aufbleiben.«

»Das fehlte grade noch!« versetzte Katrine. »Was hast du denn zu tun? Warum kannst du nicht ebensogut zu Bett gehen wie ich?«

Jan gab keine direkte Antwort, sondern sagte:

»'s ist merkwürdig, ich hab Agrippa Prästberg noch nicht vorbeigehen sehen.«

»Ach so, wartest du auf den?« erwiderte Katrine. »Der ist wahrhaftig nicht so gegen dich gewesen, daß du seinetwegen aufsitzen und frieren müßtest.«

Jan hob gebietend die Hand auf. Von allen den Manieren, die er während seiner Kaiserzeit angenommen, war dies die einzige, die er noch nicht ganz aufgegeben hatte. Er erwartete Prästberg durchaus nicht zu Besuch bei sich, aber er wußte, daß Prästberg bei einem der alten Fischer in Askedalarna zum Abendessen eingeladen war, und verwunderte sich, weil er ihn noch nicht hatte vorüberkommen sehen.

»Er ist wohl so vernünftig gewesen, daheim zu bleiben,« sagte Katrine.

Mit dem zunehmenden Abend wurde es immer kälter. Die Balken in den Wänden krachten, wie wenn die Kälte anklopfte und Einlaß begehrte. Alle Sträucher und Bäume sahen ganz unförmlich aus, in so dicke Pelze aus Eis und Schnee waren sie eingehüllt; aber auch sie waren wohl gezwungen, alles anzuziehen, was sie nur konnten, um sich vor der Kälte zu schützen.

Nach einer Weile machte Katrine ihren Vorschlag aufs neue.

»Ich seh zwar, daß es erst halb sechs ist,« sagte sie, »aber jetzt stell ich jedenfalls den Kessel aufs Feuer und koche das Abendbrot. Dann steht dir's frei, zu Bett zu gehen oder auf Prästberg zu warten, ganz wie du Lust hast.«

Jan war die ganze Zeit nicht vom Fenster weggegangen.

»Ich halt es für ganz unmöglich, daß er schon vorbeigekommen ist, sonst hätt' ich ihn sehen müssen,« sagte er.

»Aber 's ist doch wohl ganz einerlei, ob so ein Kerl vorbeikommt oder nicht!« versetzte Katrine in scharfem Ton; denn jetzt war sie es überdrüssig, immer von diesem alten Landstreicher reden hören zu müssen.

Jan stieß einen tiefen Seufzer aus. Katrine hatte mit dem, was sie sagte, mehr recht, als sie selbst wußte. Jan machte sich nicht das geringste daraus, ob der alte Greppa vorüberging oder nicht. Wenn er davon geredet hatte, daß er auf ihn warte, so war das nur ein Vorwand, um noch länger am Fenster stehen bleiben zu können.

Seit jenem Tag, an dem Lars in Falla die Macht und Herrlichkeit von ihm genommen hatte, war von der großen Kaiserin, dem kleinen Mädchen von Skrolycka, kein Zeichen und keine Botschaft zu Jan gelangt. Er war überzeugt, es hatte nicht ohne ihre Einwilligung geschehen können, und daraus erkannte er, daß er, Jan, etwas getan haben mußte, was ihr unangenehm gewesen war. Aber was es war, das konnte er nicht herausbringen, ob er sich auch noch so sehr den Kopf zerbrach. Er grübelte darüber nach in den langen Winterabenden und während der langen dunklen Morgen, wenn er in der Scheune auf Falla den Dreschflegel schwang, und auch während der kurzen Tage, wo er Brennholz aus dem Walde nach dem Hofe fuhr.

Er konnte nicht glauben, daß sie über das, was mit dem Kaisertum selbst zusammenhing, ärgerlich sein könnte. Drei Monate lang war ja alles ausgezeichnet gegangen. Da hatte er eine Zeit gehabt – nie, nie hätte er sich das träumen lassen, was er, der arme Mann wirklich erlebt hatte! Aber dagegen konnte doch Klara Gulla nichts haben.

Nein, er mußte etwas getan oder gesagt haben, mit dem sie unzufrieden war, und deshalb war die Strafe über ihn gekommen.

Aber so unversöhnlich konnte sie doch nicht sein, daß sie ihm nie verzeihen würde? Ach, wenn sie ihm doch nur sagen wollte, warum sie böse über ihn war! Was er tun konnte, um sie zu versöhnen, dem wollte er sich ohne Klage unterwerfen. Da konnte sie ja selbst sehen, er hatte seine Arbeitskleider wieder angezogen und war zu seinem Tagewerk gegangen, sobald sie ihn hatte wissen lassen, daß sie es so haben wollte.

Wie ihm zu Mut war, darüber wollte er indes weder mit Katrine noch mit dem Netzstricker reden. Ganz geduldig wollte er warten, bis ein sicheres Zeichen von Klara Gulla eintraf. Gar oft fühlte er dieses Zeichen auch ganz nahe, ja eigentlich zum Greifen nahe, wenn er nur die Hand darnach ausstreckte.

Gerade an diesem Tag, wo er bei der großen Kälte im Zimmer eingeschlossen saß, hatte er wieder ganz deutlich gefühlt, daß Nachrichten von Klara Gulla im Anzug waren. Und nach diesen Nachrichten spähte er durch die kleine durchsichtige Ecke in der Fensterscheibe aus. Wenn die Nachrichten jetzt nicht bald kamen, dann war es ihm unmöglich, das Leben noch länger zu ertragen, das fühlte er deutlich.

Jetzt war es indes schon so dunkel, daß er kaum noch die Gitterpforte unterscheiden konnte, und so war also auch für diesen Tag alle Hoffnung zu Ende. Deshalb machte er nun auch keine Einwendungen mehr, als Katrine wieder vom Zubettgehen redete. Sie trug die Grütze auf, das Abendbrot wurde gegessen, und ehe die Uhr ein Viertel nach sechs zeigte, waren die beiden schon zur Ruhe gegangen.

Sie schliefen auch bald ein; aber es wurde kein langer Schlaf. Die große Kastenuhr hatte kaum halb sieben geschlagen, als Jan schon wieder aus dem Bett sprang. Rasch legte er frisches Holz auf die Glut, die noch nicht ganz ausgegangen war, und dann zog er sich an.

Er gab sich zwar alle Mühe, so leise wie möglich zu sein, aber dennoch wachte Katrine auf. Sie setzte sich im Bette auf und fragte, ob es denn schon Morgen sei.

Nein, nein, beruhigte sie Jan, das sei es gewiß nicht; aber das kleine Mädchen habe ihn im Traum gerufen und ihm befohlen, in den Wald zu gehen.

Jetzt war die Reihe zu seufzen an Katrine! Ach, der Wahnsinn hatte sich Jans wohl wieder bemächtigt! Sie hatte das in der letzten Zeit jeden Tag erwartet, denn Jan war gar so niedergedrückt und ruhelos gewesen.

Jetzt machte sie gar keinen Versuch, ihn zum Dableiben zu überreden; statt dessen stand sie auch auf und kleidete sich an.

»Wart ein wenig!« sagte sie, als Jan fertig unter der Tür stand und eben hinausgehen wollte. »Wenn du heut nacht in den Wald hinaus mußt, dann will ich mit dir gehen.«

Sie hatte erwartet, er werde Einwendungen machen; aber er widersprach ihr nicht, sondern blieb an der Tür stehen, bis sie fertig war. Er schien es allerdings eilig zu haben, war aber jetzt doch vernünftiger und gefaßter, als er den ganzen Tag über gewesen war.

Ja, das war auch ein Abend, um unterwegs zu sein! Die Kälte stellte sich ihnen entgegen wie eine Mauer von scharfen spitzigen Glasscherben. Sie schnitt ihnen wie mit Messern ins Gesicht, und sie hatten das Gefühl, als werde ihnen die Nase aus dem Gesicht gerissen. Die Fingerspitzen taten ihnen bitter weh, und es war, als würden ihnen sofort die Zehen abgehauen, sie fühlten gar nicht mehr, daß sie noch welche hatten.

Aber Jan ließ nicht einen Ton der Klage über seine Lippen dringen und auch Katrine nicht. Unentwegt gingen sie weiter. Jan schlug denselben Weg über den Hügel ein, den er damals am Weihnachtsmorgen mit Klara Gulla gegangen war, als sie noch so klein gewesen, daß man sie hatte tragen müssen.

Der Himmel war klar, und eine schmale silberne Mondsichel blinkte im Westen; es war also durchaus nicht dunkel. Aber trotzdem fiel es den beiden nächtlichen Wanderern schwer, auf dem Weg zu bleiben, denn alles war ganz weiß. Ein Mal ums andere kamen sie über den Wegrand hinaus und sanken tief in den Schnee ein.

Doch gelang es ihnen schließlich, sich bis zu dem großen Steinblock hindurchzuarbeiten, der einstmals von einem Riesen nach der Svartsjöer Kirche geschleudert worden war.

Jan war schon an ihm vorübergegangen, als Katrine, die hinter ihm ging, einen lauten Schrei ausstieß.

»Jan, Jan! Siehst du denn nicht, daß hier jemand sitzt?« rief sie entsetzt.

Und seit jenem Tag, wo Lars Gunnarsson gekommen war, um ihnen ihr Häuschen zu nehmen, hatte sie Jan nie wieder so angstvoll aufschreien hören.

Er drehte um und trat zu ihr, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätten beide das Hasenpanier ergriffen. Denn wahr und wahrhaftig, saß da nicht, an den Stein gelehnt und mit Rauhreif fast ganz überzogen, ein großer alter Troll mit struppigem Bart und einer Nase wie ein Rüssel?

Ganz regungslos saß er da, und es war nicht anders anzunehmen, als daß er, von Kälte ganz erstarrt, nicht mehr in seine Erdhöhle, oder wo er sich sonst aufhielt, hatte zurückkehren können.

»Wie merkwürdig, Jan, daß es solche doch wirklich gibt!« sagte Katrine. »Das hätt ich nicht geglaubt, so viel ich auch schon von ihnen reden hörte.«

Aber welches von den beiden sich zuerst faßte und wer zuerst erkannte, was er sah, das war nicht Katrine, sondern Jan.

»Es ist kein Troll,« sagte er. »Nein, es ist kein Troll, es ist Agrippa Prästberg.«

»Ums Himmels willen, was sagst du?« rief Katrine. »Und wahrhaftig, es ist Greppa! Aber er sieht einem Troll zum Verwechseln ähnlich.«

»Er hat sich hier niedergesetzt und ist eingeschlafen,« sagte Jan. »Er wird doch nicht am Ende tot sein?«

Sie riefen den Alten bei Namen und schüttelten ihn; aber er blieb trotzdem starr und regungslos sitzen.

»Lauf du heim und hol den Schlitten, damit wir ihn nach Haus schaffen!« befahl Jan. »Ich bleib hier und reib ihn mit Schnee, bis er aufwacht.«

»Wenn du dann nur nicht auch erfroren bist, bis ich zurückkomme,« erwiderte Katrine.

Aber Jan sagte:

»Meine liebe Katrine, mir ist seit Jahren nicht so heiß gewesen wie heut abend. Ich bin so glücklich über das kleine Mädchen. Ist es nicht sehr schön von ihr, daß sie uns hier herausgeschickt hat, damit wir dem das Leben retten, der so viele Lügen über sie verbreitet hat?«

* * *

Ein paar Wochen später, gerade als Jan auf dem Heimweg von seiner Arbeit war, kam ihm Agrippa entgegen.

»Jetzt bin ich wieder ganz frisch und gesund,« sagte Greppa. »Aber so viel ist sicher, wenn du und Katrine mir nicht zu Hilfe gekommen wäret, dann wär heutigen Tags nicht mehr viel übrig von Johann Utter Agrippa Prästberg, und ich hab mir deshalb auch den Kopf zerbrochen, wie ich euch einen Gegendienst leisten könnte.«

»Mein guter Agrippa Prästberg, deshalb braucht Ihr Euch keine grauen Haare wachsen zu lassen,« sagte Jan und hob abwehrend die Hand auf.

»Ach schweig und hör mich an!« sagte Prästberg. »Wenn ich gesagt hab, ich hätt' mir den Kopf zerbrochen, wie ich euch einen Gegendienst leisten könnte, so ist's kein leeres Gerede, sondern 's ist ernsthaft gemeint. Und jetzt ist's auch schon ausgeführt. Vor einigen Tagen bin ich hier dem Handelsmann begegnet, der eurem Mädel damals das rote Kleid geschenkt hatte.«

»Wem?« fragte Jan, und er war so aufgeregt, daß er förmlich nach Luft schnappte.

»Dem Mann, der eurem Mädel das Kleid geschenkt hat, und durch dessen Vermittlung sie dann in Stockholm ins Unglück geraten ist. Da hab ich ihm zuerst auf eure Rechnung eine so feste Tracht Prügel gegeben, als er vertragen konnte, und dann hab ich zu ihm gesagt, wenn er sich das nächste Mal in diesem Bezirk zeige, könne er noch einmal so viel bekommen.«

Jan wollte nicht glauben, daß er recht gehört hatte.

»Aber was sagte er? Habt Ihr ihn nicht nach Klara Gulla gefragt? Hat er keine Botschaft von ihr gehabt?«

»Was hätte er sagen sollen? Er hat die Prügel hingenommen und geschwiegen. So, nun hab ich euch also einen Gegendienst geleistet, nun sind wir quitt. Johann Utter Agrippa Prästberg bleibt nicht gern jemand was schuldig.«

Damit marschierte Greppa weiter; aber Jan blieb mitten aus dem Wege stehen und jammerte laut.

Das kleine Mädchen, das kleine Mädchen! Es hatte ihm eine Botschaft schicken wollen. Dieser Handelsmann hatte ganz gewiß Grüße von ihr gehabt. Aber jetzt erfuhr er ja nichts, der Mann war fortgejagt.

Jan rang die Hände. Er weinte nicht, aber sein ganzer Körper tat ihm weh, viel weher, als wenn er krank gewesen wäre.

Jetzt erst begriff er Klara Gullas Absicht! Prästberg, der immer unterwegs war, hätte von dem Handelsmann eine Botschaft entgegennehmen und sie Jan weitergeben sollen. Ach, bei Prästberg war es genau so, wie es mit einem Troll zu gehen pflegt: einerlei, ob dieser helfen oder schaden will, es geschieht immer ein Unglück.


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