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Das sterbende Herz

Wenn der Ingenieur Boräus von Borg seinen täglichen kleinen Spaziergang an die Landungsbrücke machte, konnte er natürlich nicht umhin, zu bemerken, daß seit einiger Zeit regelmäßig um den kleinen alten Mann von Skrolycka eine Menge Volk versammelt war. Dieser brauchte jetzt nicht mehr allein zu sitzen und sich die Langeweile mit stillen Träumen zu vertreiben, wie er es letzten Sommer hatte tun müssen. Statt dessen kamen jetzt alle, die auf das Dampfboot warteten, zu ihm her, um ihn schildern zu hören, wie es bei der Heimkunft der Kaiserin gehen werde, vor allen Dingen, wie es sein würde, wenn sie hier in Borg an Land käme. Sooft Ingenieur Boräus vorbeiging, hörte er von dem goldenen Diadem reden, das die Kaiserin in den Haaren tragen werde, und von den goldenen Blumen, die an den Büschen und Bäumen aufblühen würden, sobald sie den Fuß an Land setze.

Spät im Oktober, nachdem ungefähr drei Monate seit jenem Tage verflossen waren, wo Jan in Skrolycka zum erstenmal eben hier an dem Landungssteg von Borg Klara Gullas Erhöhung verkündigt hatte, bemerkte der Ingenieur eines Vormittags, daß eine ungewöhnlich große Menschenmenge um Jan versammelt war. Der Ingenieur hatte beabsichtigt gehabt, wie gewöhnlich mit einem kurzen Gruß vorbeizugehen, dann aber änderte er seinen Entschluß und blieb stehen, um zu erfahren, was hier vorging.

Auf den ersten Blick konnte er nichts Bemerkenswertes wahrnehmen. Jan saß wie gewöhnlich auf den Wartesteinen und hatte eine sehr würdige und feierliche Miene aufgesetzt. Neben ihm saß eine hünenhafte Frauensperson, die so rasch und eifrig auf ihn einsprach, daß ihr die Worte nur so aus dem Mund sprudelten. Sie schüttelte ihren Kopf, kniff die Augen zusammen und beugte sich langsam immer mehr vor, so daß ihr Gesicht, als sie endlich mit dem, was sie sagen wollte, fertig war, beinahe die Erde berührte.

Ingenieur Boräus erkannte selbstverständlich die närrische Ingeborg sofort, aber am Anfang war es ihm unmöglich, zu verstehen, was sie sagte, und so mußte er einen der Umstehenden fragen, um was es sich eigentlich handle. »Sie bittet ihn, er solle es einrichten, daß sie mit der Kaiserin nach Portugallien dürfe, wenn diese dorthin zurückreise,« lautete die Antwort. »Sie redet jetzt schon eine ganze Weile auf ihn ein, aber er will sich durchaus nicht herbeilassen, ein Versprechen zu geben.«

Jetzt fiel es dem Ingenieur nicht mehr schwer, dem Gespräch zu folgen. Aber er freute sich nicht über das, was er zu hören bekam, und während er lauschte, wurde die Falte zwischen seinen Augenbrauen tief und rot.

Hier saß die einzige auf der Welt, die außer Jan selbst an die Herrlichkeit von Portugallien glaubte, und ihr wurde verweigert, dorthin zu reisen! Das arme alte Weib wußte, daß es in jenem Lande keinen Hunger und keine Armut mehr gab, keine rohen Menschen, die eine Unglückliche verspotteten, keine Kinder, die einer einsamen, hilflosen, umherziehenden Person große Strecken nachliefen und Steine nach ihr warfen. Dort herrschte ewiger Friede und gute Jahre, und dorthin wollte sie aus dem ganzen Elend ihres armen Lebens heraus versetzt werden. Sie bat und weinte und brauchte alle ihre Überzeugungskünste; aber sie bekam immer wieder ein Nein und nur ein Nein zur Antwort.

Und er, der all ihren Bitten gegenüber taub war, das war einer, der das ganze letzte Jahr in Kummer und Sehnsucht verbracht hatte. Vor einigen Monaten, als sein Herz noch lebendig klopfte, hätte er vielleicht nicht nein gesagt; aber jetzt, in der Zeit seines Glücks, war es wohl vollständig versteinert worden.

Auch das ganze Äußere des Mannes verriet, daß eine große Veränderung mit ihm vorgegangen war. Er hatte dicke Wangen und ein Doppelkinn bekommen, und auf seiner Oberlippe war ein dunkler Schnurrbart gewachsen. Seine Augen waren etwas vorgequollen, und der Blick war stier geworden. Ja, der Ingenieur überlegte sogar, ob nicht auch die Nase größer geworden sei und eine hochmütigere Form bekommen habe. Die Haare waren augenscheinlich alle ausgefallen, kein einziges Härchen schaute unter der Ledermütze hervor.

Der Ingenieur hatte den Mann seit jenem ersten Zwiegespräch im Sommer im Auge behalten. Jetzt war es nicht mehr die große Sehnsucht, die ihn hinunter an die Landungsbrücke trieb. Nach dem Dampfboot schaute er kaum mehr aus. Er kam nur noch her, um Leute zu treffen, die auf seine Verrücktheiten eingingen und ihn Kaiser nannten, um ihn von seinen Einbildungen erzählen und singen zu hören.

Aber warum nahm er denn ein Ärgernis daran? Der Kerl war ja einfach ein Narr.

»Aber vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen, daß sich die Verrücktheit bei ihm so festgesetzt hätte, wie es nun geschehen ist?« dachte der Ingenieur. »Wer weiß, vielleicht wäre der Mann zu retten gewesen, wenn er gleich von Anfang an kräftig und unbarmherzig von seinem Kaiserthron heruntergerissen worden wäre.«

Noch einen prüfenden Blick warf der Ingenieur auf Jan von Skrolycka. Er sah jetzt gnädig bedauernd aus, blieb aber immer gleich unerbittlich.

Dort in dem schönen Lande Portugallien sollte es nur Prinzen und Generale, nur prächtig gekleidete Menschen geben. Und so viel war sicher, die verrückte Ingeborg hätte sich in ihrem baumwollenen Tuch und in ihrer selbstgestrickten Jacke dort sonderbar ausgenommen! Aber du liebe Zeit! Der Ingenieur meinte wirklich – – –

Es sah aus, als hätte er selbst gute Lust, Jan den Verweis zu erteilen, den dieser offenbar nötig hatte. Aber dann zuckte er die Schultern. Nein, dazu war er nicht der rechte Mann, er hätte die Sache nur noch schlimmer gemacht.

Schweigend entfernte er sich von dem Menschenhaufen und ging zum Landungssteg hinunter, denn das Dampfboot kam eben an der nächsten Landzunge zum Vorschein.


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