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Die Flucht

Acht Tage nach ihrer Rückkehr ins Elternhaus stand Klara Gulla eines Vormittags mit ihrer Mutter auf dem Landungssteg bei Borg, um für immer fortzugehen. Die alte Katrine trug einen Hut und einen schönen Tuchmantel. Sie sollte mit ihrer Tochter nach Malmö reisen und dort eine feine Stadtfrau werden. Nie mehr sollte sie sich ums tägliche Brot abschinden müssen. Mit müßigen Händen sollte sie auf dem Sofa sitzen und den Rest ihres Lebens in aller Ruhe sorgenfrei verbringen.

Illustration: Engström

Aber trotz allem Guten, das sie erwartete, hatte sich Katrine gewiß in ihrem ganzen Leben noch nie so elend und unglücklich gefühlt wie jetzt, während sie hier auf dem Steg stand und auf das Dampfboot wartete.

Klara Gulla mußte etwas gemerkt haben, denn sie fragte die Mutter, ob sie Angst vor der Seereise habe, und sie sagte, es sei gar nicht gefährlich, obgleich es so heftig wehe, daß sich die Leute kaum auf der Brücke halten konnten. Sie selbst sei es so gewohnt, auf der See zu fahren, sie wisse also, was sie sage.

»Das sind ja noch gar keine rechten Wellen,« sagte sie zu ihrer Mutter; »sie haben zwar kleine weiße Schaumkronen, aber ich würde ohne Angst in unserm alten Einbaum hinausfahren.«

Klara Gulla machte sich nichts aus dem Sturm und blieb ruhig auf dem Landungssteg stehen. Aber Katrine trat in das große Warenlager, damit ihr der Wind nicht durch Mark und Bein ging. Da verkroch sie sich in einer dunklen Ecke hinter ein paar Warenballen. Hier wollte sie stehen bleiben, bis das Dampfboot ankam, denn sie wollte vor der Abreise mit niemand mehr aus dem Dorfe zusammentreffen. In demselben Augenblick ging ihr ein Gedanke durch den Kopf, bei dem sie ganz bestürzt wurde. Wenn sie Angst hatte, sich vor den Leuten sehen zu lassen, so war das, was sie vorhatte, wohl sehr unrecht, dachte sie.

Von einem jedoch konnte sie sich freisprechen. Aus Verlangen nach Wohlleben ging sie nicht mit Klara Gulla, sondern einzig und allein darum, weil ihre Hände allmählich versagten. Was hätte sie anderes tun können, wenn sie doch fühlte, daß ihre Hände immer zittriger wurden und sie nicht mehr spinnen konnte?

Jetzt sah sie den Küster Svartling in das Warenhaus treten, und sie betete inbrünstig, Gott möge es so fügen, daß Svartling sie nicht sehe, damit er nicht zu ihr herkomme und sie frage, wohin sie reisen wolle. Wie hätte sie ihm sagen sollen, daß sie Jan und ihr Haus und ihr ganzes bisheriges Leben verlassen wollte?

Zuerst hatte sie Klara Gulla dazu bringen wollen, es so einzurichten, daß sie mit Jan in Skrolycka bleiben könnte. Sie meinte, wenn die Tochter ihnen etwas Geld schicken würde, vielleicht nur zehn Reichstaler im Monat, dann würden sie sich schon einigermaßen durchbringen können. Aber alle ihre Vorstellungen waren umsonst gewesen, Klara Gulla wollte gar nichts von einer solchen Einrichtung wissen und sagte, sie gebe ihnen nicht einen roten Heller, wenn Katrine nicht mit ihr ginge.

Katrine verstand wohl, wie alles zusammenhing. Klara Gulla sagte nicht aus Schlechtigkeit nein. Sie hatte ja auch schon eine Wohnung gemietet und sich auf beide Eltern eingerichtet und sich auf den Augenblick gefreut, wo sie ihnen würde zeigen können, wie sie an die Eltern gedacht und für sie gearbeitet hatte. Um nun für alle ihre Mühe belohnt zu werden, wollte sie jetzt wenigstens die Mutter mitnehmen.

Während Klara Gulla geschafft und gesorgt hatte, um für ihre Eltern eine Heimat zu erlangen, hatte sie sicherlich viel mehr an den Vater als an die Mutter gedacht gehabt, denn früher war sie ja so ganz besonders gut Freund mit dem Vater gewesen; aber jetzt meinte sie, diesen könnte sie unmöglich mitnehmen.

Gerade darin lag das ganze Unglück. Klara Gulla hatte einen großen Widerwillen gegen ihren Vater gefaßt. Sie konnte ihn einfach nicht ertragen. Er durfte durchaus nicht mit ihr von Portugallien reden, ja, sie konnte es kaum aushalten, wenn sie ihn in seinem Kaiserstaat sah. Er selbst hatte sie zwar noch ebenso lieb wie früher und wollte immer in ihrer Nähe sein; aber davon war Katrine fest überzeugt, wenn die Tochter schon nach knapp acht Tagen die alte Heimat wieder verließ, so tat sie es nur, um den Vater nicht mehr sehen zu müssen.

Jetzt trat Klara Gulla auch in den Warenraum. Und sie hatte keine Angst vor dem Küster Svartling, sondern ging gleich auf ihn zu, redete ihn an und erzählte ihm sofort, sie sei auf dem Weg in ihr eigenes Heim, und Katrine gehe mit ihr.

Darauf fragte der Küster, was ja auch nicht anders zu erwarten war, wie es denn mit ihrem Vater werden solle. Und vollkommen ruhig, wie wenn sie mit einem Fremden spräche, berichtete Klara Gulla, wie sie es eingerichtet hatte. Sie sagte, sie habe ihn bei Lisa, der Schwiegertochter des alten Netzstrickers, in Kost und Wohnung gegeben. Lisa habe sich nach Ol' Bengtsas Tod ein neues Haus gebaut, und dort sei eine leere Stube, in der Jan wohnen solle.

Küster Svartlings Gesicht verriet nicht mehr von seinen Gedanken, als er selbst zeigen wollte, und es blieb vollständig unbewegt, während er mit Klara Gulla redete. Aber Klara Gulla wußte trotzdem, was er, der wie ein Vater für das ganze Dorf war, dachte.

›Warum soll ein alter Mann, der noch Frau und Tochter hat, zu Fremden ziehen müssen? Lisa ist eine gute Frau, aber sie kann ja unmöglich so viel Nachsicht und Geduld mit ihm haben, wie es seine eigenen mit ihm haben würden.‹ Also dachte der Küster; und es war recht, daß er so dachte.

Katrine richtete ihre Augen rasch auf ihre Hände. Sie hatte sich vielleicht selbst betrogen, wenn sie dieses Zittern als Grund für ihr Fortgehen vorschob? Der eigentliche Grund, warum sie Jan verließ, war doch wohl der, daß sie der Tochter keinen Widerstand leisten konnte, diese war ihr zu gewaltig.

Klara Gulla sprach noch immer mit dem Küster. Jetzt eben erzählte sie ihm, wie sie und die Mutter sich hatten von Hause fortstehlen müssen, damit Jan ja nichts von ihrer Abreise erfuhr.

Das war für Katrine das schrecklichste von allem gewesen. Klara Gulla hatte Jan mit einem Auftrag nach einem Handelshaus weit droben im Broer Bezirk geschickt, und sobald er fortgegangen war, hatten sie die Koffer gepackt und sich auf den Weg gemacht.

Katrine war sich wie ein Dieb und ein Verbrecher vorgekommen, als sie sich auf diese Weise von ihrem Haus fortstahl; aber Klara Gulla hatte gesagt, es gehe nicht anders. Wenn der Vater etwas von der Abreise erführe, würde er sich eher vor dem Wagen auf den Weg legen und die Räder über sich weggehen lassen, als daß er sie abreisen ließe. Wenn er heimkomme, werde Lisa in der Wohnung auf ihn warten und sie werde sich gewiß alle Mühe geben, ihn zu trösten? aber Katrine war der Gedanke schrecklich, wie furchtbar unglücklich Jan sein würde, wenn er erfuhr, daß Klara Gulla ihn verlassen hatte.

Der Küster Svartling stand ganz still da und ließ Klara Gulla reden. Katrine fragte sich allmählich, ob er am Ende mit dem, was er erfuhr, einverstanden sei; doch da ergriff er ganz plötzlich Klara Gullas Hand und sagte mit großem Ernst:

»Da ich dein alter Lehrer bin, Klara Gulla, so sage ich dir jetzt meine Meinung gerade heraus. Du willst einer Pflicht entfliehen, aber es ist nicht gewiß, ob dir das gelingt. Ich habe andere gesehen, die dasselbe versucht haben, aber es hat sich gerächt.«

Als Katrine dies hörte, richtete sie sich auf und tat einen tiefen erleichternden Atemzug! Das waren die Worte, die sie selbst gerne zu der Tochter gesagt hätte.

Aber Klara Gulla antwortete ganz gelassen, sie wüßte durchaus nicht, wie sie es anders einrichten sollte. In eine fremde Stadt könne sie einen Verrückten unmöglich mitnehmen, aber sie könne auch nicht in Svartsjö bleiben, dafür habe ihr Vater selbst gesorgt. Wenn sie an einem Hofe vorbeigehe, so kämen die Kinder herausgestürzt und riefen ihr Kaiserin nach, und am letzten Sonntag in der Kirche hätten die Leute sie so angestarrt und umdrängt, daß sie sie fast umgeworfen hätten.

Aber der Küster blieb trotzdem bei seiner Ansicht.

»Ja, ich begreife, daß dies schwer ist,« sagte er.

»Aber du und dein Vater, ihr seid gar so innig verbunden gewesen, das läßt sich nicht so leicht zerschneiden, glaub es mir, Klara Gulla!«

Als dies gesagt war, verließen beide das Warenlager, und Katrine folgte ihnen. Sie war jetzt ganz anderer Meinung als vorher und wollte den Küster gerne sprechen; aber ehe sie zu ihm hinging, drehte sie sich um und spähte nach dem Hügel hinüber, denn sie hatte das Gefühl, daß Jan nun bald kommen würde.

»Hast du Angst, Vater könnte hierherkommen?« fragte Klara Gulla, als sie von dem Küster weggegangen und wieder zu ihrer Mutter getreten war.

»Angst!« antwortete Katrine. »Ich bitte den lieben Gott um nichts weiter, als daß er Jan hier eintreffen läßt, ehe ich abgereist bin.«

Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und fuhr fort:

»Klara Gulla, ich hab das Gefühl, daß ich ein Unrecht begangen hab, und ich glaub, ich werd mein ganzes Leben lang dafür leiden müssen.«

»Das sagt Ihr nur, Mutter, weil Ihr Euer Leben lang in Elend und Dunkelheit habt sitzen müssen,« erwiderte Klara Gulla. »Das wird anders werden, wenn Ihr nun in die Welt hinauskommt. Und Vater kann keinesfalls hierherkommen, denn er weiß ja nicht, daß wir fortgereist sind,« fügte sie hinzu.

»Glaub das nicht zu fest!« sagte Katrins. »Jan weiß trotzdem, was er zu wissen braucht. Seit du für uns verschollen gewesen bist, ist er hellseherisch geworden, und das hat mit jedem Jahr zugenommen. Der liebe Gott hat wohl gedacht, dafür, daß er ihm seinen klaren Verstand genommen hat, müsse er ihm ein anderes Licht geben, mit dem er sich leuchten könnte.«

Und um Klara Gulla zu beweisen, daß Jan das zweite Gesicht hatte, wie man es nennt, erzählte ihr Katrine in gedrängter Kürze von Lars Gunnarssons Tod, sowie ein paar andere Ereignisse der letzten Jahre.

Klara Gulla hörte aufmerksam zu. Vorher schon hatte Katrine versucht gehabt, ihr zu berichten, wie gut Jan gegen mehrere arme alte Leute gewesen sei; aber davon hatte Klara Gulla nichts hören wollen.

Jetzt aber schien sie tief ergriffen zu sein, und Katrine hoffte schon, sie werde Jan nun mit andern Augen betrachten und überdies sogar mit ihr nach Hause zurückkehren.

Aber diese Hoffnung durfte sie nicht lange festhalten.

»Da ist das Dampfboot, Mutter,« unterbrach sie Klara Gulla mit froher Stimme. »Jetzt geht alles gut, und wir kommen endlich vom Fleck.«

Als Katrine das Dampfboot am Landungssteg anlegen sah, traten ihr die Tränen in die Augen. Sie hatte den Küster Svartling bitten wollen, für sie und Jan ein gutes Wort bei Klara Gulla einzulegen, damit sie miteinander in ihrem Häuschen bleiben dürften; aber dazu war nun keine Zeit mehr, und sie sah keinen Ausweg, der Reise zu entgehen.

Das Boot mußte sich verspätet haben, denn es hatte es sehr eilig, wieder abzufahren. Nicht einmal das Gangbrett wurde hinausgeschoben. Ein paar arme Reisende, die aussteigen wollten, wurden von den Bootsleuten auf den Landungssteg beinahe hinübergeworfen. Klara Gulla faßte Katrine am Arm, ein Mann zog sie hinüber, und dann war sie an Bord. Sie weinte und wollte umkehren, aber da gab es kein Erbarmen.

In dem Augenblick, wo Katrine auf Deck gekommen war, trat Klara Gulla zu ihr und legte den Arm um sie, wie um sie zu stützen.

»Komm, wir wollen auf die andere Seite hinübergehen!« sagte sie.

Aber es war zu spät; jetzt eben sah die alte Katrine einen Mann eilig den Hügel herablaufen, und sie erkannte ihn auch sofort.

»Da ist Jan!« sagte sie. »Ach, was wird er nun tun? Er stürzt sich am Ende ins Wasser!«

Jan blieb ganz außen auf dem Steg stehen. Da stand er, klein und jammervoll. Er sah Klara Gulla auf dem abfahrenden Boot, und größere Verzweiflung und tieferen Gram kann ein Gesicht nicht ausdrücken, als das seinige jetzt zeigte.

Aber mehr als der Anblick ihres Mannes war für Katrine nicht nötig, um ihr die Kraft zu geben, sich der Tochter zu widersetzen.

»Wenn du durchaus reisen willst, so tu's,« sagte sie. »Ich aber steig an der nächsten Haltestelle aus und geh wieder heim.«

»Tut, was Ihr wollt, Mutter,« sagte Klara Gulla verdrossen. Sie sah wohl ein, daß sie hier nichts ausrichten würde. Und vielleicht fühlte sie auch, daß sie gegen den Vater zu grausam gewesen waren.

Aber es ward ihnen keine Zeit zum Wiedergutmachen gewährt. Zum zweitenmal wollte Jan der Freude seines Lebens nicht verlustig gehen. Er sprang vor und warf sich ins Wasser.

Vielleicht hatte er zu dem Dampfboot hinüberschwimmen wollen, vielleicht aber hatte er auch ganz einfach eingesehen, daß er das Leben nun nicht mehr ertragen könnte, wer konnte es wissen?

Auf dem Landungssteg erhob sich lautes Geschrei; sofort wurde ein Boot ausgesetzt, und ein Frachtdampfer legte bei und schickte seine kleine Jolle aus. Aber Jan war sofort untergegangen, und er tauchte nicht ein einzigesmal mehr an der Oberfläche des Wassers auf.

Der Kaiserstock und die grüne Ledermütze schwammen auf dem Wasser, aber der Kaiser selbst war verschwunden, ganz still und spurlos; wenn diese Kleinode nicht auf den Wellen gespielt hätten, würde man kaum haben glauben können, daß er da verschwunden war.


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