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Der Beginn des Traumes

In den ersten Wochen nach dem Besuche des Reichstagsabgeordneten war Jan durchaus nicht imstand, etwas zu leisten. Er lag nur immer zu Bett und härmte sich.

Jeden Morgen stand er auf, zog sich an und wollte nach Falla gehen. Aber wenn er kaum vor der Türe angekommen war, fühlte er sich todmüde und vollkommen kraftlos; es blieb ihm nichts übrig, als sich niederzulegen.

Katrine versuchte, Geduld mit ihm zu haben, denn sie wußte ja, daß es mit dem Heimweh ist wie mit jeder anderen Krankheit: es muß seine Zeit haben, bis es wieder vergeht. Aber sie wunderte sich doch, wie lange es wohl noch dauern würde, bis das große Heimweh, an dem Jan nach Klara Gulla krankte, überwunden wäre. Möglicherweise blieb Jan auf diese Weise bis Weihnachten oder gar den ganzen Winter hindurch krank?

Und sicherlich wäre es auch so gekommen, wenn nicht der alte Netzstricker eines Tages einen Besuch in Skrolycka gemacht hätte, um zu hören, wie es gehe, und dann zum Kaffee eingeladen worden wäre.

Der alte Netzstricker war immer schweigsam, wie solche, deren Gedanken in weiter Ferne sind, und die darum nicht richtig wahrnehmen, was um sie her vorgeht. Aber nachdem der Kaffee eingeschenkt war und er einen Teil davon in die Untertasse gegossen hatte, um ihn abkühlen zu lassen, hielt er es offenbar für seine Pflicht, etwas zu sagen.

»Heut ist mir's gerade, als müsse noch ein Brief von Klara Gulla kommen,« sagte er. »Ich hab' so ein Vorgefühl.«

»Wir haben ja erst vor vierzehn Tagen in dem Brief an den Reichstagsabgeordneten Grüße von ihr bekommen,« erwiderte Katrine.

Der Netzstricker blies einige Male in seinen Kaffee, ehe er wieder etwas sagte. Dann fand er es aber wieder angemessen, das lange Stillschweigen mit einigen Worten zu unterbrechen.

»Sie könnte ja etwas recht Angenehmes erlebt haben, worüber sie gern schreiben möchte,« sagte er.

»Was sollte sie Angenehmes erleben?« wendete Katrine ein. »Wenn man sich in einem Dienst abrackern muß, vergeht ein Tag wie der andere.«

Der Netzstricker biß ein Stückchen Zucker ab und goß seinen Kaffee in großen Schlucken hinunter. Als er das getan hatte, wurde es wieder so still in der Stube, geradezu unheimlich still.

»Klara Gulla könnte ja möglicherweise jemand auf der Straße angetroffen haben,« warf der Netzstricker schließlich hin und starrte mit den erloschenen Augen zu Boden. Man konnte sich kaum denken, daß er selbst wußte, was er sagte.

Katrine hielt die Bemerkung keiner Antwort wert. Sie füllte ihm seine Tasse wieder, ohne ein Wort zu sagen.

»Es wär ja möglich, daß die Frau, die Klara Gulla auf der Straße getroffen hat, eine alte Dame war, die nicht mehr recht gehen konnte und die eben auf der Straße ausglitt, als Klara Gulla vorbeiging,« fuhr der Netzstricker ebenso geistesabwesend wie vorher fort.

»Das wär aber doch nichts, dessentwegen sie einen Brief schreiben sollte,« sagte Katrine beinahe ungehalten über seine Hartnäckigkeit.

»Ja, aber denkt doch nur, wenn nun Klara Gulla stehengeblieben wäre und ihr aufgeholfen hätte,« sagte der Netzstricker. »Und wenn nun die alte Frau über die Hilfe so froh gewesen wäre, daß sie sofort ihren Beutel herausgezogen und dem Mädchen einen ganzen Zehnkronenschein geschenkt hätte. Das wär doch was, worüber es der Mühe wert wär, zu schreiben.«

»Gewiß, wenn's wahr wäre,« sagte Katrine ungeduldig. »Aber Ihr sitzt ja nur da und bildet's Euch ein.«

»So lang man sich noch in Gedanken Festmähler ausrichten kann, so lang ist alles gut,« sagte der Alte entschuldigend. »Die schmecken besser als die richtigen.«

»Ihr habt ja in beiden Erfahrung,« erwiderte Katrine.

Kurz darauf ging der Netzstricker seines Weges, und nachdem er gegangen war, schenkte Katrine der Sache keinen einzigen Gedanken mehr.

Was Jan anbelangt, so hielt er die Sache auch zuerst für nichts als leeres Gerede. Aber als er dann wieder untätig im Bett lag, fing er doch an sich zu fragen, ob nicht irgendein verborgener Sinn hinter den Worten stecken könnte.

Hatte der Netzstricker nicht in einem recht sonderbaren Ton von dem Briefe gesprochen? Hätte er sich so ohne weiteres eine so lange Geschichte ausdenken können, nur um etwas zu sagen? Am Ende hatte er irgend etwas erfahren? Am Ende hatte er von Klara Gulla einen Brief bekommen?

Möglicherweise war ihr wirklich ein so großes Glück widerfahren, daß sie gar nicht wagte, den Eltern die Nachricht ohne Vorbereitung mitzuteilen? Möglicherweise hatte sie dem Netzstricker geschrieben und ihn gebeten, die Eltern vorzubereiten? Und das war es, was der Netzstricker heute abend zu tun versucht hatte, und sie hatten ihn nur nicht verstanden.

›Morgen kommt er wieder, und dann erfahren wir die Wahrheit,‹ dachte Jan.

Allein am nächsten Tage kam der Netzstricker nicht wieder und auch am übernächsten nicht. Am dritten Tage konnte Jan seine Sehnsucht nicht mehr bezwingen; er stand auf und ging zu der Hütte des Alten, um zu erfahren, ob seine Worte einen bestimmten Sinn gehabt hätten.

Der Alte war allein zu Hause und arbeitete an einem alten Netz, das ihm zum Flicken anvertraut worden war. Er wurde ganz vergnügt, als er Jan kommen sah, und sagte, die Gicht habe ihn schrecklich geplagt, deshalb habe er in den letzten Tagen unmöglich ausgehen können.

Jan wollte nicht gerade heraus fragen, ob er einen Brief von Klara Gulla erhalten habe. Er meinte, er werde seinen Zweck besser erreichen, wenn er denselben Weg gehe, den der andere eingeschlagen hatte. »Ich hab über das nachgedacht, was Ihr von Klara Gulla erzählt habt, als Ihr das letztemal bei uns waret,« sagte er.

Der Alte sah von seiner Arbeit auf. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, auf was Jan anspielte.

»Ach, das war ja nur so ein Einfall von mir,« sagte er.

Nun trat Jan näher und stellte sich dicht neben den Netzstricker; dann sagte er:

»Aber es lautete so gut, was Ihr gesagt habt. Und vielleicht hättet Ihr noch mehr zu erzählen gehabt, wenn Katrine nicht so mißtrauisch gewesen wäre.«

»O ja, das sind so kleine Freuden, die man sich hier in Askedalarna immerhin leisten kann,« entgegnete der Netzstricker.

Nun wurde Jan ganz kühn und erfindungslustig.

»Ich hab mir gedacht, die Geschichte sei vielleicht damit noch nicht aus gewesen, daß die alte Dame Klara Gulla den Zehnkronenschein schenkte,« sagte er. »Vielleicht hat sie sie auch noch aufgefordert, sie zu besuchen.«

»Ja, vielleicht,« erwiderte der Netzstricker.

»Und vielleicht ist sie überdies sehr reich und besitzt ein großes steinernes Haus,« schlug Jan vor.

»Du, Jan, das ist gar nicht so dumm ausgedacht,« meinte der Netzstricker.

»Vielleicht bezahlt die reiche Dame auch Klara Gullas Schuld?« fing Jan von neuem an, brach aber wieder ab, weil jetzt des Alten Schwiegertochter in die Stube hereinkam, und diese wollte er nicht in das Geheimnis einweihen.

»So, Ihr könnt wieder ausgehen, Jan?« sagte sie. »Das ist schön, daß es Euch besser geht.«

»Das hab' ich meinem lieben Ol Bengtsa zu verdanken,« erwiderte Jan geheimnisvoll. »Er hat mich wieder gesund gemacht.«

Damit nahm er Abschied und ging. Der Alte starrte ihm noch lange nach.

»Du, Lisa, ich weiß nicht, was Jan damit sagen will, daß ich ihn gesund gemacht hätte,« sagte er. »Er wird doch nicht im Ernst meinen – – –«


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