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Der Storsnipa

Jan von Skrolycka wanderte auf demselben Waldweg dahin, den er mit Katrine und Klara Gulla noch vor ein paar Stunden auf dem Heimweg von der Kirche froh und glücklich zurückgelegt hatte.

Er hatte mit Katrine lange hin und her beraten, und schließlich waren sie überein gekommen, vorerst die Tochter nicht fortzuschicken oder sonst etwas in der Sache zu tun, sondern Jan sollte zu dem Reichstagsabgeordneten Karl Karlsson in Storvik gehen und ihn fragen, ob Lars Gunnarsson das Recht habe, ihnen das Häuschen zu nehmen.

Im ganzen Svartfjöer Kirchspiel wußte niemand so gut Bescheid im Gesetz und in allen Verordnungen wie der Reichstagsabgeordnete von Storvik. Wer immer so klug war, ihn bei Erbteilungen und Verkäufen, bei Inventaraufnahmen und Auktionen oder beim Aufsetzen eines Testaments zu Hilfe zu nehmen, der konnte ganz sicher sein, daß alles gesetzmäßig und richtig gemacht wurde, und daß nachher niemand mit Prozessen und Spitzfindigkeiten an der Sache rütteln konnte.

Aber der Reichstagsabgeordnete war ein strenger, herrischer Mann, von barschem Aussehen und mit einer harten Stimme, und Jan war es bei der Aussicht, zu ihm gehen zu müssen, gar nicht froh zumute.

›Wenn ich komme, wird er mir zu allererst eine Strafpredigt halten, weil ich nichts Schriftliches von Erik in Falla habe,‹ dachte er. ›Es gibt viele, die er gleich von Anfang an so eingeschüchtert hat, daß sie's gar nicht mehr gewagt haben, ihn über die eigentliche Sache um Rat zu fragen.‹

Jan war in übergroßer Hast von Hause weggegangen, und so hatte er da gar keine Zeit gehabt, daran zu denken, welchem gefürchteten Manne er unter die Augen treten sollte. Aber als er durch die Waldstrecken von Askedalarna dem Hochwald zuwanderte, da überkam ihn die alte Angst mit neuer Stärke, und er dachte, es sei recht dumm von ihm, daß er Klara Gulla nicht mitgenommen habe.

Als er von Hause wegging, hatte er das Mädchen nirgends gesehen. Sie war vielleicht fortgelaufen und hatte einen einsamen Platz im Walde aufgesucht, um da ihren Schmerz auszuweinen. Von jeher wollte sie es niemand sehen lassen, wenn sie betrübt war.

Als Jan eben in den Wald einbiegen wollte, hörte er rechts von sich höher oben auf dem Berge jemand singen und jodeln.

Er blieb stehen und lauschte. Es war eine Frauenstimme, die da oben sang. Aber was war das? Die Stimme kam ihm merkwürdig bekannt vor. Und doch – es war nicht möglich, es konnte nicht sein!

Jedenfalls wollte er, ehe er weiterging, wissen, wie es sich verhielt. Der Gesang klang jetzt ganz hell und deutlich, aber der Wald verdeckte die Aussicht auf die Sängerin.

Jan wich vom Wege ab und drang durch dichtes Unterholz, um ihr den Weg abzuschneiden.

Sie war indes nicht so nahe, wie er gedacht hatte, auch stand sie nicht still, sondern ging, während er hinter ihr herkam, immer weiter. Immer weiter und immer höher hinauf wanderte sie, und manchmal kam es Jan vor, als ertöne der Gesang dicht über ihm.

Jetzt schien Jan fast jeder Zweifel ausgeschlossen; die Sängerin vor ihm war in der Tat auf dem Weg nach dem Gipfel des Storsnipa.

Sie mußte einen Weg eingeschlagen haben, der sich an dem Berg, wo es fast senkrecht hinaufging, hinschlängelte und von jungen Birken dicht eingefaßt war. Deshalb konnte Jan die Sängerin auch nicht sehen. Aber wie steil auch der Pfad war, sie kam trotzdem rasch vorwärts. Wie von Vogelschwingen getragen schien sie hinaufzugelangen, und dabei sang sie auch noch die ganze Zeit.

Wieder ging Jan schräg aufwärts. Aber in seinem Eifer war er vom gebahnten Weg abgekommen, so mußte er sich durch Unterholz und Gestrüpp durcharbeiten, und dadurch blieb er natürlich weit zurück.

Dazu kam noch, daß sich ihm, während er dem Gesang lauschte, allmählich ein schwerer Druck auf die Brust legte, der ihm zuletzt fast den Atem raubte.

Schließlich mußte er ganz langsam gehen, er schien kaum noch vorwärts zu kommen.

Aber es ist nicht immer leicht, Stimmen zu erkennen, und im Wald ist es schwieriger als sonstwo, denn da gibt es so vieles, was raschelt und rauscht und gleichsam mitsingt.

Nachdem Jan nun so weit gegangen war, mußte er durchaus das junge Mädchen sehen, das so frohgemut war, daß es diesen steilen Weg fast hinaufflog, sonst, das wußte er, würde er den Zweifel und das Mißtrauen seiner Lebtage nicht mehr los werden.

Und eines wußte er ja auch ganz bestimmt: er würde Klarheit erlangen, sobald er auf dem Berggipfel ankam, denn dieser war vollkommen kahl und leer, da konnte ihm die Sängerin nicht mehr entgehen.

In früheren Zeiten war auch der Storsnipa mit Wald bestanden gewesen; aber vor etwa fünfundzwanzig Jahren hatte ein Waldbrand da oben gewütet, und seither stand der breite Berggipfel ganz nackt und kahl.

Heidekraut und Krähenbeerensträucher und isländisches Moos waren allmählich über die Felsen hingeklettert, aber bis jetzt war noch kein Baum so weit herangewachsen, daß er die Aussicht verdeckte.

Seit der Wald abgebrannt war, hatte man eine herrliche Aussicht droben. Man sah den ganzen Löven und das grüne Tal, das den See umschloß, dazu alle die blauen Berge, die ringsum Wache hielten. Wenn die jungen Leute von Askedalarna aus ihrem engen Tal die Snipahöhe erkletterten, mußten sie unwillkürlich an den Berg denken, auf den der Versucher einst den Herrn Jesus geführt hatte, um ihm alle Reiche der Welt und deren Herrlichkeit zu zeigen.

Als Jan endlich den Wald hinter sich hatte und ins Freie hinauskam, sah er gleich die Sängerin.

Auf der höchsten Klippe, dort, wo man die weiteste Aussicht hatte, war eine Art Brustwehr aus Steinblöcken errichtet, und auf dem obersten dieser Steinblöcke stand Klara Fina Gulleborg in ihrem roten Kleid. Klar und deutlich zeichnete sich ihre Gestalt vom blassen Abendhimmel ab, und wenn die Leute in den Tälern oder Wäldern jetzt eben ihre Blicke auf den Storsnipa gerichtet hätten, so hätten sie das Mädchen da oben stehen sehen müssen.

Weit schaute sie über das meilenweite Land hin. Sie sah an den Seeufern weiße Kirchen auf steilen Hügeln, sah Hüttenwerke und Herrenhöfe in Haine und Gärten eingebettet, sah Bauernhöfe in langen dichten Reihen den Waldsaum entlang, sah langgestreckte Äcker und Felder, lange gewundene Straßen und Wälder ohne Grenzen und ohne Ende.

Im Anfang sang sie noch, aber bald verstummte sie und versank vollständig in die Betrachtung der weiten, offenen Welt, die vor ihr lag.

Schließlich streckte sie die Arme aus. Und da war es, als wolle sie alles miteinander, was da vor ihr lag, in ihre Arme ziehen, das ganze große mächtige Reich, von dem sie bis zum heutigen Tag ausgeschlossen gewesen war.

* * *

Es wurde später Abend, bis Jan endlich nach Hause kam, und als er schließlich eintraf, konnte er sich auf nichts mehr richtig besinnen. Er behauptete, er sei bei Karl Karlsson gewesen und habe mit ihm gesprochen; aber was dieser ihm zu tun geraten hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern.

»Es hat gar keinen Wert, irgend etwas zu tun,« sagte er einmal ums andere; dies war die einzige Auskunft, die Katrine aus ihm herausbringen konnte.

Jan ging ganz gebückt und sah todmüde aus. Sein Rock trug Spuren von Moos und Erde. Katrine fragte ihn, ob er gefallen sei und sich verletzt habe.

Nein, nein, durchaus nicht, aber er habe sich wohl eine Weile auf den Boden gelegt, um auszuruhen, erwiderte er.

Dann sei er am Ende krank?

Nein, nein, durchaus nicht. Es sei nur irgend etwas stehen geblieben.

Aber was in dem Augenblick stehen geblieben war, da ihm klar wurde, daß sein kleines Mädchen sich nicht aus Liebe zu den Eltern erboten hatte, fortzugehen, um die Heimat zu retten, sondern daß sie es getan hatte, weil sie sich von ihnen fort in die Welt hinaussehnte, das wollte er nicht sagen.


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