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Hundertundeilftes Capitel.
Wie man die anvertraute Heerde hüten und bewahren müsse.

Ein gewisser Edler besaß eine weiße Kuh, die er aus zwei Gründen sehr werth hielt. Der erste lag darin, daß sie weiß war, der andere, weil sie beständig Ueberfluß an Milch hatte. Nun verordnete aber dieser Edle, die Kuh solle zwei goldene Hörner erhalten, und dachte bei sich darüber nach, wem er wohl die Kuh zur Bewachung übergeben könnte. Nun lebte aber damals gerade ein Mann, der Argus hieß, in Allem wahrheitsliebend war und hundert Augen hatte. Dieser Edle sandte also einen Boten an den Argus, er solle ohne weiteren Verzug zu ihm kommen. Wie der aber gekommen war, sprach er zu ihm: ich vertraue Dir meine Kuh mit goldenen Hörnern zur Bewachung an, und so Du sie gut hüten wirst, will ich Dich zu großem Reichthum empor bringen: wenn aber die Hörner gestohlen werden, mußt Du des Todes sterben. Argus aber nahm die Kuh sammt den Hörnern und führte sie mit sich, zog mit derselben jeden Tag auf die Weide, bewachte sie sorgsam und brachte sie bei Anbruch der Nacht wieder nach Hause. Nun gab es aber damals einen gewinnsüchtigen Menschen, Namens Merkurius, der aber sehr erfahren in der Musik war und die Kuh durchaus zu besitzen wünschte, und darum oft zu dem Argus kam, um die Hörner von ihm durch Bitten oder Geld zu erhalten. Argus hielt aber in seiner Hand einen Hirtenstab, auf den er sich zu stützen pflegte, und sprach zu seinem Stocke, als wenn er die Person seines Herrn vor sich hätte: Du bist mein Herr, ich will in dieser Nacht zu Dir auf Deine Burg kommen: Du sprichst zu mir, wo ist meine Kuh mit ihren Hörnern? ich antworte: die Kuh ist da, hat aber keine Hörner mehr, denn als ich im Schlafe lag, hat sie ein Räuber entwendet. Du aber sagst: o Du elender Kerl, hast Du nicht hundert Augen? wie ist es möglich, daß alle schliefen und ein Räuber die Hörner stehlen konnte? Dieß ist eine Lüge, also bist Du ein Kind des Todes. So ich aber sage: ich habe sie verkauft, bin ich nicht weniger in den Augen meines Herrn dem Tode verfallen. Darauf sprach er zum Merkurius: gehe Deiner Wege, denn Du sollst nichts erhalten. Merkurius aber entfernte sich und kam am andern Tage als Tonkünstler mit seinem Instrumente wieder. Wie er aber zurückgekehrt war, fing er an nach Art der Schauspieler dem Argus Spaß vor zu machen und dazu sehr viel zu singen, bis zwei Augen desselben anfingen einzuschlafen. Dann entschliefen bei seinem Gesange noch zwei andere Augen, und so immer fort eins nach dem andern, bis der Schlaf alle überwältigt hatte. Wie das Merkurius gewahr ward, hieb er dem Argus das Haupt ab, und raubte die Kuh samt ihren goldenen Hörnern.


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