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Hundertundsiebentes Capitel.
Von dem Gedächtnis an den Tod und wie man sich nicht an zeitlichen Gütern ergötzen dürfe.

Es stand einst in der Stadt Rom eine Bildsäule auf ihren eigenen Füßen wie ein Mensch, und hielt die Hand ausgestreckt, auf dem Mittelfinger aber stand geschrieben: hier schlage ein. Diese Bildsäule stand aber also schon seit langer Zeit, und weil nun Niemand wußte, was das bedeuten solle: hier schlage ein, so wunderten sich Viele darüber und kamen immer wieder zu der Statue, um sich diese Schrift wieder anzusehen, allein sie gingen Alle wieder unverrichteter Sache hinweg, denn sie verstanden jene Aufschrift durchaus nicht. Nun gab es aber einen gewissen scharfsinnigen Kleriker, der, wie er von der Bildsäule gehört hatte, sich viel Mühe gab sie zu sehen, und als er sie endlich erblickt und die Aufschrift: »hier schlage ein« gelesen hatte, und gerade die Sonne auf das Standbild scheinen sah, so folgte er dem Schatten, welchen derjenige Finger warf, welcher sprach: »hier schlage ein,« nahm gleich eine Hacke und schlug in einer Entfernung von drei Fuß in die Erde und fand einige Stufen, welche unter die Erde hinabgingen. Der Kleriker aber freuete sich nicht wenig, stieg die Stufen hinab und fand unter der Erde einen prächtigen Palast, in dessen Hofhalle er trat. Darin erblickte er einen König und eine Königin und viele Edele, welche an einer Tafel saßen, und ringsherum war der ganze Saal voll Menschen. Alle aber waren mit kostbaren Gewändern angethan, indessen sprach Keiner von Allen auch nur ein einziges Wort zu ihm. Er sah sich um und erblickte in einem Winkel einen kostbaren, polirten Stein, welcher Karfunkel heißt, von dem das ganze Haus sein Licht erhielt. Dem Karfunkel gegenüber sah er aber in einem andern Winkel einen Mann stehen, welcher in seiner Hand einen Bogen hielt, und mit einem Pfeile in Bereitschaft stand loszuschießen, und auf der Stirne desselben stand geschrieben: ich bin der, der ich bin: Niemand kann meinem Bogen entgehen, und vorzüglich nicht jener Karfunkel, der so herrlich glänzt. Wie das der Kleriker sah, wunderte er sich, trat aber dann in ein Gemach, und fand daselbst herrlich schöne Frauen in Purpur und Pelzwerk gekleidet, welche arbeiteten, aber kein Wort zu ihm sprachen. Nach diesem trat er in einen Pferdestall, traf darin Pferde und Esel, aber gerade so wie alle Andern, denn wie er sie berührte, schienen sie sich wie Steine anzufühlen. Hierauf besuchte er alle Wohngemächer des Palastes, und fand Alles, was sein Herz begehrte. Nachher aber trat er, wie früher, in die Hofhalle, dachte an's Weggehen und sprach bei sich in seinem Herzen: heute habe ich wunderliche Dinge erblickt, und Alles, was mein Herz begehrte, konnte es hier finden. Indessen wird über das, was ich gesehen habe, Niemand meinen Worten glauben, darum ist es gut zum Beweis der Wahrheit etwas von hier mitzunehmen. Er schaute also auf die obere Tafel und erblickte goldene Trinkgeschirre und kostbare Messer, ging also an den Tisch und nahm einen Becher und ein Messer weg, um es mit zu nehmen. Sobald er es aber in seinen Busen gesteckt hatte, richtete die Bildsäule, welche mit einem Bogen und Pfeil in einem Winkel stand, ihren Pfeil gegen den Karfunkel, durchschoß ihn und zerschmetterte ihn in viele Stücke. Alsbald aber ward die Halle finster wie die Nacht, und der Kleriker ward, als er das sah, ganz traurig und konnte den Ausweg wegen der allzugroßen Dunkelheit nicht wieder finden, und mußte so in dem Palaste eines elenden Todes sterben.


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