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XIV. Die Entführung

Diese Unterredung dauerte nicht lange und endete damit, daß Hans Zillmann mit Onkel Karl hinunter zum Automobil ging und dem Chauffeur Anweisung gab, jedem Befehl Onkel Karls unbedingt Folge zu leisten.

Herr Zillmann trat dann den Rückweg zu Fuß an, während Onkel noch einmal hinauf in die Lemkesche Wohnung ging, um das Ehepaar über seine Absichten zu unterrichten.

»Ick weeß nich, wenn ick zurickkomme und ob ihr mia nochmal labundij wiedaseht. Et handelt sich, soweit ick die Sachlaje ibahaupt beurteelen kann, um eene rejuläre Entfiehrung mit alle Schikanen der Neizeit. Diesa Musjeh Pikato is een höchst jefährlicha Bursche, der schon eene janze Anzahl junga Frauen vaschleppt und denn nua jejen een jroßet Lösejeld freijejeben hat. Die mehrsten haben ooch jutwillij jeblecht, bloß um keen'n Schkandal zu haben. Uns kommt's ja woll nich druff an?«

»Wat is los?« sagte Frau Lemke, »ick vasteh' det allet noch janich! Liesken hat sich entfiehren lassen?«

Aber Herr Lemke fragte: »Wodruff kommt's uns nich an: Uff det Lösejeld oda den Schkandal?«

»Det will ick ja eben von eich wissen,« sagte Onkel Karl, »ibalejt's eich, ick jeh' jetzt bloß noch mal rasch bei mia und hol' mia meene Duellpistole.«

Als er zurückkam, hatte sich Herr Lemke inzwischen ebenfalls angezogen: »Ick bejleite dia, Karrel, diesmal komme ick mit!«

Onkel zog sich hierauf schweigend seinen Paletot aus, nahm den grauen Zylinder vom Kopf und wollte sich entfernen.

»Wo jehsten hin – Karrel?«

»Fahr' alleene« – sagte Onkel – »saj man den Schofföhr, er soll dia fahren, ick käme nich mit!«

»Aba wat soll denn det heeßen?«

»Willem,« sagte Onkel und würgte dabei, »Willem, ick sehe, du traust mia nischt mehr zu. Ainnerste dia aba noch, wie ick dunnemals deen'n Edwin aus'n Kanal jeholt und wie ick Tante Liese uffjespürt, als sie vaschwunden war? Wenn mia det jejlickt is, laj et dadran, det mia keena bei jestehrt hat!«

»Aba ick will dia doch ja nich bei stehren, bloß weil du sajst, dettet so jefährlich is, wollte ick dia beistehen«, sagte Herr Lemke.

»Willem,« sagte Onkel, knöpfte den Rock auf und holte die Pistole vor, »Willem, jloobste, det det Ding jeniejt, um mit zehn sonne Pikatos fertij zu werden?«

»Denn laß ihn doch, wie er will,« sagte Frau Lemke, »et is doch ooch ville bessa, Vata, du bleebst hia und tröstest mia. Fahr man los, Karrel, ick vatraue dia in sonne Sachen, dadrinne haste wat wej! Schieß aba nich unse Liesken bei tot!«

»Dafor kann ick nich jarantieren – wer mia in Schußlinie kommt, den knall' ick nieda« – sagte Onkel Karl. Und dann zog er sich wieder seinen Paletot an, stülpte den Zylinder auf, schüttelte Herrn und Frau Lemke die Hand und ging hinunter.

»Fahr well« – sagte er zu dem Chauffeur und setzte – als ihn dieser verständnislos ansah – noch energischer hinzu: » Go on – dammit – uff deitsch: Abfahren! Also mal vorleifij erst nach'n Potsdama Platz!«

Er nannte den Namen eines der großen Hotels dort, stieg ein, und gleich darauf glitt das Auto auf dem nassen Asphalt wie ein Pfeil dahin. Onkel hatte geknipst – die elektrische Beleuchtung strahlte, und nun überlegte er in Ruhe, was ihm Herr Zillmann vorhin gesagt.

»Dieser Pikato wird sich keine Mühe gegeben haben, seine Spur zu verwischen – es kommt ihm ja nur darauf an, daß man wieder einmal von ihm spricht« – hatte Hans Zillmann gesagt. »Immer wenn er glaubt, daß die Kritik seine Leistungen nicht genügend würdige, sucht er auf diese Weise Sensation zu machen! Übrigens gilt er als nicht ganz normal – starker Trinker – und das dient jedesmal zu seiner Entschuldigung! – – –«

Das Auto kam jetzt in das Gewirr der Potsdamer Straße und war gezwungen, langsamer zu fahren. Nun gab's noch eine Stockung an der Linkstraße – der Schutzmannsposten dort gab die Passage nicht frei, und Onkel Karl bekam schon einen kleinen Anfall von Blaukoller – dann endlich ging es weiter, und mit Eleganz hielt jetzt das Landaulette vor dem hellerleuchteten Portal des riesigen Hotels. Die uniformierten Grooms stürzten eilfertig herbei, rissen den Schlag auf und halfen Onkel Karl beim Aussteigen. Da er merkte, daß man ihn für einen Amerikaner oder Engländer hielt, änderte er im letzten Augenblick seinen Plan und beschloß, statt als »Königlich preußischer Kriminalkommissar« als » Englishman« aufzutreten.

»Uehr is die Portjeh« – fragte er, riß den Mund weit auf und gähnte laut, denn, wie er sich sagte, »det Hujaxen jehört dazu«!

Der Portier stand schon vor ihm, die Mütze mit der dicken Goldbordüre in der Hand und fragte in englischer Sprache, womit er dem Herrn dienen könne.

»Ick sprecken jeleifij deitsch – ick sein Deitsch-Ämärikaner« – herrschte Onkel den Portier an, als hätte ihm dieser seine Nationalehre besudelt. »Ick winschen zu wissen auf die Stelle, wo sein diese Persons!«

Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und hielt es dem Portier hin. Dieser las die Namen – lächelte verbindlich – zog die Achseln bis an die Ohrläppchen: »Bedauere sehr – völlig unbekannt!«

»Denn machen Schkandal ick hia – wie ihn sich noch keena in diese heiljen Hallen zu machen jetraut hat!«

Wieder zog der Portier die Achseln in die Höhe, schien jetzt aber über die eigentliche Nationalität Onkel Karls keine Zweifel mehr zu haben, denn er bediente sich nun auch dessen Sprechweise: »Ick weeß von nischt« – erklärte er.

»Denn werd' ick Sie mal 'n bißken uff die Springe helfen«, sagte Onkel und beschrieb seine Nichte Lieschen und deren Entführer. Der Portier hörte – mit der Linken sein Kinn umspannend – jetzt völlig gelassen und gleichmütig zu und sagte, als Onkel geendet: »Ick weiß schon, wen der Herr meinen – die Herrschaften sind aber heute Mittag bereits abgereist!«

Onkel faßte in die Westentasche, nahm ein Fünfmarkstück und reichte es schweigend dem Portier hin. Dieser bewahrte seine vornehme Ruhe, nur das linke Auge kniff er ein wenig ein und sagte, die Stimme dämpfend: »Ich danke verbindlichst, mein Herr! Vielleicht ist Ihnen damit gedient, wenn ich Ihnen sage, daß alle für Herrn de Pikato bestimmten Briefe nach Potsdam, Villa Luisana, in der Alsenstraße, nachgeschickt werden sollen!«

»Aba – Männekin – det jeniejt doch« – sagte Onkel und tippte dem Portier mit dem Zeigefinger auf die Stirn – »wa'm haben Se'n det nich jleich jesagt – Se sind doch keen Automate nich, det man erst imma wat rinstecken muß, bis wat rauskommt! Da missen Se aba erst wie Nulpe tun – waat – anders jeht's woll nich?«

Und wütend machte er kehrt, holte mit der Reitpeitsche aus, als wolle er dem beseitespringenden Groom eins aufbrennen, peitschte dann aber nur – wie ein zorniger Löwe – seine Flanken und ging auf die Straße.

»Fahren Se za Hause – bestellen Se bei Lemkes: Ick muß weita – ick hab' die Spur jefunden und uffjenommen – vastanden!« sagte er zu dem Chauffeur – beobachtete noch einen Augenblick, wie das Auto wendete und abfuhr und schritt dann hinüber zum Bahnhof, wo er ein Billett II. Klasse nach Potsdam nahm.

Als er dann – vornehm in die Polster zurückgelegt – ganz allein in seinem Abteil abgefahren war, kamen ihm, ganz gegen seine Art, allerlei Bedenken. Er begriff, daß seine Aufgabe diesmal nicht leicht sei, hoffte dann aber auf den Zufall, der ihm helfen würde, und stärkte sich, als er in Potsdam angekommen, am Bahnhofsbüfett durch ein gutes Glas Portwein.

Und nun schritt er, von einer angenehmen Wärme durchrieselt, über das holprige Pflaster, kam in die altmodischen, kleinen Straßen, ging an langen, düsteren Kasernengebäuden mit martialischen Wachtposten vorüber, mußte an dieser und jener Ecke Erkundigungen nach der »Villa Luisana« einziehen und gelangte schließlich in eine vornehme, stille Seitenstraße mit tot und einsam liegenden Villen. Dann stand er an dem schmiedeeisernen Gitter eines großen Vorgartens, entdeckte unter Baumkronen und von Büschen und Gesträuch verborgen ein hübsches, kleines Haus mit einer Säulenvorhalle und zog nun den dicken, runden Messingknopf der Klingel.

Er hörte es auch läuten, aber alles blieb still, niemand zeigte sich, nichts regte sich in dem Hause. Als er dann aber gegen die Gittertür drückte, gab diese nach – war vielleicht unbemerkt eben erst aufgesprungen oder auch nur angelehnt gewesen – und so trat er entschlossen ein, ging über den raschelnden Kies des Weges und stand vor der Haustür. Sein Anklopfen blieb völlig unbeachtet, als er aber auf die Klinke drückte, öffnete sich auch diese Tür, und Onkel betrat den Flur, der von einer blauen Ampel an der Decke matt erleuchtet wurde.

»Na – na, wenn det man nich 'ne Falle is,« dachte Onkel Karl, »det kommt mia doch allet höchst vadechtij vor, wenn ick bloß nich hia irjendwo in 'ne Vasenkung stirze – denn bin ick wej, keen Mensch weeß, wo ick jeblieben bin!«

Und dann stampfte er mit dem Stiefelabsatz auf und schrie halblaut: »Wirtschaft – hia is eena!«

»Wie det hallt,« dachte er beunruhigt, »a's wenn ick in eene Jruft jeraten bin, aba et missen hia doch Menschen drinne sind, sonst könnte die Lampe doch nich brennen – et is doch keene ew'je nich!«

»Wenn jetz nich jleich eena kommt, denn schieß ick« – kündigte er an und nahm seine Pistole vor.

Aber auch diese Drohung verhallte völlig unbeachtet.

Onkel Karl schüttelte unangenehm berührt den Kopf. »O du vaflixtet und vafluchtet – wo bin ick denn hia hinjeraten – wat is denn det for eene Jeistabude!« Und dann kommandiert er: »Kommt man vor – ick seh eich ja doch!«

Als auch das nichts half, klinkte er die nächste der stummen, geheimnisvollen Türen auf und stieß sie zurück. Krachend flog sie irgendwo an – ein dunkler Raum zeigte sich, und als Onkel mit einem Streichholz hineinleuchtete, sah er, daß es ein luxuriös ausgestatteter Salon war.

Auch der zweite Raum, den er dann öffnete, war dunkel, verlassen und still. »Det Speisezimma« – orientierte er sich – »hia fressen die Jeista drinne!«

Als er, mit vorgehaltener Pistole, die dritte Tür aufstieß, blickte er in ein langes, schmales Zimmer mit großen Schränken an den Wänden. Auf einem Tisch brannte eine Petroleumlampe, daneben lag ein halbfertiger Strickstrumpf und ein roter Wollknäuel.

Es sah aus, als wenn da jemand gesessen, aber eben aufgestanden und hinausgegangen wäre. Da aber keine Tür in ein Nebenzimmer führte, blieb die Geschichte etwas rätselhaft. Onkel Karl ging hinein und fühlte den Stuhl an, ob er noch warm sei – aber der Sitz war kalt.

»Allmählij jraule ick mia hia ooch – aba det is doch een janz solida Strump for een menschlijet Been«, beruhigte er sich. »Na – nu werd' ick ja sehen, wat hinta die vierte Dimension is!«

Als er die letzte Tür öffnete, sah er zu seiner Beruhigung, daß hier ebenfalls eine Lampe brannte, doch war auch hier, in dem hübsch und behaglich ausgestatteten Wohnzimmer, kein menschliches Wesen zu erblicken. Als er eintrat, um durch das Zimmer nach der nächsten Tür zu gehen, hörte er aber plötzlich draußen im Korridor ein verdächtiges Geräusch.

Er blieb atemlos stehen und lauschte: Langsame Schritte – ein Schlurfen auf den Steinfliesen, und dann ging da – ohne nach rechts und links zu sehen – ein altes, verhutzeltes Frauchen vorüber, dessen kümmerliche Gestalt von einem großen Umschlagetuch verhüllt war.

Onkel Karl brach der Schweiß aus allen Poren. »Det war Lemkes selje Witwe – nu bin ick valoren – alle juten Jeister loben Jott den Herrn – Hokuspokus Fidibus – Himmel – Kreiz und Hölle!«

Andere Beschwörungsformeln fielen ihm in seinem ersten Schreck nicht ein. Dann aber ermannte er sich und schlich auf den Zehenspitzen – den Atem angehalten – an die Tür, um zu sehen, wo der Geist geblieben war. Eben wollte das Umschlagetuch in dem Schrankzimmer verschwinden, da rief Onkel, obwohl ihm die Zunge fast versagte:

»Pssst – Sie – Jeist!«

Und als dies keine Wirkung hatte – etwas lauter:

»Lemkes selje Witwe – Stamm-Mutta??!«

Das Umschlagetuch verharrte plötzlich regungslos, dann wandte es sich langsam um, und Onkel Karl sah in ein uraltes, verrunzeltes Gesicht, in dem aber zwei sehr scharfe, helle Augen saßen, die sich fest und forschend auf ihn richteten.

Onkel Karl, der die Pistole hinter dem Rücken verbarg, machte unwillkürlich eine Verbeugung: »Jestatten Se, det ick mia vorstelle – ick bin ooch eena aus die beriehmte Familje, wenn man ooch bloß anjeheirat't – Onkel Karrel – ick bin der, den den Patentkitt afunden hat!«

Die Alte kam plötzlich auf ihn zu, und dann – drei Schritte von ihm ab – fragte sie in einem sehr scharfen, bösen Ton: »Wie kommen Sie hier herein – was wollen Sie hier?«

»Ick suche unse Liesken« – sagte Onkel Karl trotzig – »wenn ick jeahnt, det Sie ihr pasönlich beistehen, hätt' ick mia ja nich die janze Miehe jemacht!«

»Wen suchen Sie?« Die Alte war noch näher gekommen.

»Herrjott – unse Liesken – die durchjebrannte junge Frau Zillmann – wie jesajt, ick bin der Onkel ...« Dabei wich er aber unwillkürlich etwas zurück, denn die Raubvogelvisage – trotzdem die Alte nun wohl doch nichts mit Lemkes sel. Wwe. zu tun hatte – wurde ihm immer unheimlicher.

»Wer sagt Ihnen denn, daß die hier sein soll?«

»Meen Instinkt!«

Die Alte überlegte. Dann winkte sie ihm, wies in das Schrankzimmer und sagte: »Warten Sie mal hier!«

»Nee« – sagte Onkel Karl, »da jeh' ick nich rin, det hat ja keenen Ausjang nich. Wer weeß, wie ville Jerippe da schon in die Spinde stehen von Leite, die Sie da injespunnt haben!«

Die Alte sah ihn verächtlich an. »Dann warten Sie also hier – ich komme gleich wieder!«

»Wenn nich – denn demoliere ick det Haus.«

Sie ging an ihm vorbei in das Zimmer, das er zuletzt betreten hatte und verschwand durch eine Seitentür. Onkel Karl steckte die Pistole in die Tasche, hielt aber den Griff umspannt.

Einige Minuten vergingen – es war so still, daß er die Lampenflammen singen hörte. Dann fiel ein Schatten auf die Wand – die Alte erschien – winkte ihm und sagte sehr höflich: »Darf ich bitten – hier geht es lang!«


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