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III. Im Seebad Wilmersdorf

Während Tante Liese ihre Meinung äußerte, daß es »mit die sojenannten Heiratannongse man so so sei« und Onkel August nicht begriff, warum Lieschens Bruder, Edwin, keinen seiner Freunde, unter denen doch gewiß einer wäre, als Heiratskandidaten ins Haus brächte, während dieses Thema etwas umständlich behandelt wurde, hatte Onkel Karl längst seine rote Badehose zusammengerollt, das »Rubbelhandtuch« genommen und war auf dem Wege nach der Badeanstalt in Wilmersdorf.

Er ging langsam und behaglich und benutzte die Gelegenheit, sich von den baulichen Veränderungen hier draußen zu überzeugen. Dieses Interesse rührte noch aus der Zeit her, da er – wie er mit Stolz zu sagen pflegte – »selba jebaut, et aba wieda uffjejeben hatte. Warum? Weil man als Wirt zu ville Scheererei hat« – pflegte er stets hinzuzusetzen. Seit Großvaters Tod hatte er sich übrigens den Titel »Vizewirt« zugelegt, da ihn Herr Lemke mit den polizeilichen An- und Abmeldungen der Mieter betraut und ihm auch hin und wieder in kleinen Angelegenheiten Vollmacht erteilt hatte. »Und dieser Titel jeniejt mia,« versicherte er oftmals, »ick jehöre, Jott sei Dank, nicht zu die Leite, die for sonne Eißalichkeiten sind!«

Die Inspizierung, die er vornahm, ließ an Gründlichkeit nichts zu wünschen übrig. Schon wenn er in der Potsdamer Straße aus der Tür trat, ging er stets erst hinüber auf die andere Straßenseite und musterte das Lemkesche Haus, als wollte er sehen, ob es gegen die Neubauten ringsum auch noch standhalten könnte.

Und es hielt stand, nicht nur wegen des schönen braunen Anstrichs, den Herr Lemke auf Onkel Karls Veranlassung im Frühjahr hatte machen lassen, sondern weil es von solider, tüchtiger Bauart war – man sah sofort, daß kein Stuck, kein künstlicher Marmor blenden sollte, selbst wenn es mit seinen beiden kleinen Vorgärten gegen die neuen Mietskasernen etwas altmodisch auf den ersten Blick anmutete.

Diese stattlichen Neubauten ringsum pflegte Onkel Karl verächtlich zu behandeln, er verglich sie mit »Sechsdreiajeijen von'n Weihnachtsmarcht. Wenn man se anfaßt, bleibt een' der Lack an die Poten kleben!«

Und wenn er dann weiterging, sah er mit sehr kritischen Blicken die Veränderungen an, die im Laufe der letzten Jahre hier draußen, im Westen Berlins, entstanden. Nur an stillen Sonntagsnachmittagen hörte er jetzt noch die Glocken der Zwölfapostelkirche bis nach der Potsdamer Straße dringen, auch der Pfiff der Lokomotiven von dem Bahnkörper in der Dennewitzstraße war nur in Sommernächten, wenn die Fenster offenstanden, noch vernehmbar. Die Häusermauern fingen ihn auf, die Bülowstraße war ja nun schon längst bis zur Yorkstraße bebaut und vom Nollendorfplatz – zu des »ollen Lemkes« Zeiten noch ein Müll- und Schuttabladeplatz – zog sich jetzt mit ihren eleganten, stattlichen Gebäuden die Kleiststraße als Fortsetzung der Bülowpromenade.

Wie oft hatte er hier gestanden und zugesehen, wenn der rote Sonnenball hinter dem Joachimsthalschen Gymnasium verschwand und der westliche Himmel sich dann langsam mit fahlem Gelb färbte. Nun war die freie Aussicht über die Schöneberger Wiesen verbaut, wenn sich auch hinter den vier- und fünfstöckigen Mietskasernen noch Reste der Wiesenflächen mit verkümmerten alten Weidenbäumen befanden.

Onkel Karl stampfte weiter, endlich kam er doch noch auf freies Terrain. Dort drüben lag die »rote Villa«, die man sonst schon von weitem einsam im Wiesengrün gesehen, ein Stückchen weiter, und er kam auf die Kaiser-Allee, und nun ging es geradeaus unter dem schattigen Blätterdach der Bäume nach dem großen Gartenetablissement am Wilmersdorfer See. Er schlug den kürzeren, etwas sumpfigen Weg durch das Erlenwäldchen ein, roch schon von weitem mit Behagen den eigentümlichen Brettergeruch, den der Wind von den Holzgebäuden der Badeanstalt herübertrug und lauschte auf das laute, taktmäßige Zählen der Schwimmeister.

»A–ins – zweidrei! A–ins – zweidrei!«

Vorn am Eingang ließ er seine Passepartoutkarte abknipsen, nickte dem »Oberschwimmeister« vertraulich zu und erhielt auch trotz des großen Andrangs eine freie Zelle, in der er sich auskleiden konnte.

Dann erschien er, die rote Badehose prall am Leibe, inmitten des Gewimmels und kühlte sich als vorsichtiger Mann erst durch eine Promenade in den Gängen der Badeanstalt ab. Trotzdem alle eigentlich mit sich selbst beschäftigt waren – »erstens wejen die Reenlichkeit und zweetens wejen det Vajniejen –«, wie Onkel Karl dachte, begann er doch bald die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Leute, die eben noch – wenigstens nach ihrer Ansicht, mit voller Berechtigung gespuckt und geschrien, Horden von Jungen, die im Chor einen ohrenbetäubenden Lärm vollführt hatten, wurden plötzlich stumm und sahen verblüfft hinter Onkel Karl her. Ja, ein kleiner Knabe, der eben die Absicht hatte, mit einem Stück Seife ins Bassin zu steigen und sich dort, trotzdem es verboten war, gründlich abzuseifen, warf bei Onkel Karls Näherkommen ängstlich das Stück Seife ins Wasser und wurde dafür, weil sich die Oberfläche nun trübe färbte, von seinen Freunden später gelyncht.

Dieses außerordentliche Aufsehen, an das Onkel Karl übrigens gewöhnt zu sein schien und das er daher mit großer Gelassenheit ertrug, verdankte er der etwas unheimlich anmutenden Tätowierung auf seinem Oberarm – einer Schlange, die von einem Pfeil durchbohrt wurde –, aber mehr wohl noch dem Totenkopf, der in natürlicher Größe als Embleme auf der Kehrseite seiner Badehose eingestickt war, und der bei jeder Bewegung Onkel Karls höhnisch zu grinsen schien.

Es konnte nicht ausbleiben, daß man Onkel für den Favoriten der Badeanstalt hielt, dessen Erscheinen stets das Ereignis des Tages bildet, den zu grüßen sich jeder als Ehre anrechnet. So hatte er bald einen großen Schweif von Bewunderern hinter sich, die mit heimlichem Grauen den Totenkopf betrachteten und sich allerlei Geschichten von dem Träger dieses fürchterlichen Abzeichens zuflüsterten: Er sollte angeblich früher »bei die Totenkopphusaren jestanden haben«, wenn er ins Wasser gehe, das Sprungbrett verachten und sich immer vom »Turm« kopfüber in die Flut stürzen. Ein anderer wußte, daß Onkel Karl vorzüglich tauchen könne und selbst ein ins Wasser geworfenes Hemdenknöpfchen unfehlbar vom Grunde des Sees wieder heraufbringe. Und ein anderer konnte sich gar erinnern, daß er im vorigen Jahr einmal gesehen, wie der »Totenkoppträjer« im vollen Anzug, dessen Taschen noch dazu mit Steinen gefüllt waren, eine halbe Stunde lang geschwommen und dadurch glänzend eine große Wette gewonnen habe.

Die Erwartung war daher aufs höchste gespannt, als sich Onkel Karl gemessen nach jener Abteilung des Bades begab, an der man das Schwimmen sportmäßig betrieb. Wer sich ausgezogen, trat hier ohne Zittern und Bibbern, ruhig und sicher auf die Spitze des Sprungbrettes, wippte prüfend ein paarmal, hob die Arme und stürzte sich dann entschlossen in das aufspritzende Wasser. Beim Auftauchen zeigten sich alle als tüchtige Schwimmer, die, weit ausholend, mit kräftigen Stößen den See durchmaßen.

Onkel Karls Erscheinen wurde hier mit etwas ehrfurchtsvollem Mißtrauen begrüßt, aber er erwarb sich bald aller Sympathie, als er mit anerkennendem Kopfnicken Kritik zu üben begann, einige elegante Bewegungen der Schwimmer unverhohlen lobte und diese dadurch zum höchsten Wetteifer anstachelte. Aus dem, was Onkel sagte, entnahm man sogar, daß er – besser noch als der Oberschwimmeister selbst – dieses und jenes schwierige Kunststück fertigbringe.

Zu aller Überraschung machte aber Onkel Karl – den eine Gänsehaut überschauert hatte – plötzlich kehrt und ging ein bißchen eilig vorn nach dem Eingang in die Zelle des Bademeisters. Die Neugierigen, die hinter ihm hergelaufen waren, harrten geduldig auf sein Wiederkommen und ergingen sich in den kühnsten Mutmaßungen. Als er dann endlich erschien, sahen sie zu ihrer Überraschung einen geheimnisvollen Apparat auf seinem Rücken befestigt: Onkel trug – mit Riemen wie einen Tornister umgeschnallt – ein paar ungeheuere, offenbar leere Konservenbüchsen, die rechts und links von je drei Schweinsblasen flankiert waren. Auch hinten, gerade über dem Totenkopfembleme, war eine extra große Schweinsblase an der Badehose befestigt, und in beiden Händen trug er ein paar mit Korken vollgestopfte Fischnetze.

Etwas Außerordentliches war nach diesen außerordentlichen Vorbereitungen zu erwarten; die Bewegung pflanzte sich durch die ganze Anstalt fort, und selbst Leute, die sich gerade erst ausgezogen oder noch beim Ankleiden waren, kamen aus ihren Zellen gestürzt, um Zeugen des Schauspiels zu werden.

Mit prüfenden Blicken ging Onkel Karl den Gang entlang. Plötzlich machte er halt und schnallte die Fischnetze an die Füße. »Wenn ick se mia nehmlich jleich anmache, kann ick nich loofen«, erklärte er, aufsehend, den Umstehenden. Man fand das begreiflich, war aber einigermaßen überrascht, als er die Treppe zu dem Kinderbassin hinabstieg, die große Zehe vorsichtig ins Wasser steckte, ein wenig plätscherte und dann mit den naßgemachten Händen behutsam die Herzgegend und die Schulterhöhlen anfeuchtete.

Und dann glitt er plötzlich – ganz sanft und still – ins Wasser, steckte den Kopf ein wenig hinein und tauchte mit einem Gesicht auf, das für seine Leistung Staunen und Bewunderung heischte. Da er aber ringsum nur starre und verblüffte Mienen sah, begann er, wie ein Ungeheuer zwischen Gnomen, von den Schweinsblasen und Konservenbüchsen getragen, langsam zu paddeln, spuckte wie ein Delphin kräftig nach rechts und links und schrie, wenn ihm die Jungen nicht rasch genug auswichen: »Platz da – Bahne frei!«

Noch immer standen die Zuschauer da oben Kopf an Kopf und warteten auf die Weiterentwicklung der Dinge. Onkel Karl, der zu ahnen schien, daß man eine Erklärung von ihm fordere, suchte sich aufzurichten, aber die Korke rissen seine Beine immer wieder empor. Da steuerte er entschlossen der Treppe zu, bekam, indem er die Beine dort festklammerte, Grund unter die Füße, hob – wie einen Schwanz – die Schweinsblase über Wasser, das das Embleme wieder sichtbar wurde, und gab die nach seiner Meinung nötige Erklärung ab: »Die Konservenbicksen haick mia umjeschnallt, weil mia neilich een paar Lausejungs die Schweinsblasen uffjepiekt hatten, det ick benahe atrunken wär! Seitdem jeh ick ooch nich mehr in det Bassäng von die Jroßen, die Jeschichte is mia doch zu jefährlich. Diesen Apparat, den ick schonst zut Patentieren anjemeldet, is ibrijens so sicha, det man mit üban Equator schwimmen kann!«

Nach dieser Erklärung glitt Onkel Karl, gleichsam, um den Schwimmapparat allen Interessenten praktisch vorzuführen, wieder ins Wasser, unbekümmert um den Tumult, der sich erhob. Es tat ihm auch nichts, daß man ihm »Nauke, Fatzke, Domino!« zurief, denn unter hämischen Neidern hatten seit Bestehen der Welt alle großen Erfinder zu leiden gehabt.

Übrigens sah er mit Befriedigung, wie seine durch reichliche Zigarrenspenden gewonnenen Freunde, die Schwimmmeister, Ruhe und Ordnung zu schaffen versuchten. Unbequem wurde ihm nur das Rudel Jungen, das ihm im Wasser das Geleit gab, auf den Konservenbüchsen die Melodie »Du bist verrückt, mein Kind« zu trommeln versuchte und ihn dadurch zwang, hinter den Attentätern herzujagen. Wenn er dann aber wirklich einen erwischt hatte und ihn zur Strafe tauchen wollte, setzten sich auf jeder Seite gleich drei oder vier auf seine Büchsen, bis dann – unter entsetzlichem Hallo – der ganze Knäul unterging.

Schließlich machte der Oberschwimmeister dem Spektakel ein Ende, winkte Onkel energisch an die Treppe und gab ihm mit den andern Schwimmlehrern sicheres Geleite bis in seine Zelle.

»Sontajs derfen Se so wat doch nich machen – wochentags, frieh um sechse, will ick nischt jejen sajen«, bemerkte er ein wenig ärgerlich.

»Nee, Sonntags is det keen Baden nich,« stimmte ihm Onkel Karl bereitwillig zu, »die scheene Blase hinten haben se mia wa'haftij abgerissen!«

»Seien Se froh, det Se keene Keile jekriejt haben,« sagte der eine Schwimmeister, »Se sollten doch lieba rejelrecht schwimmen lernen.«

»Wozu ha'ick det netij mit meen Patentapparat, ooch noch in meene Jahre wie son Fisch an die Angel zappeln und mia abquelen – nich in die Lameng!«

Und dann, nachdem er eine Handvoll Zigarren hinausgereicht, verschwand er in seiner Zelle, rieb sich tüchtig ab, frisierte sich und kam nachher, kaum erkannt, als respektabler Herr zum Vorschein.

Da ihn ein wenig fröstelte, beschloß er, im Saal des Etablissements am Büfett einen Kognak zu trinken und begab sich, wohlgemut seinen Spazierstock schwingend, dorthin.


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