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XIX. Das falsche Gebiß im Strandkorb

Tag für Tag, eine ganze Woche lang, sah man dann Frau Lemke, wie sie mit einem Feuerhaken den feinen, weißen Dünensand nach dem verlorenen Gebiß durchwühlte, während Edwin und Fräulein Lieschen sie wie Schweißhunde umkreisten und die Unglücksstelle Schritt für Schritt absuchten.

Der Feuereifer, mit dem sie diese Nachforschungen betrieben, erkaltete jedoch allmählich, und Edwin war der erste, der die Ansicht äußerte: »Det is for imma wej, det kriejen wia nich wieder!«

»Such du man, sei nicht so faul«, hatte Frau Lemke zuerst gesagt, schließlich aber gestand sie dann ebenfalls: »Nu jeb' ick's ooch uff – det is wirklich wej!«

Weder Herr Lemke noch Onkel Karl hatten an diesen Nachforschungen teilgenommen. Jeder von ihnen hielt sich abgesondert, denn sie waren, wie Onkel Karl dem Pensionsinhaber erzählte, »allesamt mit eenanda vakracht«.

Bei Tagesgrauen pflegte Onkel schon aufzustehen und geheimnisvolle Expeditionen auf der Insel zu machen, von denen er meistens erst in den Abendstunden zurückkehrte. Herr Lemke dagegen saß mit Vorliebe in der Laube des kleinen Vorgartens und erzählte, zum größten Ärger seiner Frau, allen, die es hören wollten, daß er früher ebenfalls Gastwirt gewesen sei und sich »von kleenuff 'ruffjearbeet't« habe. »Ick bin frieha den janzen Taj barfbeenig und in Hemdsärmel 'rumjeloofen und hab' mia vor keene Arbeet nich jescheit –« schloß er dann jedesmal mit großer Befriedigung.

Als Frau Lemke davon gehört, hatte sie ihn ärgerlich angefahren: »Det broochste doch nich jeden uff die Neese zu binden, so wat azehlt man doch nich!«

»Laß mia,« hatte er störrisch gesagt, »ick jehöre nich zu die Leite, die imma mehr sind wollen, a's sie sind!«

»Von meenswejen mach', watte wi'st, et is nua wejen die Kinna –« hatte Frau Lemke erwidert. Nach der Abreise des Herrn Fiedler hatte sie die Aufsicht übernommen und ließ Edwin und Lieschen nicht mehr aus den Augen. Trotz ihres Widerstrebens mußten beide mit ihr täglich stundenlang in der Strandburg sitzen und sich nützlich beschäftigen. Namentlich Fräulein Lieschens Erziehung hatte sie mit aller Strenge in die Hand genommen. »Bei Edwin vasteh' ick's ja, det is 'n Junge – aba det du – een Meechen, uff sonne Abweje kommen kannst, is mia reene unvaständlich! Ick seh' det ja allet voraus mit dia, du wi'st mia noch ville Kumma machen, du hast wat, det janz aus die Art jeschlajen is!«

Und da Fräulein Lieschen weder häkeln noch sticken wollte, mußte sie die Briefe beantworten, die Tante Marie aus Berlin schrieb. Die Nachrichten, die heute früh eingetroffen, waren nicht gerade erfreulich gewesen.

»Lies den Satz noch 'mal vor,« sagte Frau Lemke, »wat schreibt sie da von die Selje?«

Und Lieschen entzifferte mühsam die Krakel, die Tante Marie aufs Papier gemalt hatte: »Es is wieder mal nich geheuer, ich hab' wieder von grüne Bohnen geträumt, was imma ein Unglück is. Und den nächsten Tag hab' ich die Schnauze von den feinen Milchtopf abgeschlagen, wodrüber ich mir so sehr geärgert habe, daß Großvater einen neuen gekauft hat. Und dann haben wir beide die Selje gesehen, und Richters aus den 2. Stock haben zu Oktober gekündigt, weil sie sagen, es ist ein Spukhaus, was ich sie nich verdenken kann.«

»Et wird wahrhaftij Zeit, det wia nach Hause kommen,« sagte Frau Lemke, »det scheint ja da wieda mal scheen zuzujehen! Schreib' ihr also: ›Liebe Tante!‹ Haste liebe Tante?«

»Die Überschrift hab' ich doch schon vorhin gemacht«, sagte Lieschen mürrisch.

»Jib mia nich imma so kratzbürschtje Antworten. Denn schreib also weiter: Det Wetta is hia sehr scheen ...«

»So haben wir doch neulich ooch angefangen«, widersetzte Lieschen.

»Denn saj doch wat Besseret, wozu jehsten in die Höhere Töchtaschule«, fuhr Frau Lemke ihr Töchterchen an. »Mit ick derfste jedenfalls nich anfangen, det is unschicklich!«

»Denn soll Edwin ooch mal wat sajen«, suchte Lieschen abzulenken.

»Ick kann nur mit Ich«, sagte Edwin verdrießlich und drehte sich auf die andere Seite, um auch diese von der Sonne braunbrennen zu lassen.

»Nich mal den eenfachsten Brief könnt ihr schreiben,« seufzte Frau Lemke, »da ha'ick doch wahaftij mehr jelernt in die Jemeindeschule. Also, nu werd' ick dia diktieren und nu schreibste und red'st mia nich mehr zwischen. Hinta die Ibaschrift machste 'ne neie Zeile und denn fängste jroß an: ›Du derfst abends nich mehr so ville Katoffelsalat essen, denn wenn du den jejessen hast, ascheint dia allemal die Selje, Ausrufungszeichen. Et kommt aus den Majen ...«

»So schnell kann ick doch nich«, unterbrach Lieschen.

»Denn laß, scheer dia in die Pangsjon, denn werd' ick mia meene Briefe alleene schreiben, unjezojenet Meechen du,« sagte Frau Lemke, »jib den Briefbogen her und mach', dette wejkommst, ick will dia nich mehr sehen, treib dia 'rum, mit wen du wi'st!«

Lieschen nahm ihren Sonnenschirm und verschwand – man merkte ihr an, daß sie auf jede Erwiderung verzichtete, um nur ja recht schnell fortzukommen und der Mutter keinen Anlaß zu geben, sie etwa wieder zurückzuhalten.

»Ick möchte wissen, nach wen die is –« sagte Frau Lemke bekümmert, und dann wandte sie sich zu Edwin: »Komm, meen Sohn, schreib du hia weita.«

»Mutta, ick lieje jrade so scheen –« sagte Edwin.

»Det is doch keen Jrund nich, dette uffstehst und tust, wat ick dia saje –« fuhr Frau Lemke auf, »wat sind denn det for Widasetzlichkeeten!«

»Mutta, du machst aba ooch mit jeden Krach«, sagte Edwin, mürrisch aufstehend. Er begriff plötzlich, daß Lieschen es sehr schlau angefangen hatte, hier fortzukommen, und versuchte nun, dieselbe Taktik einzuschlagen.

Frau Lemke sah ihren Sprößling mit gemischten Gefühlen an: »Du bist der richtje Lullatsch jeworden, Edwin! Wenn ick mia in deen Alta sonne Frechheiten jejen meene Mutta alobt, denn hätte sie mia zastückelt. Loof man schon, du wi'st ja bloß deene Schwesta nach, wa'm soll ick dia denn da erst die Frechheiten uff die Spitze treiben lassen!«

Auch Edwin machte von der Erlaubnis, verschwinden zu können, sofort freudig Gebrauch, und völlig vereinsamt blieb Frau Lemke in ihrem Strandkorb zurück.

Die See rauschte, die Möwen schrien, und die Fahnen und Flaggen knatterten im Winde.

»Uff die Daua is det unaträjlich – wat macht man denn bloß noch, det die Woche rumjeht – frieha kann man doch nich jut za Hause kommen, se lachen een'n ja sonst aus und denken, det Jeld hat nich jelangt« – überlegte Frau Lemke. »Na, eenmal und nich wieda, mia bringen keene zehn Ferde mehr von za Hause wej! Uff sonnen Reisereien jeht ja allet zu Jrunde – alle Jefiehle fors Familienleben, ibahaupt allens – die teiern Sachen und die scheenen Stiebel, und mia muß et denn ooch noch passieren, det ick sojar det Jebiß loswerde. Im Jrunde jenommen bin ick froh, det's wej is – wat ha'ick wejen det Biest for Ärjer jehabt.« – – –

Auch in Onkel Karl, der mit seinem Ölzeug angetan einsam am Strande dahinzog, gärte es vor Ärger. Als er sich heute morgen die Strümpfe angezogen, hatte er sich plötzlich des merkwürdigen Traumes in der Nacht erinnert. »Et kann doch janischt an'ners jewesen sind, a's een riesija Tintenfisch«, überlegte er. Je länger er jedoch über die Traumerscheinung nachgrübelte, desto unsicherer wurde er, und schließlich kam er zu der festen Überzeugung, von Lemkes seliger Witwe geträumt zu haben.

»Een Tintenfisch kann doch nicht flennen,« kalkulierte er, »det Jestell, wat sich da uff meene Kommode jesetzt, hat doch aba Rotzblasen jeweent, jroße und kleene, und sojar Schlorrendorfers jemacht – also muß et doch wat Menschlijet jewesen sind, denn det bringt doch keen Tia nich fertij. Und in die an'nere Flosse hat's ooch wat jehalten wie son Wappenadleer den Krönungsappel, bloß dettet weiß war.«

Dieser Traum, der Onkel Karl als günstiges Vorzeichen erschienen war, hatte ihn noch einmal veranlaßt, auf die Seehundsjagd zu gehen, von der er jetzt, völlig entmutigt und enttäuscht, zurückkehrte.

Oben, von der Düne, klang fröhliches Kindergeschrei. »Wat hat denn die Lausebande, die sind ja wie doll und varrickt,« dachte er, neugierig werdend, »wenn die hia nich tajtäjlich von friehen Morjen bis uff'n speten Abend so brillten, wirden die Seehunde schon an't Ufa kommen!«

Bei Onkel Karls Annäherung ergriffen die Kinder jedoch, wie gewöhnlich, die Flucht – nur ein Junge zögerte noch einen Augenblick – es sah sogar aus, als wollte er näher kommen und Onkel etwas überreichen. Plötzlich besann er sich aber, warf das Etwas, das er in der ausgestreckten Hand gehalten, die Düne hinunter und jagte ebenfalls davon.

Oben, am Abhang, stand Onkel Karl und sichtete den geheimnisvollen Gegenstand lange Zeit durch das Fernrohr.

»Wenn det nich den falschen Jebiß seen falschet Jebiß is, denn will ick Nauke heeßen« – dachte er. Und dann nahm er seine Harpune, kniff das linke Auge ein, zielte bedächtig – »denn ick kann mia ja Zeit lassen, et looft mia ja nich wej« – und schleuderte die Harpune ab.

»Schade, det keener jesehen, wie det Ding funkschoniert hat,« dachte er befriedigt, rollte vorsichtig die Leine auf und zog mit dem Widerhaken das Gebiß näher. »Nu ha'ick dia, konnste nich 'n Seehund sind!« Und dann setzte er sich in eine windgeschützte Vertiefung und begann das Gebiß sorgfältig zu untersuchen. »Erst 'ma reene machen,« dachte er, »denn det sieht ja dolle aus«, faßte nach seinem Schnupftuch, spuckte das Gebiß an und polierte es mit dem Tuche. Ein paar Zähne wurden dabei locker, da Onkel Karl aber stets ein Fläschchen des selbsterfundenen Patentkittes bei sich führte, machte er sie wieder fest.

»So – nun jlänzt's wieda und sieht wie nei aus, bloß et is 'n bisken schräg jeworden, denn muß sie eben den Mund uff die eene Seite imma 'n bisken jrößer uffmachen« – überlegte er nach dem vergeblichen Versuch, das Gebiß wieder grade zu klopfen, »die richtje Fassong hatte et ja ooch schonst vorher valoren, wer weeß, wat die Lausejungs schon allet mit det Dings anjestellt haben!«

Dann riß er einen Zettel aus seinem Notizbuch und schrieb eine Rechnung: »Finderlohn für ein falsches Gebiß 2 Taler. Gereinigt, poliert und zurecht gebogen 5 Silbergroschen. Zwei Zähne eingekittet à 7½ Silbergroschen = 15 Silbergroschen. Dazu für Abtragengehen sechs Dreier. Summa fünf Taler, zwanzig Silbergroschen und sechs Dreier.«

»For umsonst is nich mal der Tot,« sagte er, »und wenn die behauptet, ick laß mia bloß Schweijejelda zahlen, denn wird sie ja nu sehen, dettet nich stimmt. Se soll man bloß een' Ton sajen, det ihr det zu teia is, denn rech'n ick sie for Benutzung von die Hapuhne noch extra fimf Jroschen an. Et is woll det Beste, wenn ick sie die Rechnung jleich selba vorleje und um jefälljen Ausjleich bitte!«

Als Onkel Karl aber nach der »Lemkeburg« kam, fand er sie völlig vereinsamt. »Na – se muß ja doch wieda kommen,« dachte er, »da liejt ja noch allerhand, denn werd' ick's man beilejen.«

Und da lag nun das falsche Gebiß im Strandkorb und die – mit einer Stecknadel angeheftete Rechnung – flatterte melancholisch im Winde.

Onkel Karl aber rieb sich die Hände im Sande ab und ging befriedigt nach Hause, denn er sagte sich, daß der Tag nun doch nicht ganz verloren sei.

Im Vorgarten saß Herr Lemke, wandte sich aber ab, als er Onkel Karl kommen sah. Der räusperte sich und hustete. Als Herr Lemke sich aber nicht rührte, sagte Onkel: »Na, denn nich, denn läßtet sind. Broochst dia aba janich so dicke zu tun. Wennste denkst, det ick wieda mit dir anfangen will, denn irrste dia. Ick wollte dia man bloß sajen, det in den Strandkorb 'n Sticke von deene Olle liejt! Ick hab' et harpuniert!«


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