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XIII. Der blaue Amtsrichter

Trotz aller Hoffnungsfreudigkeit, die Onkel Karl beseelte, hatte die Unterredung mit Frau Lemke doch einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht und ein paar Tage später war er dann in aller Frühe schon aufgestanden, hatte sich eine Droschke genommen und war zu Tante Marie nach dem Schlesischen Bahnhof gefahren.

Er war sehr erstaunt, als er dann sah, welchen Aufschwung Herrn Krauses Zigarrengeschäft in den letzten Jahren genommen. Tante Marie hatte freilich schon erzählt, daß ihr Mann jetzt, statt des kleinen, kümmerlichen Ladens, ein neues, großes Eckgeschäft gemietet, aber er hatte geglaubt, daß sie ein bißchen übertrieben. Nun betrachtete er kopfschüttelnd das große Schaufenster, in dem zwar – allerdings ein wenig versteckt – der alte schwarzlackierte Mohr stand, wie einst, als Krauses noch in der Landsberger Gegend wohnten. »Aba die janze an'nere Uffmachung is nei und Couplets und Bildabojen scheint er nu ooch nich mehr zu vakoofen!«

Und dann war er in den Laden gegangen und hatte – ehe sich Tante Marie noch von ihrem Erstaunen erholen konnte – einen Hundertmarkschein auf den Tisch gelegt.

»Da – stech in! Ick bring dia deene Inlaje zurück und den Anteilschein uff die Flujmaschine schenk ick dia. Du kriejst also die Zinsen ooch weita ausjezahlt, brauchst aba nich drieba zu reden, vastehste! Und denn jib mia 'n Zihjarrn – ick muß jleich weita, kann mia nich uffhalten – wia haben heite 'n jroßen Taj!«

Tante Marie flatterte wie ein aufgescheuchter Vogel im Laden umher: »Wat is denn bloß los – bleib doch noch – ick koche jleich noch mal frischen Kaffi und denn erzähl doch mal janz von vorne ...!«

»Keene Zeit nich –« sagte er – »die von'n Jeneralstab kommen heite, lauta hehere Offiziere – ick muß bei sind und det Luftschiff vorfiehren. Villeicht sehste mia heite det letzemal – wenn ick bei die Probefahrt vaunjlicke – adje!«

Damit war er auch schon hinaus, schwang sich auf den blauen Amtsrichter und drängelte sich auf einen Eckplatz des Straßenbahnwagens. Während der langen Fahrt überkam ihn ein prophetisches Grübeln: von Osten nach Westen ging die Reise, war das nicht die Richtung, die der Zukunft gehörte? Und die Endstation des blauen Amtsrichters, draußen, in Charlottenburg, war sie für ihn und seinen Kompagnon Zillmann nicht die Anfangsstation? Dort lag der Platz, auf dem sie ihre Versuche mit der Flugmaschine machten, von dort würden sie sich erheben und ihren Flug weiter gen Westen nehmen, »als blaua Luftamtsrichta in't Tiefblaue« – wie Onkel Karl in seiner Begeisterung dachte.

Er mußte wohl auch laut vor sich hingesprochen haben, denn er merkte plötzlich, wie ihn alle Fahrgäste argwöhnisch beobachteten und seine Nachbarn sogar von ihm abrückten. »Ick bin wirklich een Afinda,« dachte er in sonderbarer Rührung über sich selber – »so varrickt benehmen sich bloß jroße Geister!« Und er bekam Respekt vor sich selbst. Glücklicherweise stieg in diesem Augenblick der Kontrolleur auf den Wagen und lenkte die Aufmerksamkeit wieder von Onkel Karl ab.

Eine merkwürdige Unruhe hatte sich, wie immer bei dieser Gelegenheit, der Fahrgäste bemächtigt: Alle blickten auf den Schaffner, als erwarteten sie, daß er jetzt eines Verbrechens überführt werden müßte. Aber der Mann hatte mit keiner Wimper gezuckt, gab nur die Klingelzeichen in besonders markanter Weise, half, was er vorher allerdings nicht getan, den ein- und aussteigenden Personen artig und galant, kurz, erwies sich als das Muster eines gewissenhaften, pflichteifrigen Beamten.

Nun aber kam der Kontrolleur in das Wageninnere und – wie sie da auch saßen – jedem einzelnen war plötzlich so zu Mut, als solle er ein Examen ablegen. Zuversichtlich und brav sah nur das junge Mädchen aus, das den Fahrschein die ganze Zeit über unzerknittert in der Hand gehalten hatte und als es ihn jetzt hinreichte, schien es ein Lob im Betragen zu erwarten. Onkel Karl kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können: War das nicht Grete Berg, die Hausschneiderin – oder täuschte ihn nur eine Ähnlichkeit? Er wurde nicht recht klug daraus, wurde auch wieder abgelenkt, denn er mußte doch sehen, wie sich der junge Mann da aus der Affäre zog. Der hatte sein Billett zusammengerollt und wie einen Federhalter hinters Ohr gesteckt – nun mußte er es hastig aufrollen, glätten und vorweisen. Und sein Nachbar hatte es sogar geknifft und als Orden ins Knopfloch gesteckt – nun war er nur schwer zu bewegen, es auseinanderzufalten und mürrisch und verdrießlich reichte er es schließlich hin.

Andere holten es aus dem Pompadour oder Portemonnaie – glückliche Menschen, die da wußten, wo sie es gelassen hatten! Denn Onkel Karl wußte es plötzlich nicht mehr, obwohl – – seit er einmal ein Eisenbahnbillett beinahe verloren – Fahrscheine stets mit größter Sorgfalt von ihm behandelt wurden. Und darum hatte er auch seelenruhig, seiner selbst ganz sicher, dagesessen, hatte mit Genugtuung beobachtet, wie die andern sich geängstigt und geplagt – und nun war sein Fahrschein plötzlich verschwunden.

Der Angstschweiß brach ihm aus den Poren. »Ick weeß nich, wo meens is«, sagte er zu seinem Nachbar, »eben hatte ick's noch!« Und einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob er sich erregt und betrachtete die Stelle, auf der er gesessen. Auch die Nachbarn, die ihn schon bemitleideten, erhoben sich bereitwillig und ließen ihre Plätze anstarren: vergeblich – der Fahrschein war verschwunden, und der Kontrolleur verlangte ihn jetzt von Onkel Karl.

»Haben Sie denn schon Ihre Taschen nachgesehen?«

Er kehrte sie nochmals um, wobei er den Inhalt sortierte – der Fahrschein war nicht da! Da stürzte er sich in seiner Verzweiflung bald auf dieses, bald auf jenes alte Billett, das auf dem Boden lag, und wies es jedesmal mit neuer Hoffnung dem Kontrolleur vor, der aber jedesmal – mit einem eisigen Lächeln – den Kopf schüttelte. Dann klatschte sich Onkel Karl, gerade als ihn schon dumpfe Resignation erfassen wollte, an die Stirn, nahm den Hut ab und suchte im Futter – denn damals hatte er ja die Eisenbahnfahrkarte darin gefunden – aber diesmal kam nichts zum Vorschein.

»Denn – zum Donnerwetter – denn zahl' ick nochmal – kommt mir doch nich druff an – uff den Jroschen!« Als er aber nach dem Geld in der Westentasche fingerte, brachte er plötzlich ein zur Kugel gewordenes Stück Papier heraus: Das vermißte Billett.

Alle atmeten erleichtert auf – Onkel Karl aber betrachtete, ein verblüfftes Lächeln im Gesicht – seine Westentasche, als könne er es nicht begreifen, daß sie ihm diesen Streich gespielt. Nun suchte er – ein bißchen erschöpft – die frühere bequeme Haltung einzunehmen und empfand eine gewisse Genugtuung, daß auch andere noch gequält wurden. Die Frau da – sein Visavis, hatte die ganze Zeit über schon versucht, ihrem eigensinnigen Sprößling das Billett zu entwinden, doch alle Mühe war vergeblich gewesen. Das kleine Mädchen gab das durchweichte Papier nicht her, es sei denn, daß man es ihm entrissen hätte. Als nun der Kontrolleur, der wie ein bärbeißiger Onkel dreinschaute, liebevoll-gewaltsame Versuche machte, begann der Trotzkopf zu brüllen.

»Nu is sa allens janz enjahl,« sagte Onkel Karl, »nun nehmen Se't ihr man wej, jehen Se immer feste druff wie Blücher, se kann Ihn'n ja man bloß kratzen!«

Und der Kontrolleur ließ sich ermutigen, faßte zu – erwischte jedoch nur eine Ecke, auf der aber glücklicherweise die Nummer stand.

»Sie haben ooch 'n schweret Brot«, sagte Onkel Karl, aber der Kontrolleur beachtete ihn nicht weiter, sah nach der Uhr, notierte, die Augenbrauen hochziehend, etwas in ein Buch und schwang sich dann, nach einigen leutseligen Worten zum Schaffner, elegant von dem in voller Fahrt befindlichen Wagen.

Ja – wo waren sie denn eigentlich? Onkel Karl orientierte sich und versuchte dann, sich Grete Berg bemerkbar zu machen. Es schien jedoch, als läge ihr nicht besonders viel an seiner Gesellschaft, denn sie hielt beharrlich den Kopf abgewandt und starrte durch die Scheiben auf die Straße.

»Wie sich een Mensch doch in janz kurze Zeit verändern kann,« dachte Onkel Karl, »det Meechen sah doch den Sonntaj draußen in Willmasdorf so jesund und blühend aus, na und heite nu, det reene Weißbier mit Spucke. Überanstrengt – wenn son junget Ding den janzen Taj ooch mit die Beene uff die Nähmaschine trampelt, denn muß sie ja krank werden. Und wer weeß, wie't bei die za Hause aussehst! Det wohnt denn manchmal in'n Kellaloch oder in'n Bodenverschlaj, bloß um sich 'n bißken propper zu machen.«

»Pssst!« machte er, und alle Leute im Wagen – nur das junge Mädchen nicht – drehten sich ihm zu und sahen ihn erwartungsvoll an.

Onkel Karl hustete, um den Glauben zu erwecken, als habe er vorher auch nur gehustet, und dachte – ein bißchen verstimmt: »Wa'm will se mia denn nich sehen, det muß doch seene Jrinde haben. Aber warte man, steij du man aus, ick werd' dir schonst zu fassen kriejen!«

Bei der Haltestelle an der Lützowstraße suchte sie durch eiliges Abspringen zu entkommen, aber sie hatte sich in Onkel Karls Beweglichkeit getäuscht. Er war ebenso rasch abgesprungen und hatte sie mit ein paar Schritten eingeholt.

»Wat ha'ick Sie denn jetan, det Se mir so auskneifen wollen?«

»Nischt!«

»Na – denn hört man doch, wenn ick pssst mache und dreht sich um und nickt eenen zu!«

Sie sah starr geradeaus und versuchte hastiger zu gehen. Und Onkel Karl, der sie prüfend ansah und ihre Gestalt musterte, stutzte plötzlich und sagte: »Ach so – soso! Nu wird mir ja uff eemal allet klar – denn haben Se alladings Jrund, mir auszukneifen!«

Sie war totenblaß geworden – dann schluchzte sie auf.

»Ha'ick Sie nich jewarnt – ha'ick's Sie nich jesagt – und nu is's doch so jekommen!« sagte Onkel Karl bekümmert. »Sie hätten doch ooch noch 'n bisken warten können – so eilig wa'rt doch noch nich! Wat werden se nu in Mittenwalde sajen – Ihre Mutter schmeeßt Ihn'n doch raus!«

»Ich hab' ja keine Mutter mehr!«

»Na – denn wird det Vata besorgen« – forschte Onkel Karl. Und als sie den Kopf schüttelte, sagte er: »Haben Se also ooch nich mehr – na nee, da is ja denn keener mehr da, der uffpassen könnte, vor den Sie Angst jehabt. Und da wird denn lustij, immer lustij in die Weltjeschichte rinjelebt – eenmal sterbt man ja bloß – wahr?«

Ein Stückchen gingen sie stumm nebeneinander, dann fragte Onkel: »Na – und wat sajt denn nu der Mußjeh Edwin zu? Nischt? Na, warten Se mal – nu werd ick mal mit ihm sprechen!«


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