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XVI. »Joldelse«

Die Tage kamen und gingen, aber die unangenehme Stimmung im Hause wollte nicht mehr weichen. Es schien, als hätten sich alle Familienmitglieder durch irgendeinen Ausspruch auf ihren Standpunkt festgelegt und könnten nun nicht weiter, wenn die andern nicht zu Hilfe kämen – aber offenbar wollte keiner dem andern helfen.

Am aufgeregtesten gebärdete sich Onkel Karl, dessen Gemütsverfassung sich durch halblaute Redensarten Luft machte: »Ick opfere mia uff« – pflegte er zu sagen und Frau Lemke erwiderte jedesmal prompt darauf: »Ja – du bist nu janz varrickt!«

Eine nähere Begründung ihrer Ansicht lehnte sie ab. Ihre Gedanken waren stets bei Edwin, der sich vom Elternhaus ganz loszureißen schien. »Wat der Junge treibt und macht, is nich zu sajen! A's wenn't weda Vata noch Mutta for ihn jäbe, bloß noch dieset Meechen!«

Eines Morgens jedoch zeigte Frau Lemke eine völlig veränderte, weiche Stimmung, aber Herr Lemke, der sie befragte, bekam nur unbefriedigende Antworten.

»Laß man, Willem,« wehrte sie ab, »mia is janischt und wenn wat is, wirstet schon afahren.«

Auch Lieschen wunderte sich über ihre Mutter, denn diese zeigte wieder neues Interesse für die Ausstattung, um die sich Frau Lemke gar nicht mehr gekümmert hatte. Und einmal, als sie beim Auspacken der Pakete half und all die Herrlichkeiten auf dem großen Tische ausgebreitet waren, geschah plötzlich, was noch nie vorgekommen war, was Lieschen gar nicht an ihrer Mutter kannte – daß diese zu weinen begann.

»Laß mia, meen Kind, laß – laß – et tut mia wohl« – sagte sie. »Kannste dia nich vorstellen, wie eene Mutta zu Mute is, wenn ihre Kinda von sie wejjehen!«

»Aba du hast doch noch Edwin,« tröstete Lieschen.

»Eben nich« – sagte sie kummervoll – »der will von seene Mutta nischt mehr wissen. Sajt nich mal mehr juten Taj und Adje, jeht uff die annere Seite, wenn er mia uff die Straße kommen sieht, denkste, so wat stößt een nich det Herze ab!«

Lieschen war ein bißchen verschnupft: »Er is zu sehr verzogen worden« – sagte sie.

»Aba denn kommen mia jetz nu so die Arinnerungen,« sagte Frau Lemke. »Du lieba Jott, wenn mir meene Mutta sonne Aussteia jejeben hätte, aba ick war een blutarmet Meechen – eenen Rock und eenen Jott – det war allet und et is mia jetz unfaßbar, det man det damals riskiert hat und jeheiratet. Et hätte ja doch ooch allens schief jehen können, denn wärste heite ooch 'n blutarmet Ding.«

»Wer weeß, ob ick dann überhaupt uff die Welt jekommen wäre,« sagte Lieschen. »Mama, aber –« und sie sah ihre Mutter vorwurfsvoll an – »du wirst doch nich etwa nachjeben – denn det jeht nich – schon wejen meen Breitjam nich – sonne Schwäjerin wollen wir nich haben!«

»Ach –« sagte Frau Lemke ärgerlich – »deen Breitjam! Der soll froh sind, det er dia kriejt. Wat die nich mitbringt, det kostet der uns! Bloß um ihn aus seene Vaflichtungen loszukriejen, muß Vata alle Oogenblicke berappen!«

»Na – dann wird sie ja bald hier im Hause sein,« sagte Lieschen höhnisch. »So eene Person, die keene Scham hat und zu ihre eigens Schande jetzt 'rumläuft!«

»Laß jut sind,« sagte Frau Lemke, »du wirst dadrieba schon noch anders denken lernen! – –«

Und am Abend, als sie ihr künstliches Gebiß in das Wasserglas gelegt und sich das Kopfkissen noch einmal zurechtgeklopft hatte, kam sie auf dasselbe Thema: »Sprecht denn Edwin mit dia, Willem?« fragte sie ihren Mann.

»Nee, ick bin ibahaupt ibaflissij,« sagte Herr Lemke, »jänzlich ibaflissij! Bloß Joldelse kann mia noch jebroochen, die reibt sich die Flöhe an mia ab, weil ick so scheen stille halte!«

»Aba det kann doch nich so weitajehen – Edwin is doch unsa Kind!«

»Ick hab ihn wenijstens ooch dafor jehalten,« sagte Herr Lemke gelassen, »aba heitzutaje is ja allens anders. Ick wirde mia janich wundern, wenn mia bewiesen wirde, det ick meen'n Sohn sein Kusäng bin!«

»Willem, quatsch' doch nich so!«

»Na – ja –« verteidigte er sich bitter – »is doch so!«

»Weeßte noch, Willem« – sagte Frau Lemke, »wie du deene Eltern dunnemals mit mia ausjekniffen bist! Jetz kann ick sie erst nachfiehlen, wat se durchjemacht haben und wat se for 'ne Wut uff mia jehabt haben mejen!«

»Ick hab ooch schon dranjedacht,« – sagte Herr Lemke.

»Pust du die Lampe aus?«

»Nee, pust du se man aus,« sagte Frau Lemke, schnell ins Bett kriechend – »ick stoß mia in't Dustere imma dia Kniescheibe!«

Das Knacken der Bettstellen war verstummt, auch Herr Lemke hatte endlich die bequemste Lage gefunden und versuchte jetzt mit eiserner Willenskraft, durch die Nase zu atmen, um nicht wieder zu schnarchen.

»Quäl dia doch nich so,« sagte Frau Lemke, »nachher in'n Schlaf läßte ja doch die Kinnlade wieda runtaklappen, wennste dia keen Tuch umbindest!«

»Ick hab' keen Tuch!« sagte Herr Lemke.

»Weeste ooch, Willem« – sagte Frau Lemke mit leiser, besorgter Stimme – »weeßte, det mir jetz jede Nacht die Selje an'n Wickel nimmt?«

»Denn sind wia uffjeschmissen,« sagte Herr Lemke resigniert.

»Ja, wat machen wia bloß, wat sollen wia bloß machen!« Sie seufzte tief auf.

»Wenn nur keena nich sterbt,« sagte Herr Lemke. »Wenn nu Onkel Karreln wat mit die Flujmaschine passiert! Der is ja janz aus't Häusken!«

»Nee, nee – det mit die Selje hat wat anners zu bedeiten, um Onkel Karreln is mia nich bange.«

Sie sprach ein Weilchen weiter und freute sich, daß ihr Mann stillschweigend zustimmte – aber plötzlich stieß dieser einen gräßlichen Mißton aus, einen »Schnarcher«, der verriet, daß Herr Lemke schon lange in lautlosem Schlafe dagelegen hatte. Und dann, als wäre der Schnarcher nur das Signal gewesen, begann Herr Lemke gleichmäßig, in altgewohnter Weise zu sägen.

Als Frau Lemke am andern Morgen aufstand, erinnerte sie sich, daß sie gestern abend zu einem Entschluß gekommen war. Zwar fühlte sie jetzt, in der nüchternen Morgenfrühe, ein gewisses Widerstreben, führte dann aber doch aus, was sie sich vorgenommen.

Sie ging und suchte Onkel Karl auf, fand ihn jedoch nicht in seiner Stube. An der Tür hing aber ein Zettel mit der Aufschrift: »Ich bin in die Waschküche.«

»Was hat er denn da nu wieda rumzuschniffeln,« dachte sie und stieg die halbdunkle Treppe hinunter in den Keller. Die Waschküche war jedoch verschlossen, als Frau Lemke aber mit der Faust anschlug und an der Klinke rüttelte, schrie Onkel Karl drinnen ärgerlich: »Wat – wat – wat is denn? Wer is denn da? Kann man denn keen'n Oojenblick unjestört sind?«

»Nach ma' uff, Karrel, ick hab dia wat zu frajen!«

»Oojenblick, ick komme schon!« rief er und gleichzeitig begann Joldelse ein freudiges Winseln auszustoßen, als wenn ihr Rettung nahte.

»Wat machste denn hier?« sagte Frau Lemke verwundert, als er aufgeschlossen und sie eingelassen hatte.

»Ick?« Er wies auf eine Anzahl kleiner Säcke und auf einen Sandhaufen. »Ick fille Ballast in!«

»Wozu broochsten Ballast?«

»Zun Auswerfen«, sagte Onkel Karl. »Joldelsen nehm' ick ooch mit, die wiejt mindestens zwanzig Fund und wenn die Not am jrößten is, schmeeß ick ihr ooch raus!«

»Jott, det arme Vieh« – sagte Frau Lemke, »det hat ooch wat durchzumachen. Und wat is denn det da?« fragte sie, auf ein sonderbares Gestell weisend, das an der Decke der Waschküche hing.

»Wat det is?« sagte Onkel Karl, »det werd' ick dia jleich mal zeijen.« Mit einem raschen Griff hatte er Joldelse an dem umgeschnallten Ledergeschirr gepackt und sie – nachdem er auf eine Leiter gestiegen – an dem Gestell befestigt. »Nu halt die Luft an,« schrie er dem Tiere zu, »et jeht los – eens – zwee – drei!«

Er hatte an einem Strick gezogen, die Befestigung an der Decke gab nach und Joldelse sank, alle vier von sich streckend und verzweifelt zappelnd, langsam mit dem Gestell zur Erde.

»Det war een sojenannter Abstiej mit den von mia afundenen Fallschirm,« sagte Onkel Karl. »Det hia is man bloß een kleenet Modell, den jroßen ha'ick draußen in unse Flujmaschinenfabrik. Bleib stehen,« schrie er Joldelse zu, die mit dem Fallschirm auf dem Rücken ganz verzweifelt in der Waschküche herumraste, ab und zu dabei in die Höhe kam und dann ganze Strecken schwebte. »Wiste stehen!«

»Nu will ick,« sagte Onkel Karl eifrig, »nu will ick dia mal zeijen, wie't is, wenn Wind is.«

Er nahm einen Blasebalg und begann Joldelse in die Luft zu blasen. »Ick hab' ihr schon mal bis oben an die Decke jepustet,« sagte er triumphierend. »Achte mal druff, wie die mit die Beene steiert, det is derselbe Prinzip, wie bei unsen Motor!«

»Ick kann det janich mehr mit ansehen,« sagte Frau Lemke empört, »det is ja Tierquälerei.«

»Wat macht denn aba 'n Fifisektor?« sagte Onkel Karl. »Schade man bloß, det ick die Windhunde wejjejeben habe, die könnt' ick jetz so scheen jebroochen und et wär' nich schade drum. Ick lerne doch bei diese Abstieje. Paß ma' uff, wenn ick Joldelse Ballast mitjebe, wie se den abwerft, det se nich so schnell runtasaust. Det Luda is ja so gescheit wie'n Mensch!«

»Hör mal, Karrel,« sagte Frau Lemke, »mach mal jetz det Tier los, det wir ruhig sprechen können – ick hab' dia wat sehr Wichtijet zu sajen!«

»Bloß nischt Unanjenehmet,« sagte er, »denn dadruff kann ick mia nich inlassen. Ick muß unta alle Umstände meene Jemietsruhe bewahren. Ibamorjen jeht's los, da fliej ick uff und da missen meene Nerven von Stahl und Eisen sind!«

»Et handelt sich um eene Vamittlung,« sagte Frau Lemke, »du sollst mit jemanden sprechen und 'n bißken horchen, vastehste?«

Da er sie aber offenbar nicht verstand, setzte sie hinzu: »Et handelt sich um Edwin und die Jrete – vastehste nu?«


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