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III. Herr Edwin und Fräulein Lieschen

»Ick bin sonst nich dafor« – sagte Frau Lemke – »det man sich, wie't manche Leite machen, jleich nach'n Mittagsessen hinlejt und schnarcht. Nach die Nacht heite muß ick aberst 'n bisken Ruhe haben – vahaltet eich also jefälligst still und stehrt eire kranke Mutta nich!«

Sie sagte das zu ihren beiden Kindern, dem »jungen Herrn Edwin« und dem »Fräulein Lieschen«. Als sie aber den bedeutungsvollen Blick auffing, den sich beide zuwarfen, setzte sie mit nachdrücklicher Betonung hinzu: »Ick schlafe aba höchstens 'ne halbe Stunde, denn komm' ick nachsehen, und wenn ihr etwan Dummheeten vorhabt, denn laßt sie eich man vajehen, mit mia is heite nich zu spaßen!«

»Ihr könnt ja nachher bei mia runtakommen«, sagte der alte Lemke, als er jetzt vom Tische aufstand, seine Serviette faltete und in den Ring steckte. »Ihr laßt eich man aba bloß bei eiern Jroßvata sehen, wenn ihr wat jeschenkt haben wollt!«

»Na – Vata – und du?« fragte Frau Lemke ihren Mann.

»Ick werd' dia schon nich stehren,« sagte Herr Lemke, »ick werd' mia man ooch 'n bisken lejen, denn bei die Zucht heite Nacht hab' ick ja ooch keen Ooje zumachen können!«

»Na, denn hat ja also jeda wat vor,« sagte Frau Lemke, »denn werd' ick nua noch die Minna Bescheed sajen, det sie nich so bei't Abwaschen klappert ...«

Großvater wartete vergeblich – weder Lieschen noch Edwin kam. »Na, denn nich –« sagte der alte Mann verstimmt, zog den Schlafrock aus, nahm den schwarzen Rock aus dem Schrank und machte sich zum Ausgehen fertig.

Als ihn dann die Leute aus der Nachbarschaft mit der kleinen grünen Gießkanne in der Hand die Potsdamerstraße nach Schöneberg marschieren sahen, stießen sie sich an und sagten: »Et is riehrend, nu jeht er wieda seene Olle bejießen.«

Ja, das ließ sich der alte Lemke nicht nehmen, trotzdem ein Gärtner das Grab der Verstorbenen sorgfältig pflegte, ging Großvater, so oft er nur konnte, nach dem Kirchhof hinaus. Auf diesem Wege, in diesen stillen Stunden, lebte er noch einmal die ganze Vergangenheit durch. Dort – wo damals der große, schattige Biergarten gewesen war, in dem er mit seiner Frau so lange gewirtschaftet, blieb er regelmäßig stehen und suchte sich zu orientieren. Eine große, vierstöckige Mietskaserne erhob sich jetzt auf dem Platze dort – wenn man aber durch den Hausflur hineinsah, konnte man immer noch einen der alten Nußbäume erblicken, die eine Zierde des Gartens gewesen waren. Freilich – trübselig genug sah der Baum da in dem kleinen Hofe zwischen den Häusermauern aus, und Großvater wäre es fast lieber gewesen, wenn man den Baum gefällt, damit er sich nicht noch länger zu quälen brauchte.

Und dann stampfte Großvater weiter – an den Vergnügungslokalen vorbei, aus denen die Militärmusik und das Stimmengewirr herüberschallte – immer weiter, bis er den Friedhof erreichte.

Die Menschen, die sich auf dem stillen Fleckchen Erde trafen, kannten sich alle, und die meisten zogen artig grüßend den Hut oder nickten freundlich, wenn sie den »ollen Lemke« sahen. Das oftmalige Zusammentreffen hier hatte, wenn auch nur zu stummen Bekanntschaften geführt. »Jroßvater Lemke« wußte ganz genau, was jeden hertrieb. Dem dort, mit den Kindern, war die Frau, diesem jungen Mädchen da die Mutter gestorben. Der wildeste Schmerz hatte sich ausgetobt, man klagte und jammerte nicht mehr laut, aber die Augen wurden doch immer wieder feucht, wenn man den Hügel wiedersah, unter dem das Liebste schlummerte.

Auf die Ausschmückung des Grabes verwandten alle eine rührende Sorgfalt, jedes Blättchen, jeder Grashalm wurde gepflegt, unermüdlich in der Gießkanne das Wasser vom Brunnen hergetragen. Dann – nachher – wenn es nichts mehr zu tun gab, saßen sie bei dem Toten und erzählten ihm, was das Leben noch gebracht. Wanderten vielleicht auch musternd durch die Gräberreihen, fanden eine offne Grube – die Schaufeln daneben und die Balken schon darübergelegt, um den Sarg hinablassen zu können.

Dann wußte man, daß das Begräbnis bald stattfinden würde und blieb, bis draußen vor dem Kirchhofsportal die Kutschen vorfuhren. Wenn nachher der Trauerzug nahte, strömten alle, die auf dem Friedhof waren, herbei, um an der Feier teilzunehmen. – – – – – – –

Während Großvater da draußen weilte, Herr und Frau Lemke sich durch einen gesunden Nachmittagsschlaf von den Strapazen und Kümmernissen der Nacht erholten, saßen Herr Edwin und Fräulein Lieschen in der Berliner Stube und suchten sich ebenfalls mit ihrem Dasein abzufinden.

Lieschen, die bei Fräulein Prix in die Höhere Töchterschule ging, stellte trübsinnige Betrachtungen über ihr Stammbuch an. Wie schön und kostbar hatte das Album ausgesehen, als es noch seinen Pappkarton besessen. Da war es wie ein Heiligtum behandelt worden – und Fräulein Prix, dann der Religionslehrer, Herr Klein, und Großvater hatten sich mit Schönschrift darin auf den ersten Seiten verewigt. Als der Karton aber eines Tages »ganz von selbst kaput« gegangen war, hatte sich auch die Klassenerste in dem Album betätigen dürfen. Was sie da eingeschrieben – diese Lobpreisung der Tugend – war von allen »sehr schön« gefunden worden, denn es war sozusagen ein Pendant zu dem Verse des Herrn Religionslehrers gewesen.

Dann hatte Lieschen das Album auch ihrer besten Freundin, Selma Wagenschütz, zum Einschreiben gegeben, und da diese gefühlt hatte, daß sie mit den Größen da vorn auf den ersten Seiten des Buches nicht konkurrieren konnte, hatte sie sich die letzte Seite ausgesucht und sich durch das berühmte Verschen zu helfen gesucht: »Wer dich lieber hat als ich, der schreibe sich gleich hinter mich!«

Und Anna Kuhnert, Lieschens zweitbeste Freundin, hatte das für eine Aufforderung gehalten, Selma Wagenschütz zu übertrumpfen. Sie hatte das festgeklebte Blatt vom Deckel losgerissen und in lakonischer Kürze außer ihrem Namen nur »Ich« dahintergeschrieben.

Seitdem war es mit dem Aussehen des Albums bergabgegangen. Minna Wagner, Lieschens drittbeste Freundin, die berühmt war, daß sie den Stammbüchern stets künstlerischen Schmuck verlieh, hatte eine große Enttäuschung bereitet. Nach der Rückgabe stellte sich heraus, daß sie nur ein »Abziehbild« hineingezaubert, das ihr nicht einmal recht gelungen war. Beim Durchblättern der Seiten sah Lieschen dann auch, daß Minna Wagner auf verschiedenen Seiten ihre Kunstfertigkeit im Abziehen von Bildern probiert hatte, ohne das Buch aber dadurch zu verschönern.

Eigentlich hätte nun das Stammalbum, auf Anraten Großvaters, aus dem Verkehr gezogen werden sollen, aber da war gerade damals ein adliges Mädchen, Frieda von Bergholz, in die Klasse aufgenommen worden, deren Beitrag dem Album gewiß zur Zierde gereicht hätte. Da die Adlige auf Ehrenwort versprach, mit dem Album recht sorgfältig umzugehen, hatte sie es bekommen. Als sie es zurückgab, erschien es merkwürdig dünn, und Frieda von Bergholz gestand dann auch, daß sie sich beim Einschreiben die Mitte des Albums ausgesucht und jedesmal ein Blatt ausgerissen hatte, wenn ihr etwas mißglückt war. Zuerst hatte sie sich verschrieben, dann, als sie radieren wollte, war ein Loch entstanden und nachher die Schrift wieder schief geworden. Schließlich hatte sie kein Blatt mehr ausreißen können, weil sonst eine Seite mitgegangen wäre, »auf der schon was stand«. Kurz, sie hatte Blut geschwitzt, ehe sie ihr armseliges Verslein: »Schiffe ruhig weiter ...« im Buche hatte. Dabei war ihr noch ein grober Fehler unterlaufen: »In hertzlicher Erinnerung« hatte sie unterzeichnet.

Lieschen Lemke seufzte tief auf und blätterte nachdenklich weiter. Auf einer der nächsten Seiten, gerade hinter dem Beitrag von Carla Petersen, fand sich mit ausnehmend kräftigen Zügen eingetragen ein lateinischer Spruch:

» Non sentiunt viri fortes in acie vulnera!«

Es sah aus, als ob ein junger Titan sich dort verewigt hätte – aber dieses Sprüchlein stammte nur von Edwin.

Lieschen blickte zu dem Bruder hinüber und seufzte wieder – diesmal noch vernehmlicher.

Edwin drehte sich wütend um: »Hör uff mit det Jepiepe, ick kann nischt arbeeten, wenn du immerfort so stöhnst!«

»Ich wollte dich bloß was fragen – was das hier auf deutsch heißt –« sagte Lieschen.

Edwin sah sie verachtungsvoll an – dann entschloß er sich doch zur Antwort und übersetzte den Vers: »Tapfere Männer fühlen in der Schlacht ihre Wunden nicht!«

»Weißte, was Selma Wagenschütz sagt? Weil du dich gleich hinter Carla Petersen eingeschrieben, bist du ihr Bräutigam!«

»Selma Wagenschütz is een Kamel –« sagte Edwin, aber er war blutrot geworden.

»Und weißt du, was Anna Kuhnert sagt? Sie hat dich neulich mit Carla Petersen auf der Bülow-Promenade gesehen!«

»Wenn ick die Kuhnert treffe, haue ick ihr eene runter –« sagte Edwin.

Lieschen steckte das Buch in die Tischschublade, ging gelassen nach der Tür und sagte – während sie aufblickte: »Und es ist doch wahr, ihr seid Braut und Bräutigam – wir alle haben euch ja gesehen!«

Dann schlug sie rasch die Tür zu und raste davon, denn Edwin hatte Miene gemacht, ihr nachzulaufen.


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