Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Gedichte
Johann Wilhelm Ludwig Gleim

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Der Tröster

1745

            Als Barinchen ihren Liebling,
In dem leichten Todtenkleide,
Auf der Baare liegen sahe:
Stiegen aus dem schönsten Busen
Tausend Ach, und tausend Seufzer.
Von den Wangen, die an Farbe
Dem erblaßten Todten glichen,
Flossen tausend heisse Tränen.
Und es rief das arme Mädchen
Tausendmal: Gerechter Himmel,
Grausamer gerechter Himmel,
Gib mir meinen Liebling wieder!
Aber der gerechte Himmel
Gab den Liebling doch nicht wieder.
Ich bejammerte das Mädchen.
Und ich bat den harten Himmel:
Laß doch nur Geliebte leben.
Himmel, wenn Geliebte sterben,
Müssen treue Mädchen weinen.
Ach, wie wird mein treues Mädchen
Einst bei meiner Leiche weinen!
Ach wie traurig wird es seufzen!
Ach wer wird, wenn ich einst sterbe,
Mein getreues Mädchen trösten?
Kleist du must, wenn ich einst sterbe,
Mein getreues Mädchen trösten.
Als ich nach volbrachter Bitte,
Wieder nach dem Mädchen sahe,
Sah ich noch die Tränen fliessen;
Und ich stahl den Weisen Gründe,
Und ich sprach mit Trauerminen:
Weine nicht, gebeugtes Mädchen,
Weine nicht um deinen Liebling.
Lebt er doch anitzt im Himmel,
Gönn ihm doch das Glükk der Engel,
Murre nicht mit dem Geschikke!
Aber das gebeugte Mädchen
Murrte doch mit dem Geschikke;
Denn von den erblaßten Wangen
Flossen noch viel heisse Tränen,
Als ich ausgetröstet hatte.
Ich verließ hierauf das Mädchen,
Und begleitete die Leiche
Ihres Lieblings in den Tempel.
Und nach zwanzig Todtenseufzern,
Welche mich ein Redner lehrte,
Ging ich wieder zu dem Mädchen.
Und ich tröstete von neuen,
Und ich seufzte, wie der Redner.
Und das Mädchen ließ sich trösten.
Denn es floß von seinen Wangen,
Als ich ausgetröstet hatte,
Nur noch eine heisse Träne.
Werd ich morgen, wenn ich lebe,
Wieder zu dem Mädchen gehen,
Will ich es noch einmal trösten.
Wird alsdann von seinen Wangen,
Wenn ich ausgetröstet habe,
Keine heisse Träne fliessen;
So will ich zum Mädchen sagen:
Nimm dir einen andern Liebling!

 


 


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