Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Gedichte
Johann Wilhelm Ludwig Gleim

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Amor's Nachtbesuch.

            Zur Zeit, wenn alle Menschen
Von ihrer Arbeit ruhn;
Wenn Patrioten träumen,
Was Könige nicht thun;

Wenn etwas nur ein Weiser
Bei seiner Lampe wacht,
In der Gespensterstunde,
Kurz, in der Mitternacht

Kam Amor, der die Schönen
Sonst immer nur besucht,
Vor meine Thür und klopfte;
Vielleicht auf einer Flucht!

»Wer schlägt mir meine Pforte«,
Rief ich, »entzwei, wer jagt
Von mir die süßen Träume
So grausam, eh' es tagt?«

Da hört' ich draußen bitten:
»Mach' auf! ich bin ein Kind,
Du darfst vor nichts dich fürchten;
Mach' auf, bitt' ich, geschwind!

Der Mond hat nicht geschienen,
Ich habe mich verirrt,
Es ist so kalt, es regnet,
Erbarme dich, Herr Wirth!«

Schnell macht' ich Licht, ich eilte, –
Mitleidig muß man seyn, –
Und öffnete die Pforte,
Und ließ den Pilger ein!

Und sieh', es war ein Knabe
Mit Flügeln, wunderschön;
Solch Antlitz, solche Augen
Hatt ich noch nie gesehn!

Komm', Kleiner, sagt' ich freundlich,
Und führt' ihn an der Hand
Zum Herde, holte Späne,
Blies, brachte sie in Brand!

Ich ließ ihn sich erwärmen,
Nahm ihn in meinen Arm,
Und macht' in meinen Händen
Ihm seine Hände warm!

Aus seinen goldnen Locken
Drückt' ich den Regen aus;
Ihm helfen, dacht' ich, bringet
Mir Segen in mein Haus!

»Hätt' ich«, sprach er, »ich Armer,
Mich doch nur nicht verirrt! –
Mein Bogen ist verdorben,
Sieh' nur, mein lieber Wirth!«

»Erschlafft von vielem Regen
Ist er, o weh', ich bin
Um meinen lieben Bogen!«
Ja, sprach ich, der ist hin!

»Laß sehn!« sprach da der Knabe,
Spannt' ihn und drückt' ihn los,
Und traf recht in die Mitte
Mein Herz mit dem Geschoß!

Und tanzt' umher und lachte,
Und sprach mit frohem Muth:
»Mein lieber Wirth, sey fröhlich,
Mein Bogen ist noch gut!«

 


 


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