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12.
Spießrutenlaufen

Michael ging am nächsten Tag in den Aeroplane-Klub, wo Sir Lawrence, ungewöhnlich fesch, in der Halle wartete. ›Der liebe alte Bart!‹ dachte Michael, ›er hat sich für die Guillotine zurechtgemacht!‹

»Hast du keine Angst, daß das Beil des Henkers deinen weißen Vorstoß mit Blut bespritzen wird?« fragte er. »Der alte Forsyte ist zwar heute auch elegant, aber lange nicht so herausgeputzt.«

»Ah! Wie geht's dem alten Forsyte? Gefaßt?«

»Man kann ihn nicht fragen, Sir. Und wie geht es Ihnen selber?«

»Ich fühle mich ebenso unruhig wie vor dem Eton- und Winchester-Match. Ich glaube, ich werde zum Lunch einen Shandy-Gaff trinken.«

Nachdem sie sich gesetzt hatten, fuhr Sir Lawrence fort: »Ich erinnere mich, in Colombo einem Mordprozeß beigewohnt zu haben. Der arme Angeklagte war tatsächlich blau. Weißt du, Michael, meine Lieblingssituation in der Geschichte ist jene, da Walter Raleigh knapp vor seiner Enthauptung ein zweites Hemd verlangte, damit ihn in der frischen Morgenluft nicht fröstelte. Das hätte ja den Eindruck von Angst erwecken können! Nebenbei bemerkt, ist es nie ganz klargestellt worden, ob die Höflinge jener Zeit nicht verlaust waren. Was wirst du denn nehmen, lieber Junge?«

»Kaltes Roastbeef mit Walnüssen in Essig, und Stachelbeertorte.«

»Das ist ausgezeichnet für die Charakterentwicklung. Ich werde etwas mit Curry nehmen. Der Curry-Dörrfisch ist hier sehr gut. Ich glaube fast, daß wir hinausfliegen werden. ›Nous sommes trahis!‹ pflegte das Vorrecht der Franzosen zu sein, aber ich fürchte, daß auch wir die Gewohnheit annehmen, das zu schreien. Die Sensationspresse macht ihren Einfluß bemerkbar.«

Michael schüttelte den Kopf. »Wir geben es zu, aber wir tun nichts dagegen, unser Klima ist zu unbeständig.«

»Klingt tiefsinnig. Das Curry scheint gut zu sein – willst du deinen Entschluß nicht noch ändern? Der alte Fontenoy kommt manchmal hierher? er hat eine schlechte Verdauung. Es wird schlimm für ihn sein, wenn man uns die Tür weist.«

»Verflucht komisch«, sagte Michael plötzlich, »wie die Titel den Leuten noch immer imponieren! An die Geschäftstüchtigkeit ihrer Träger kann man doch nicht glauben.«

»Ausschlaggebend ist der Charakter, mein lieber Junge – der gute, alte, englische Gentleman. Schließlich ist doch etwas dran.«

»Ich glaube, Sir, es ist mehr eine Art von Komplex bei den Aktionären. Ihre Eltern haben ihnen, als sie noch Kinder waren, einen Lord gezeigt.«

»Aktionäre«, sagte Sir Lawrence, »das Wort ist vielsagend. Wer sind sie, was sind sie, wann sind sie?«

»Heute nachmittag werden sie sein«, sagte Michael, »und ich werd sie mir gut anschaun.«

»Man wird dich nicht hineinlassen, mein Lieber.«

»Nicht?«

»Ganz bestimmt nicht.«

Michael runzelte die Stirn. »Welche Zeitung«, fragte er, »wird dort bestimmt nicht vertreten sein?«

Sir Lawrence stieß sein wieherndes Lachen aus. »›Der Ackerbau‹«, sagte er, »›Pferd und Hund‹, ›Des Gärtners Wochenblatt‹.«

»Ich werd mich als einer von ihnen hineinschleichen.«

»Ich hoffe, du wirst uns in ehrlichem Kampf untergehen sehen«, sagte Sir Lawrence mit plötzlichem Ernst.

Sie fuhren zusammen in einem Auto zur Versammlung, trennten sich jedoch, ehe sie die Tür des Hotels erreichten.

Michael hatte den Gedanken, als Pressevertreter hineinzukommen, aufgegeben und pflanzte sich im Eingang auf, um eine Chance abzuwarten. Beleibte Herren in dunklen Anzügen, denen man es unverkennbar ansah, daß sie zum Lunch Steinbutt, Braten und Käse verzehrt hatten, gingen ununterbrochen an ihm vorüber. Er bemerkte, daß jeder dem Türsteher einen Zettel übergab. ›Ich werd ihm auch einen Zettel geben‹, dachte er, ›und hineinschlüpfen.‹ Nachdem er einige noch beleibtere Männer abgewartet hatte, suchte er Deckung zwischen zweien und näherte sich der Tür mit einem Reklamezettel von ›Falsches Spiel‹ in der Linken. Er überreichte ihn an seinem gewichtigen Nachbarn vorbei und war rasch auf einem Platz. Da schaute des Türstehers Gesicht um die Ecke. ›Ja, mein Freund‹, dachte Michael, ›wenn du den unechten von dem echten Aktionär unterscheiden könntest, dann stündest du nicht auf diesem Posten.‹

Er fand einen Rechenschaftsbericht auf seinem Platz, hielt ihn vor sein Gesicht und betrachtete die Umgebung. Der Saal sah so aus, als wäre er eine Kreuzung aus einem Stationswartezimmer und einem Konzertsaal. Vorn befand sich ein Podium mit einem langen Tisch, hinter dem sieben leere Stühle und auf dem sieben Tintenfässer standen, in denen sieben Gänsekiele aufrecht steckten. ›Gänsekiele!‹ dachte Michael, ›vermutlich symbolisch – sie werden doch alle Füllfedern gebrauchen!‹

Im Hintergrund des Podiums war eine Tür und vorn am Podium ein Tisch, an dem vier Männer saßen, die mit den Notizbüchern in ihren Händen spielten. ›Das Orchester‹, dachte Michael. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den acht oder zehn Reihen von Aktionären zu. Man sah jedem den Aktionär an, aber er wußte nicht warum. Ihre Gesichter zeigten den verschiedenartigsten Ausdruck, alle sahen jedoch aus, als warteten sie auf etwas, von dem sie wußten, daß sie es nicht bekommen würden. Was für ein Leben führten sie, oder wurden sie von ihrem Leben geführt? Fast alle trugen Schnurrbärte. Seine Nachbarn rechts und links waren dieselben feisten Aktionäre, zwischen denen er hereingeschlüpft war; sie hatten beide fleischige Ohrlappen und Hälse, die sogar dicker waren als ihre geraden, breiten Hinterköpfe. Es machte starken Eindruck auf ihn. Hier und da verstreut bemerkte er eine Frau oder einen Geistlichen. Man hörte fast kein Gespräch, woraus er schloß, daß keiner seinen Nächsten kannte. Er hatte das Gefühl, daß ein Hund die Situation vermenschlicht hätte. Er dachte gerade über die Farbenzusammenstellung nach: Grün und Schokoladebraun, von Gold umrändert, als die Tür hinter dem Podium geöffnet wurde und sieben Männer in schwarzen Röcken hintereinander hereinschritten und mit leichten Verbeugungen ihre Sitze hinter den Gänsekielen einnahmen. Sie gemahnten ihn an Leute, die ein Pferd besteigen wollen oder sich zum Klavierspielen niedersetzen, so viele kleine Vorbereitungen trafen sie. Der rechts vom Vorsitzenden mußte der alte Fontenoy sein, dessen Gesicht nur aristokratische Züge aufwies. Michael hatte eine phantastische Vorstellung von einem kleinen Kerl in weißem Zylinder, der in Fontenoys Gehirn saß und vierspännig die Charakterzüge wie Pferde lenkte. Dann kam ein Gesicht wie aus einem Bild der Regierung Ihrer Majestät um 1850, rund und rosig, mit Habichtsnase, schmalem Mund und kleinen weißen Koteletten, während sich ganz rechts ein Gesicht befand, dessen Kinn und Augen sich jenseits der Wand hinter Michaels Rücken in ein Rätsel zu vertiefen schienen. ›Ein Mann des Gesetzes!‹ dachte er. Seine Aufmerksamkeit wandte sich wieder dem Vorsitzenden zu. War er ein ›Auserwählter‹ oder nicht? Links vom Vorsitzenden, etwas hinten, las bereits ein bärtiger Mann aus einem Buch rasch und monoton etwas herunter. Das war sicher der Sekretär, der seine Böllerschüsse abfeuerte. Und vor ihm, das war offenbar der neue Direktor, zu dessen Linken Michael seinen Vater bemerkte. Die dunklen Runen über dem rechten Auge von Sir Lawrence waren leicht in die Höhe gezogen und sein Mund zusammengepreßt unter dem gerade geschnittenen, kleinen Schnurrbart. Er sah beinahe fatalistisch drein, intelligent und ruhig. Die linke Hand hielt das Monokel mit dem Schildkrotrand zwischen Daumen und Zeigefinger. ›Fällt etwas aus dem Rahmen!‹ dachte Michael, ›der arme alte Bart!‹ Jetzt war er zu dem letzten in der Reihe gekommen. Der alte Forsyte saß genau so da, als wär er ganz allein auf der Welt; der eine Mundwinkel war ein wenig herabgezogen, das andere Nasenloch ein wenig emporgezogen, derart unbeteiligt erregte er Michaels Interesse, und dennoch paßte er zu dem Ganzen. In dieser ruhigen, korrekten Gestalt, an der nur ein Lackschuh durch seine leichte Bewegung Leben verriet, herrschte intensive Konzentration, vollkommener Respekt vor dem Gang der Verhandlungen und dennoch eine sonderbare Verachtung dafür. Er war wie eine Statue der Wirklichkeit von einem, der erkannt hatte, daß die so dargestellte Wirklichkeit verdammt wenig wirklich war. ›Er setzt mir immer einen Dämpfer auf‹, dachte Michael, ›aber zum Teufel, ich muß ihn doch bewundern!‹

Der Vorsitzende hatte sich erhoben. ›Er ist doch ein Auserwählter‹, dachte Michael, ›er ist doch nicht – ja – nein – ich weiß es nicht!‹ Er konnte kaum zuhören, als der Vorsitzende redete, weil er sich in einemfort fragte, ob er zu den Auserwählten gehöre oder nicht, wenngleich er sich darüber im klaren war, daß es doch ohne jede Bedeutung sei. Der Vorsitzende fuhr unaufhaltsam fort. Zerstreut fing Michael immer nur einige Worte auf wie: ›Europäische Lage – irregeführte Politik – Franzosen – vollkommen unerwartet – die Lage enthüllt – Direktor – unglückliche Umstände, die Ihnen in kurzem erklärt würden – die Zukunft dieses großen Konzerns – kein Grund zum Zweifel – –!‹

›Öl auf die Wogen‹, dachte Michael, ›er gehört zu den Auserwählten – und doch – –!‹

»Ich ersuche nunmehr Mr. Forsyte, einen Ihrer Aufsichtsräte, Ihnen aus erster Hand Bericht über diese peinliche Angelegenheit zu erstatten.«

Michael sah, wie Soames, blaß und besonnen, ein Stück Papier aus seiner Brusttasche hervorzog und sich erhob. War er der Situation gewachsen?

»Ich werde Ihnen kurz die Tatsachen berichten«, sagte er mit einer Stimme, die Michael an Kunstwein erinnerte. »Am elften Januar dieses Jahres wurde ich von einem Beamten, der in den Diensten der Gesellschaft stand, aufgesucht – –«

Da Michael diese Einzelheiten genau bekannt waren, schenkte er ihnen wenig Aufmerksamkeit und beobachtete statt dessen die Wirkung auf die Aktionäre. Er sah keine und plötzlich wurde es ihm klar, warum sie Schnurrbärte trugen: ihr Mund sollte sie nicht verraten! Aus den Zügen des Mundes sprach Charakter. Schnurrbärte waren Mode geworden, als die Leute nicht mehr wie der alte Wellington herumgingen und sagten: ›Mein Charakter geht euch einen Dreck an!‹ Der bartlose Mund hatte versucht, wieder modern zu werden, natürlich vor dem Krieg; aber so viele Majore, Aktionäre und Arbeiter trugen Schnurrbärte, daß er jetzt wenig oder gar keine Chancen hatte! Michael hörte Soames sagen: »Unter diesen Umständen waren wir zu dem Schluß gekommen, daß uns nichts anderes übrig blieb als abwarten.« Michael sah, wie plötzlich ein Zittern durch die Schnurrbärte lief, so wie der Wind das Gras bewegt.

›Schlecht gesagt‹, dachte er, ›wir tun es ja alle, aber wir wollen nicht daran erinnert werden.‹

»Vor sechs Wochen indessen«, hörte er Soames fortfahren, »muß ein zufälliges Ereignis Ihren früheren Direktor gewarnt haben, daß Sir Lawrence und ich noch immer Verdacht hegten, denn ich empfing einen Brief von ihm, in dem er eigentlich zugab, daß er bei dem deutschen Geschäft diese geheime Provision genommen hatte. Er bat mich, den Aufsichtsrat zu verständigen, daß er ins Ausland gegangen sei, ohne irgend welches Vermögen zurückzulassen. Wir haben Sorge getragen, diese Angaben auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Unter diesen Umständen ist uns keine andere Wahl geblieben, als Sie einzuberufen und Ihnen die Tatsachen vorzulegen.«

Die Stimme, die sich nicht um ein Jota verändert hatte, hielt inne, und Michael sah seinen Schwiegervater wieder seine Pose der Unnahbarkeit einnehmen – ein Storch auf einem Bein, der im Begriffe stand, ein Ungeziefer zu verschlingen, konnte kein stärkeres Gefühl von Einsamkeit hervorrufen. ›Das sah dem ersten Bericht von der Schlacht im Skagerrak zu ähnlich!‹ dachte er, ›er hat alle Verluste aufgezählt und keine menschliche Note angeschlagen.‹

Es entstand eine Pause, wie wenn auf einer Jagd plötzlich ein Zaun den Weg versperrt, bis jemand eine Tür gefunden hat. Michael überflog rasch die Gesichter der Aufsichtsräte. Nur einer zeigte Erregung. Sie wurde in einem Taschentuch erstickt. Das Geräusch der geschneuzten Nase brach den Zauber. Zwei Aktionäre standen gleichzeitig auf – einer von ihnen war Michaels Nachbar zur Rechten.

»Mr. Sawdry«, sagte der Vorsitzende, und der andere Aktionär setzte sich wieder.

Michaels Nachbar wandte sein derbes, rotes Gesicht Soames zu, indem er sich vernehmlich räusperte. »Ich möchte Sie fragen, Sir, warum Sie Ihre Kollegen im Aufsichtsrat nicht informierten, als Sie zuerst hiervon Kenntnis erhielten.«

Soames erhob sich ein wenig. »Sie sind sich zweifellos bewußt, daß eine solche Anschuldigung, wenn sie sich nicht in allen Stücken beweisen läßt, eine Klage wegen Verleumdung zur Folge haben kann.«

»Nein, es wäre erlaubt gewesen.«

»Den Aufsichtsräten gegenüber vielleicht, so lange sie es für sich behielten; aber irgendeine Indiskretion hätte uns haftbar gemacht. Es stand nur Wort gegen Wort.«

»Vielleicht teilt uns Sir Lawrence Mont seine Ansicht hierüber mit?«

Michaels Herz begann zu klopfen. Die aufrechte Gestalt seines Vaters machte einen lebendigen Eindruck.

»Sie dürfen nicht vergessen, Sir«, sagte er, »daß Mr. Elderson lange Jahre hindurch unser vollkommenes Vertrauen genoß; er war ein Gentleman und ein alter Studienkollege von mir, und aus kameradschaftlicher Loyalität habe ich es vorgezogen, seinem Wort zu glauben und – eh – die Sache im Auge zu behalten.«

»So!« erklärte Michaels Nachbar. »Was sagt denn der Vorsitzende dazu, daß man ihn im Dunkeln gelassen hat?«

»Wir sind alle vollkommen einverstanden mit der Haltung unserer Kollegen in einer so heiklen Angelegenheit, Sir. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß das Unheil durch dieses unglückselige Versicherungsgeschäft schon geschehen war, so daß keine Veranlassung zu unnötiger Eile vorlag.«

Michael sah, wie der Hals seines Nachbarn röter wurde.

»Ich kann Ihnen nicht beistimmen«, erwiderte der Mann. »Abwarten! Wenn man sofort zugegriffen hätte, hätte man ihm die Provision wieder abnehmen können.« Und er setzte sich nieder.

Er fühlte noch nicht den Mahagonistuhl unter sich, als dar andere, zum Schweigen gebrachte Aktionär, sich rasch erhob.

»Mr. Botterill«, sagte der Vorsitzende.

Michael sah einen magern, schmalen Kopf, zwei Höhlungen in dem behaarten Hals über einem leicht nach vorn gebeugten Rücken, als behorche er wie ein Arzt den Patienten.

»Wenn ich Sie recht verstehe, Sir«, sagte er, »so repräsentieren die beiden Herren die allgemeine Meinung des Aufsichtsrates, und der Aufsichtsrat war damit einverstanden, daß eine verdächtige Person weiter Direktor blieb. Der Herr zur äußersten Linken – Mr. Forsyte, glaube ich – sprach von einem zufälligen Ereignis. Wenn das nicht eingetreten wäre, so wären wir offenbar noch immer in den Händen eines skrupellosen Individuums. Die Symptome sind in diesem Fall sehr beunruhigend. Der Direktor scheint ein übergroßes, ungerechtfertigtes Vertrauen genossen zu haben; ein kürzliches Ereignis dieser Art ist noch in unser aller Erinnerung. Die Politik, Auslandsgeschäfte zu versichern, wurde von dem Direktor augenscheinlich nur für seine eigenen Zwecke eingeführt. Wir haben dadurch einen schweren Verlust erlitten. Und wir Aktionäre scheinen nun vor die Frage gestellt, ob ein Aufsichtsrat, der einem solchen Menschen Vertrauen schenkte und damit fortfuhr, nachdem schon sein Verdacht erregt worden war, die richtige Körperschaft ist, um diesen wichtigen Konzern zu leiten.«

Während dieser Rede war es Michael sehr heiß geworden. ›Der alte Forsyte hat recht‹, dachte er, ›sie sind am Ende doch geliefert.‹

Sein Nachbar zur Linken verursachte plötzlich ein Knarren.

»Mr. Tolby«, sagte der Vorsitzende.

»Diese Geschichte ist eine ernste Angelegenheit, meine Herren. Ich schlage vor, daß der Aufsichtsrat sich zurückzieht, damit wir darüber diskutieren können.«

»Ich unterstütze diesen Antrag«, sagte Michaels Nachbar zur Rechten.

Michael überflog die Gesichter der Aufsichtsräte, sah für einen Augenblick lang in dem einsamen Gesicht am Ende ein Erkennen aufblitzen und grinste zum Gruß.

Der Vorsitzende sprach: »Wenn Sie das wünschen, meine Herren, so werden wir uns freuen, Ihnen zu willfahren. Diejenigen, die dafür sind, wollen die Hände hochheben!«

Alle hoben die Hände in die Höhe mit Ausnahme von Michael und zwei Frauen, deren eifrige Unterhaltung ihnen nicht erlaubt hatte, die Aufforderung zu hören, und einem Aktionär, gerade vor Michael, der so regungslos dasaß wie ein Toter.

»Angenommen«, sagte der Vorsitzende und erhob sich.

Michael sah seinen Vater lächeln und zu dem alten Forsyte sprechen, während sie beide aufstanden. Die Aufsichtsräte schritten einer nach dem andern hinaus und die Tür schloß sich.

›Was immer sich auch ereignet‹, dachte Michael, ›ich muß das Maul halten, sonst schieß ich noch einen Bock.‹

»Auch die Herren Pressevertreter werden höflichst ersucht, sich zurückzuziehen«, hörte er jemand sagen.

Mit einer allgemeinen, herausfordernden Bewegung, ab fragten sie niemand Bestimmten, ob das richtig wäre, klappten die vier Journalisten ihre Notizbücher zu. Nachdem ihr matter Widerstand geschwunden war, entstand eine Unruhe unter den Aktionären wie zwischen Enten, hinter denen ein Hund her ist. Michael merkte sofort den Grund, Die Stimme eines Aktionärs kam von ganz hinten: »Vielleicht möchte Mr. Tolby, der diese Besprechung vorgeschlagen hat, als Vorsitzender fungieren?«

Michaels linker Nachbar begann zu schnaufen.

»Gut!« erwiderte er. »Wer sprechen will, möge sich gefälligst mir bemerkbar machen.«

Jetzt fing jeder an, mit seinem Nachbarn zu reden, um sich zu orientieren, wie weit er sich vorwagen dürfe, ehe er sich zum Wort meldete. Mr. Tolby schnaufte so heftig, daß Michael tatsächlich einen Zug spürte.

»Meine Herren!« sagte er plötzlich, »so geht das nicht! Wir brauchen nicht zu formell zu sein, aber ein wenig Ordnung müssen wir schon halten. Ich selber will die Diskussion eröffnen. Nun, ich hab's den Aufsichtsräten nicht so gerade ins Gesicht sagen wollen, um sie nicht zu verletzen. Aber wie der Herr, wie heißt er doch, gesagt hat: das Publikum muß sich gegen Gauner und gegen Schlamperei schützen. Wir wissen alle, was sich kürzlich zugetragen hat, und dasselbe wird auch in andern Konzernen geschehen, wenn wir Aktionäre nicht selbst auf unsere Interessen achten. Deshalb sag ich erstens folgendes: Sie hätten die Finger lassen sollen von irgendeinem Geschäft mit den Deutschen. Und zweitens sag ich, haben die vom Aufsichtsrat eine mangelhafte Urteilskraft gezeigt. Und drittens sag ich, stecken sie alle zu viel unter einer Decke. Meiner Meinung nach sollten wir ein Mißtrauensvotum in Vorschlag bringen.«

Rufe wie ›Hört! hört!‹ die sich mit undefinierbaren Geräuschen mischten, wurden von einem lauten ›Nein!‹ unterbrochen – es kam von dem Aktionär, der wie ein Toter dagesessen war. Michaels Herz schlug für ihn, um so mehr, als er noch immer tot zu sein schien. Nach diesem ›Nein‹ erhob sich ein magerer, gebildet aussehender Aktionär mit kleinem, grauem Schnurrbart.

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, begann er, »aber es scheint, daß Sie den Stab kurzerhand über die Leute gebrochen haben. Es möchte mich wirklich interessieren, wie Sie als Aufsichtsrat mit einer solchen Situation fertig geworden wären. Es ist sehr einfach, andere Leute zu verurteilen!«

»Hört! Hört!« rief Michael, über seine eigene Stimme erstaunt.

»Es ist sehr leicht«, fuhr der gebildete Aktionär fort, »wenn irgend etwas dergleichen passiert, den Aufsichtsrat zu tadeln, aber da ich selbst Aufsichtsrat bin, so möchte ich wirklich gern wissen, wem man vertrauen soll, wenn nicht seinem Direktor. Was die Politik der ausländischen Versicherungen betrifft, so ist sie uns auf zwei Generalversammlungen vorgelegt worden, und beinahe zwei Jahre lang haben wir den Profit davon eingesteckt. Hat sich denn eine Stimme dagegen erhoben?«

Der wie tot dasitzende Aktionär stieß ein »Nein!« hervor, so laut, daß Michael ihm beinahe auf die Schulter geklopft hätte. Der Aktionär, der wie ein Arzt vorgebeugt und horchend dasaß, stand auf, um zu antworten. »Meine Meinung über die Diagnose des Falles ist von der des Herrn Vorredners verschieden. Alles zugegeben, was er sagt, wollen wir einmal die Sache von einer höheren Warte aus betrachten. Erst nachdem man den Pudding verspeist hat, weiß man, ob er gut war. Wenn eine Regierung sich gründlich verrechnete, so hat sie die Wählerschaft gegen sich, sobald man die Folgen spürt. Das ist ein sehr gesunder Dämpfer für eine Verwaltung; dieses Urteil mag übers Knie gebrochen sein, aber es ist das kleinere von zwei Übeln. Ein Aufsichtsrat muß seine Maßnahmen vertreten können; wenn er sich verspekuliert, so soll er zahlen. Ich glaube, daß Mr. Tolby als unser Versammlungsleiter nach den Gepflogenheiten nicht selber ein Mißtrauensvotum beantragen kann. Wenn das richtig ist, möchte ich es tun.«

Des toten Aktionärs »Nein!« klang diesmal so laut, daß alle schwiegen, um ihn sprechen zu hören; er rührte sich indes nicht. Michaels beide Nachbarn waren aufgesprungen. Über seinen Kopf hinweg stießen sie gegeneinander, und Mr. Tolby nahm wieder Platz.

»Mr. Sawdry«, sagte er.

»Hören Sie, meine Herren und Damen«, sagte Mr. Sawdry, »in diesem Fall scheint mir ein Kompromiß das Richtige. Diejenigen Aufsichtsräte, die von der Affäre des Direktors gewußt haben, sollten gehn; aber damit könnten wir uns begnügen. Der Herr vor mir sagt schon wieder ›nein‹. Er soll uns doch seine Ansicht sagen.«

»Nein!« rief der tote Aktionär, aber diesmal weniger laut.

»Wenn ein Mann seine Meinung nicht sagen will«, fuhr Mr. Sawdry fort, indem er sich fast auf Michael setzte, »so soll er nach meiner Meinung auch nicht unterbrechen.«

Ein Aktionär in der ersten Reihe wandte sich jetzt vollständig um, so daß er die Versammlung ansah.

»Mir scheint«, sagte er, »daß es eine Zeitvergeudung ist, wenn wir noch weiter diskutieren. Es bestehen offenbar zwei, wenn nicht gar drei Meinungen. Das ganze Geschäftswesen dieses Landes wird jetzt nach dem System geführt, daß man Vertrauensmänner ernennt; es mag gut sein, es mag schlecht sein – aber es ist nun einmal so. Irgend jemandem muß man vertrauen. Nun haben wir in diesem besonderen Fall bis jetzt keinen Grund gehabt, unserm Aufsichtsrat zu mißtrauen, und soviel ich sehen kann, hatte der Aufsichtsrat keinen Grund gehabt, dem früheren Direktor zu mißtrauen. Ich glaube, etwas so Endgültiges wie ein Mißtrauensvotum vorzuschlagen, hieße im Augenblick zu weit gehn. Mir scheint das beste zu sein, den Aufsichtsrat wieder hereinzurufen, um zu hören, welche Zusicherungen er uns machen kann, daß so etwas in Zukunft nicht mehr vorkommt.«

Die Geräusche, die dieser gemäßigten Rede folgten, waren so verworren, daß Michael ihren Sinn nicht verstehen konnte. Bei der Rede, die nun folgte, war es anders. Ein Aktionär auf der rechten Seite sprach; er hatte rötliches Haar, helle Augenbrauen, gestutzten Schnurrbart und ein verwittertes Gesicht.

»Ich erhebe keinen Einwand dagegen, den Aufsichtsrat wieder hereinzurufen«, sagte er mit ziemlich spöttischer Stimme, »und ein Mißtrauensvotum in seiner Gegenwart auszusprechen. Da ist noch eine Frage, die bisher niemand angeschnitten hat, nämlich die, wie weit wir die Aufsichtsräte, wenn wir sie hinauswerfen, für diesen Verlust haftbar machen könnten. Die Sache ist nicht ganz klar; es ist ein Spiel, und wir haben eine gute Chance zu gewinnen, wenn wir sie ergreifen wollen. Werfen wir dagegen die Leute nicht hinaus, so ist es klar, daß wir keine Chance ergreifen können, auch nicht, wenn wir es wünschten.«

Der Eindruck, den diese Rede machte, war ein ganz anderer als bei den vorhergehenden. Ein Schweigen folgte, als wäre endlich einmal etwas Wichtiges gesagt worden. Michael starrte Mr. Tolby an. Die runden, hellen, vorstehenden Augen des dicken Mannes waren ganz besonders nachdenklich. ›So müssen die Forellen glotzen‹, dachte Michael, ›wenn sie eine Fliege sehen.‹ Plötzlich stand Mr. Tolby auf.

»Gut«, sagte er, »lassen wir sie hereinkommen!«

»Ja!« rief der tote Aktionär. Kein Widerspruch erfolgte.

Michael sah, wie jemand sich erhob und auf das Podium stieg.

»Man verständige die Presse!« sagte Mr. Tolby.


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