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3.
Michael spaziert und spricht

Das Gesicht, das Michael zeichnete, war im Anfang das Victorines, bis schließlich Fleur daraus wurde. Wenn Fleur sich körperlich gerade hielt, stand sie auch moralisch so aufrecht da? Immer wenn er sich solche Gedanken machte, nannte er sich einen Schurken. Soweit er sehen konnte, lebte sie genau so wie sonst, und er enthielt sich loyal aller Nachforschungen nach ihrem Verbleib, wenn er sie nicht sah. Aber seine gespannte Aufmerksamkeit ließ ihn mehr und mehr einen gewissen Zynismus an ihr bemerken, als beschäftige sie immer die Überzeugung, daß die Werte alle gleich seien und nichts mehr viel Sinn habe.

Obgleich Wilfrid noch in London war, wurde er nie erwähnt. ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹ schien das Motto zu sein. Bei Michael stimmte das nicht, denn er dachte unaufhörlich an Wilfrid. Wenn Wilfrid Fleur nicht sah, wie hielt er es dann aus, in solch versuchender Nähe von ihr zu leben? Wenn Fleur sein Bleiben nicht wünschte, warum hatte sie ihn dann nicht fortgeschickt? Es fiel ihm auch schwer, vor andern zu verbergen, daß er und Desert keine Freunde mehr waren. Oft stieg der Impuls gewaltig in ihm auf, hinzugehen und es auszukämpfen, aber er unterdrückte ihn. Entweder es gab nichts, als das, was er schon wußte, oder es lag noch etwas vor, und Wilfrid würde es ableugnen. Michael nahm das als ganz selbstverständlich an, man konnte eine Frau doch nicht bloßstellen. Aber von einem Kriegskameraden wollte er sich nicht belügen lassen. Zwischen ihm und Fleur war kein Wort gewechselt worden, denn er fühlte, daß Worte ihn auch nicht klüger machen und nur die Zusammengehörigkeit zwischen ihnen, die schon schwach genug war, gefährden würden. Weihnachten war auf dem alten Herrensitz der Monts mit Fasanenschießen vergangen. Beim letzten Treiben am zweiten Tag war Fleur mit ihm auf den Anstand gegangen und hatte Ting-a-ling an der Leine geführt. Der chinesische Hund war außerordentlich aufgeregt gewesen und jedesmal in die Höhe gestiegen, wenn ein Vogel gefallen war; der Lärm der Flinten hatte ihn ganz kalt gelassen. Michael, der darauf wartete, bis er an den Vögeln vorbeischoß – denn er war ein schlechter Schütze –, hatte ihr eifriges Gesicht, von dem grauen Pelz umhüllt, beobachtet und wie sie die Leine straff in den Händen hielt. Die Jagd war neu für sie, und angeregt durch den Reiz einer neuen Sache fühlte sie sich immer am wohlsten. Er hatte sich sogar jedesmal über ihr ›O Michael!‹ gefreut, wenn er vorbeigeschossen hatte. Sie war der große Erfolg der Gesellschaft gewesen, was bedeutete, daß er fast nichts von ihr sah, als ein müdes Gesicht auf dem Kissen; aber zumindest hatte er auf dem Lande nicht an dieser schleichenden Unruhe gelitten.

Er beendete mit ein paar Strichen das kurzgeschnittene Haar des Kopfes auf dem Löschblatt und erhob sich. Bei der St. Paulskathedrale, hatte die junge Frau gesagt. Er könnte zufällig dort vorbeischlendern und einen Blick auf Bicket werfen. Vielleicht kam ihm eine Idee. Er zog den Gürtel seines blauen Mantels fest und machte sich auf den Weg, schlank und aufrecht, mit einem leisen Weh im Herzen.

Wie er an diesem schönen Tage ostwärts wanderte, machte ihm nichts stärkern Eindruck als die Tatsache, daß er lebte, gesund war und Arbeit hatte. So viele waren tot, krank oder arbeitslos. Er war nach Covent Garden gekommen. Ein erstaunlicher Platz! Ein Mensch, der ein Jahrzehnt um das andere diesen Markt von Covent Garden ertragen konnte, war nicht in Gefahr, durch seine vielen Gebrechen vernichtet zu werden. Ein beruhigender Platz – wenn man hindurchgegangen war, brauchte man die Dinge nicht mehr gar zu tragisch zu nehmen. Auf dieser viereckigen Insel waren die Erzeugnisse der Erde aufgestapelt und die Früchte der Welt, im Westen begrenzt durch das Verlegerviertel, im Osten durch das Opernhaus, und mit dem Norden und Süden durch Menschenströme verbunden. Zwischen Karren, die ausgeladen wurden, Haufen von Papier und Stroh und verrenkten Menschen ging Michael dahin und schnupperte. Dies Covent Garden hatte seinen eigenen Geruch, ganz von der Erde, doch nicht ganz faulig. Noch nie hatte er – auch im Krieg nicht – einen Ort gesehen, der so jeder Form entbehrte. Es war so englisch! Keiner sah aus, als hätte er irgend etwas mit dem Boden zu tun – Kutscher, Eckensteher, Packer und die Händler in den gedeckten Markthallen schienen alle noch nie die Bekanntschaft mit Sonne, Wind und Wasser, Erde oder Luft gemacht zu haben – lauter Stadttypen! Und du lieber Gott! – wie unausgeglichen ihre Gesichter waren, wie schief, verschwollen, schlaff und lässig, jede Art Disharmonie der Züge war da zu sehen. Welches war der englische Typus unter diesen zahllosen Variationen von Deformierten? Da war doch auch nicht ein einziger! Er kam zu den Früchten, die ruhig und glänzend zu prangenden Haufen aufgeschichtet lagen, Fremdlinge aus sonnigen Ländern, Kugeln, alle von derselben Größe und Farbe. Michael wässerte der Mund danach. ›Die Sonne ist nicht so ohne‹, dachte er, ›da ist wirklich was dran.‹ Man mußte nur an Italien denken, an die Araber, an Australien – die Australier waren aus England gekommen, und was für eine Rasse waren sie nun? Nichtsdestoweniger – wie gutmütig war doch so ein Cockney, so ein Londoner der untern Klassen! Je regelmäßiger die Gestalt und Züge eines Menschen waren, um so selbstsüchtiger war er! Die Grape-fruits sahen entsetzlich selbstzufrieden aus, verglichen mit der Kartoffel!

Im Weitergehen dachte er noch immer über die Engländer nach. Na ja, sie waren jetzt eine der häßlichsten und eine der entstelltesten Rassen der Welt; und dennoch, konnte sich irgendeine Rasse mit ihnen vergleichen, was Gutmütigkeit und Ausdauer betraf? Und die brauchten sie in ihren rauchigen Städten und in ihrem Klima, – der moderne englische Charakter ein bemerkenswertes Beispiel für Anpassung an die Umgebung. ›Ich könnte einen Engländer überall herausfinden‹, dachte er, ›und doch ist körperlich gar kein allgemein gültiger Typus vorhanden.‹ Erstaunliches Volk! So häßlich in der Muße, und doch solche Blüten der Schönheit treibend und solch seltsame Schößlinge wie die kleine Mrs. Bicket; so phantasielos in der Gesamtheit, und besitzt doch eine so verflixte Schar von Dichtern! Nebenbei bemerkt, was würde der alte Danby dazu sagen, wenn Wilfrid sein nächstes Buch einem andern Verlag übergäbe? Oder vielmehr, was würde er, Wilfrids besonderer Freund, zum alten Danby sagen? Aha, er wußte schon, was er ihm sagen würde:

›Jawohl, Sir, aber Sie hätten den armen Teufel, der Kleine Münze stibitzte, laufen lassen sollen. Desert hat Ihre Weigerung nicht vergessen.‹ Das würde dem alten Danby mit seiner ewigen Rechthaberei ganz gesund sein. ›Kleine Münze‹ hatten einen ungewöhnlichen Erfolg gehabt. Das nächste Buch würde wahrscheinlich noch besser gehen. Das Buch wäre ein Beweis für das, was er, Michael, immer sagte: Die Periode der selbstsichern hohlen Schwätzer sei vorüber. Das Publikum verlange wieder nach dem Leben. Sibley, Walter Nazing, Linda – alle die, die nichts anderes zu sagen hatten, als daß sie denjenigen überlegen waren, die vor ihnen wirkten, allen denen hatte man schon die Särge gezimmert. Nicht etwa, daß sie's merken würden, selbst wenn sie schon drinnen lägen; absolut keine Wahrscheinlichkeit! Sie würden weiter ihre Nasen hochtragen und auf die andern herabsehen!

›Mir gehen sie schon bis daher‹, dachte Michael. ›Wenn Fleur nur einsehen würde, daß die Nase hochtragen ein sicheres Zeichen von Inferiorität ist.‹ Und plötzlich wurde ihm klar, daß sie es wahrscheinlich ganz genau wußte. Wilfrid war der einzige der ganzen Gesellschaft, mit dem sie jemals dicke Freundschaft gehalten hatte; mit den andern gab sie sich nur ab, weil – weil sie eben Fleur war und die letzte Mode mitmachen mußte. Wenn sie in kurzer Zeit aus der Mode kämen, so würde sie sie fallen lassen. Aber Wilfrid würde sie nicht fallen lassen. Nein, er war ganz sicher, daß sie Wilfrid nicht fallen gelassen hatte und auch nicht fallen lassen würde. Er blickte auf. Ludgate Hill! ›Bei der St. Paulskathedrale – verkauft Ballons?‹ Und da – natürlich, da war er ja, der arme Teufel!

Bicket ließ die Luft aus den Ballons, um eine Tasse Kakao trinken zu gehen. Michael erinnerte sich, daß er ihn ja zufällig treffen mußte, und blieb einen Augenblick stehen, um einen Ton der Überraschung zu probieren. Schade, daß der arme Kerl sich nicht selber in eine von diesen bunten Kugeln hineinblasen und über St. Paul zu Peter fliegen konnte. Was für ein trauriges Bürschchen er war, wie er so die Luft aus den Ballons quetschte! Eine Erinnerung drängte sich ihm auf. Ein Ballon – auf dem Platz – am ersten November – eine freudige Nacht! Außergewöhnlich! Fleur! Vielleicht brachten sie Glück. Er trat vor und sagte mit erstaunter Stimme: »Sie, Bicket? Ist das jetzt Ihr Metier?«

Über einen pflaumenfarbenen Sixpence-Ballon hinweg betrachteten ihn die großen Augen Bickets.

»Mr. Mont! Ich hab oft gedacht, daß ich Sie gern einmal wieder sehen möchte, Sir!«

»Mir ist's genau so gegangen, Bicket. Wenn Sie gerade nichts zu tun haben, lunchen Sie mit mir.«

Bicket drückte den Ballon vollständig zusammen, schloß den Deckel seines Hausiererkastens und sagte: »Wirklich, Sir?«

»Freilich! Ich wollte gerade, in ein Fischrestaurant gehn.«

Bicket hängte sich den Kasten ab. »Der Straßenkehrer wird mir das aufheben.« Er übergab dem Manne das Brett und folgte an Michaels Seite.

»Steckt Geld in dem Geschäft, Bicket?«

»Man kann knapp davon leben.«

»Gehn wir hier hinein. Wir wollen Austern essen.«

Bicket lief das Wasser im Mundwinkel zusammen und seine blasse Zunge leckte den Tropfen auf.

Michael ließ sich an einem kleinen mit Wachsleinwand gedeckten Tisch nieder, auf dem ein Öl- und Essigbehälter stand.

»Zwei Dutzend Austern und alles, was dazu gehört! Dann zwei gute Seezungen und eine Flasche Chablis. Eilen Sie, bitte!«

Als der weißbeschürzte Kellner darum gegangen war, sagte Bicket nur: »Du mein Gott!«

»Ja, es ist eine komische Welt, Bicket.«

»Sie ist wirklich komisch. Dieser Lunch wird Sie ein Pfund kosten, das sollt mich gar nicht wundern. Wenn ich aber in der Woche fünfundzwanzig Shilling verdien, dann ist das schon sehr viel.«

»Da haben Sie einen wunden Punkt berührt, Bicket. Ich muß jeden Tag mit meinem Gewissen fertigwerden.«

Bicket schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, wenn Sie Geld haben, dann geben Sie's nur aus. Das würd ich auch tun. Seien Sie glücklich, wenn Sie's können – es gibt nicht zu viele, die's können.«

Der weißbeschürzte Kellner begann sie mit Austern zu beglücken. Er brachte sie frisch geöffnet, immer drei auf einmal. Michael richtete die seinen her, Bicket schlang sie ganz hinunter. Nachdem zwölf leere Schalen vor ihm lagen, sagte er: »Das ist der Punkt, wo die Sozialisten einen Fehler machen, Sir. Nichts hält mir so sehr Leib und Seel' zusammen, als wenn ich seh, wie andere Leute Geld ausgeben. Und jeder von uns kann so weit kommen, wenn er ein bißchen Glück hat. Die Leute so gleichmachen, daß jeder sein Pfund im Tag hat, und es würd ja nicht einmal auf so viel reichen, sagt man! Das war gar nicht schön, Sir. Ich für mein Teil möcht lieber weniger haben und die Aussicht, viel zu kriegen. Wenn man nicht mehr in der Lotterie spielen kann, freut einen doch das ganze Leben nicht mehr. Prost!«

»Auch du versuchest mich, ein Kapitalist zu sein, Bicket.«

Das magere Gesicht mit den großen Augen hinter dem grünlichen Burgunderglas hatte zu glühen begonnen.

»Herrgott, ich wünscht, daß meine Frau hier wäre, Sir! Ich hab Ihnen ja erzählt, daß sie eine Lungenentzündung hatte. Es geht ihr wieder ganz gut, nur so mager ist sie halt. Sie ist das große Los, das ich gezogen hab. Ich will keine Welt, wo man nicht das große Los ziehen kann. Wenn alles auf der Welt so verdammt gerecht zuging und nach Verdienst, dann hätt ich sie ja nie gekriegt. Verstehn Sie?«

›Ich auch nicht‹, dachte Michael, und zeichnete im Geist wieder jenes Gesicht.

»Wir haben alle unsere Ideale, meines ist blaue Schmetterlinge – Zentral-Australien. Die Sozialisten werden mir nicht helfen hinzukommen. Ihr Ideal von der ewigen Seligkeit geht nicht über Europa hinaus.«

»Famos!« sagte Michael. »Heiße Butter, Bicket?«

»Danke, Sir.«

Eine Zeitlang schwiegen beide und aßen nur ihre Seezungen.

»Warum sind Sie gerade auf Ballons verfallen, Bicket?«

»Man braucht keine Reklame für sie zu machen, sie besorgen das schon selber.«

»Sie haben bei uns wohl vom Reklamemachen genug gekriegt, eh?«

»Na ja, Sir, ich hab wirklich oft die Umschläge gelesen. Ich war immer erstaunt, das muß ich schon sagen, wieviel große Bücher es gibt.«

Michael fuhr sich mit den Händen durchs Haar.

»Umschläge! Immer dieselbe junge Frau, die von demselben jungen Mann mit scharfgeschnittenem Kinn geküßt wird. Aber was soll man tun, Bicket? Das Publikum verlangt es. Gerade heute morgen hab ich einmal etwas anderes versucht – wir werden ja sehen, was draus wird.« ›Und hoffentlich wirst du's nicht sehen‹, dachte er. ›Wie wär's, wenn ich Fleur auf einem Buchumschlag entdeckte?‹

»Gerade eh ich wegging«, sagte Bicket, »hab ich bemerkt, daß es Mode geworden ist, Felsen oder Landschaften zu malen und zwei verschiedene Puppen in den Sand oder ins Gras zu setzen, die so aussehn, als wüßten sie nicht, was sie miteinander anfangen sollen.«

»Ja«, murmelte Michael, »wir haben diese Richtung versucht, weil sie angeblich nicht ordinär war. Aber das Publikum hatte es bald satt. Was wollen Sie jetzt nehmen – Käse?«

»Danke, Sir, ich hab schon zu viel gegessen, aber ich möcht nicht nein sagen.«

»Zwei Stiltonkäse«, bestellte Michael.

»Wie geht's Mr. Desert, Sir?«

Michael wurde rot. »Oh, ganz gut.«

Auch Bicket war rot geworden. »Wenn Sie – wenn Sie ihm bitte sagen wollten, daß es der reinste Zufall war, daß ich grad seine Bücher genommen hab! Es tut mir jetzt noch leid.«

»Gewöhnlich ist es ein Zufall, glaub ich«, sagte Michael langsam, »wenn wir einem andern etwas wegnehmen. Eigentlich wollen wir das nie.«

Bicket sah empor. »Nein, Sir, da kann ich Ihnen doch nicht recht geben. Die Hälfte der Menschen sind Räuber – aber ich bin keiner.«

In seiner Loyalität versuchte Michael zu stammeln: »Er auch nicht.« Er hielt Bicket sein Zigarettenetui hin.

»Ich dank Ihnen herzlich, Sir!«

Seine Augen schwammen feucht, und Michael dachte: ›Verdammt, das wird sentimental! Einen Abschiedskuß und Schluß!‹ Er winkte dem weißbeschürzten Kellner. »Geben Sie mir Ihre Adresse, Bicket. Wenn Sie was zum Anziehn brauchen, könnt ich Ihnen ein paar Sachen schicken.«

Bicket schrieb seine Adresse auf die Rückseite der Rechnung und sagte zögernd: »Mrs. Mont könnte wohl nicht irgendwas entbehren? Meine Frau hat ungefähr meine Größe.«

»Das dürfte sich schon machen lassen. Wir werden es schicken.« Er sah, wie die Lippen des ›kleinen armen Teufels‹ zitterten, und langte nach seinem Mantel. »Wenn mir irgend etwas in den Weg kommt, werd ich an Sie denken. Leben Sie wohl, Bicket, und viel Glück!«

Er wandte sich nach Osten, weil Bicket nach Westen ging, und wiederholte sich fortwährend den Grundsatz: ›Mitleid ist Schwachsinn – Mitleid ist Schwachsinn!‹ Nachdem er einen Autobus bestiegen hatte, fuhr er wieder an der St. Paulskathedrale vorbei. Vorsichtig um die Ecke lugend, sah er Bicket, der einen Ballon aufblies. Von seiner Gestalt und seinem Gesicht sah man nur wenig hinter dem rosafarbenen Ball. In der Nähe der Blake Street überkam ihn eine unwiderstehliche Abneigung gegen die Arbeit, und er fuhr weiter zum Trafalgar Square. Bicket hatte sein Gleichgewicht gestört. Die Welt war manchmal ganz unerträglich komisch. Bicket, Wilfrid und das Ruhrabenteuer! ›Gefühl ist Quatsch! Mitleid ist Schwachsinn! ‹ Er stieg vom Omnibus und ging an den Löwen vorbei in die Pall Mall. Sollte er in den Snooks-Klub gehen und nach Bart fragen? Wozu? – Fleur würde er ja dort doch nicht finden. Das war's ja, was er eigentlich wollte – Fleur bei Tag sehen. Aber wo? Überall konnte man sie finden, und das hieß nirgends.

Sie war unstet. War das seine Schuld? Wenn er Wilfrid wäre, würde sie dann auch unstet sein? ›Ja‹, dachte er trotzig. ›Wilfrid ist ja auch unstet.‹ Alle waren unstet, alle Menschen, die er kannte. Wenigstens alle Jungen – im Leben und in der Literatur. Man mußte nur ihre Romane lesen! Kaum einer von zwanzig besaß irgendeinen Ruhepunkt, irgend etwas von jenen Büchern, zu denen man wie zu einer Zuflucht gern zurückkehrt. Ihre Gedanken sprudelten hervor und überstürzten sich, sprangen aus der Bahn und rasten wieder weiter wie Motorräder – leidenschaftlich – oh, und so geistreich! Die geistreichen Reden hatte er schon so satt! Manchmal nahm er ein Manuskript mit nach Hause, um Fleur nach ihrer Meinung zu fragen. Es fiel ihm ein, daß sie einmal gesagt hatte: ›Das ist genau wie das Leben, Michael; es jagt dahin – verweilt nirgends lange genug, um irgendwo irgend etwas zu bedeuten. Natürlich wollte der Autor keine Satire schreiben, aber wenn du es veröffentlichst, so rate ich dir, auf den Umschlag zu setzen: Diese schreckliche Satire auf das moderne Leben.‹ Und das hatten sie auch getan, das heißt, sie hatten gedruckt: ›Diese wundervolle Satire auf das moderne Leben.‹ So war Fleur selbst! Sie sah die Hast, aber wie der Autor der wundervollen Satire wußte sie nicht, daß sie selber sich drehte und abhetzte, oder – wußte sie es am Ende doch? War sie sich dessen bewußt, daß sie vom Leben zehrte wie eine Flamme von der Luft?

Er hatte die Piccadilly erreicht und erinnerte sich plötzlich, daß er ihre Tante schon eine Ewigkeit nicht besucht hatte. Vielleicht könnte er Fleur dort finden. Er lenkte seine Schritte nach der Green Street. »Ist Mrs. Dartie zu Hause?«

»Ja, Sir.«

Michael schnüffelte. Fleur benützte – aber er konnte keinen Duft spüren, ausgenommen Weihrauch. Winifred verbrannte Räucherrohr, immer wenn sie sich erinnerte, welch eine vornehme Atmosphäre es verbreitete.

»Wen darf ich melden?«

»Mr. Mont. Meine Frau ist wohl nicht hier?«

»Nein, Sir, nur Mrs. Val Dartie.«

Mrs. Val Dartie! Ja, er erinnerte sich ihrer, eine hübsche Frau, aber doch kein Ersatz für Fleur! Nun er einmal da war, folgte er dem Mädchen.

Im Salon fand Michael drei Personen, seinen Schwiegervater, der grau und nachdenklich aussah und aus seinem Empiresessel nach den blauen australischen Schmetterlingen starrte, die unter Glas auf dem runden scharlachroten Tische lagen. Winifred hatte die ursprünglichen Empirefundamente ihres Zimmers mit übermodernen Konstruktionen gemengt, die dem Zeitalter mehr angepaßt waren. Sie begrüßte Michael mit modischer Herzlichkeit. Wie nett es von ihm sei zu kommen, da er doch mit all diesen jungen Dichtern so überaus beschäftigt sei! ›Kleine Münze‹, sagte sie, »welch ein hübscher Titel! – ist solch ein spannendes kleines Buch. Mr. Desert ist wirklich ein sehr gescheiter Mensch! Was schreibt er denn jetzt?«

Michael sagte: »Ich weiß es nicht«, und ließ sich auf ein kleines Sofa neben Mrs. Val fallen. Da er die Forsytesche Familienfehde nicht kannte, so verstand er die Erleichterung nicht ganz, die sein Kommen gebracht hatte. Soames machte eine Bemerkung über die Franzosen, erhob sich und trat ans Fenster; Winifred folgte ihm, ihre Stimmen klangen, als hätten sie sich etwas Vertrauliches mitzuteilen.

»Wie geht es Fleur?« fragte Michaels Nachbarin.

»Danke, ganz ausgezeichnet.«

»Gefällt Ihnen Ihr Haus?«

»Oh, schrecklich gut. Wollen Sie uns nicht einmal besuchen und es sich ansehn?«

»Ich weiß nicht, ob es Fleur – –?«

»Warum denn nicht?«

»Oh! Na ja!«

»Sie ist außerordentlich gesellig.«

Mrs. Val schien ihn mit mehr Interesse zu betrachten, als er verdiente, schien förmlich etwas aus seinem Gesicht lesen zu wollen, so daß er hinzufügte: »Sie sind eine Verwandte – nicht nur durch Heirat, sondern auch eine Blutsverwandte, nicht wahr?«

»Ja.«

»Was steckt also hinter Ihrem Zögern?«

»Oh, gar nichts! Ich werde bestimmt kommen. Nur – sie hat doch so viele Freunde.«

Michael dachte: ›Die Frau gefällt mir!‹ »Eigentlich«, sagte er, »bin ich heute nachmittag hergekommen, weil ich glaubte, Fleur hier zu finden. Ich möchte gern, daß Sie beide einander kennenlernten. In dem Wirbel um uns herum würde sie einen ruhigen Menschen wohltuend empfinden.«

»Sehr nett von Ihnen.«

»Haben Sie nie in London gelebt?«

»Nur bis zu meinem sechsten Jahr.«

»Ich wünschte, sie würde sich einmal ausruhn – schade, daß nicht eine Einsiedelei in der Nähe ist.« Beunruhigt blickte er zu den Schmetterlingen hinüber. »Ich habe gerade mit einem kleinen Vorstadt-Londoner gesprochen, der glaubt, daß das ›S.O.S. Rettet unsre Seelen!‹ Zentral-Australien sei. Aber, was halten Sie davon, haben wir überhaupt Seelen zum Retten?«

»Früher hab ich das geglaubt, aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher – letzthin ist mir etwas aufgefallen.«

»Und was war das?«

»Ich habe die Wahrnehmung gemacht, daß alle, die nicht harmonisch gebaut sind, die eine schiefe Nase oder Glotzaugen oder einen besonders leuchtenden Blick haben, daß alle die an die Seele glauben; Leute, die gut gebaut sind und körperlich durch nichts auffallen, scheinen gar kein Interesse daran zu haben.«

Michael spitzte die Ohren. »Großartig!« sagte er, »das ist eine Idee! Fleur ist wundervoll gebaut, sie scheint sich keine Sorgen zu machen. Ich bin's nicht – und ich sorge mich. Das Volk in Covent Garden muß schrecklich viel Seele haben. Sie glauben also, daß ›Seele‹ sich bildet, wenn das Räderwerk des Organismus nicht ordentlich funktioniert, daß sie so eine Art Bewußtsein dessen ist, daß man nicht aus einem Guß sei?«

»Ja, ich bin fast sicher, daß es ungefähr dasselbe ist, was man seelische Kraft nennt.«

»Übrigens, glauben Sie, daß Sie noch Ihres Lebens und Ihrer Seele sicher sind? Nach Ihrer Theorie stecken wir nämlich tief in der Seelenära drin. Ich muß mir einmal überlegen, wie meine Familie aussieht. Und wie steht's denn mit der Ihren?«

»Mit den Forsytes? Oh, die sind fast zu gut proportioniert.«

»Da haben Sie recht, die haben keine besonderen Mißbildungen, soweit ich sehen kann. Auch die Franzosen haben keine Ecken und Kanten. Es ist wirklich eine gute Idee, nur haben die meisten Menschen natürlich ganz den entgegengesetzten Standpunkt. Sie würden sagen, daß die Seele die körperliche Disharmonie verursacht, die Augen leuchten läßt, die Nase krumm macht und dergleichen. Wenn die Seele klein ist, versucht sie nicht den Körper zu verlassen, und es entsteht dann etwas wie eine Wachspuppe. Darüber werd ich nachdenken. Danke für den Tip. Bitte, besuchen Sie uns doch! Auf Wiedersehn! Ich möchte die beiden am Fenster nicht stören. Würden Sie so freundlich sein, ihnen auszurichten, daß ich in großer Eile war?« Er drückte eine schlanke, behandschuhte Hand, empfing ein Lächeln, das er erwiderte, schlüpfte hinaus und dachte: ›Zum Teufel mit der Seele! Wo ist ihr Körper?‹


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