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12.
Ostwärts

Er war noch nicht lange auf den Knien gelegen, als bei beiden eine Reaktion eintrat. Es verursachte ihm ein wachsendes Unbehagen, zu knien und Fleur zu trösten. Heute nacht glaubte er ihr, wie er ihr viele Monate lang nicht geglaubt hatte. Aber was tat Wilfrid jetzt? Wo wanderte er umher? Das Gesicht am Fenster – Gesicht ohne Stimme, ohne den Versuch, sie zu erreichen! Michael spürte ein Weh im Herzen, das so unberechenbar war. Er ließ sie aus den Armen und erhob sich.

»Möchtest du, daß ich mich um ihn kümmere? Wenn alles vorbei ist – könnte er – könnte ich – –«

Auch Fleur erhob sich. Sie war jetzt ganz ruhig.

»Ja, ich werde zu Bett gehn.« Mit Ting-a-ling in den Armen ging sie zur Tür. Ihr Gesicht, das zwischen dem braunen Pelz des Hundes und ihrem kastanienbraunen Haar hervorsah, war sehr blaß und still.

»Ich wollte dir noch etwas sagen«, fuhr sie fort, »es hat jetzt zum zweiten Mal ausgesetzt, Michael; ich glaube, das bedeutet – –«

Michael rang nach Luft. Eine wilde Erregung packte ihn, ebbte ab, wirbelte ihn umher, so daß er kein Wort hervorbrachte.

»Die Ballonnacht«, sagte sie. »Ist es dir unangenehm?«

»Unangenehm? Allmächtiger Gott! Unangenehm!«

»Dann ist alles gut. Mir ist es auch recht. Gute Nacht!«

Sie war fort. Ohne einen vernünftigen Grund dachte Michael: ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹ Er stand wie erstarrt auf einem Fleck, da er, ohne es im Augenblick genau zu wissen, festen Boden unter den Füßen spürte. Ein Kind würde kommen! Es war, als wenn das Boot seines Lebens, bisher getrieben und umhergeworfen, plötzlich verankert ruhig schwamm. Er wandte sich um und zog die Vorhänge auf. Sternennacht! Wundervolle Welt! O wie schön – wie schön! Und – Wilfrid? Er drückte sein Gesicht an die Scheibe. Von draußen hatte Wilfrid sein Gesicht darangedrückt. Er konnte es sehen, wenn er die Augen schloß. Es war nicht fair! Verirrter Hund – verirrter Mensch! S.O.S. Er ging in die Halle und riß aus der mottensicheren Marmortruhe seinen wärmsten Mantel. Er nahm das erste Taxi, das vorbeikam. Wo konnte Wilfrid nur stecken?

»Cork Street!« Es hieß eine Nadel in einem Bündel Heu suchen! Viertel nach elf auf der Uhr des Parlamentsturms! Die ungeheure Erleichterung, die in dem rüttelnden Wagen sein ganzes Wesen durchdrang, kam ihm brutal vor. Erlösung! Das war es, dies war ihm zur sonderbaren Gewißheit geworden, als sähe er plötzlich im grellen Licht Fleurs Geheimstes, das unveränderlich blieb unter ihren graziösen Wandlungen. Familie! Weiterleben! Es war ihm unmöglich gewesen, ihr festen Halt zu geben, denn er war nicht von ihrer Art. Aber ihr Kind könnte das und würde es tun. Und vielleicht würde auch er noch einmal zu seinem Teil kommen. Warum liebte er sie so sehr – das gehörte sich nicht! Wilfrid und er waren Dummköpfe, weil sie so altmodisch empfanden!

»Hier sind wir, Sir. Welche Nummer?«

»Schon gut! Vertreten Sie sich die Beine ein wenig und warten Sie auf mich! Eine Zigarette?«

Er steckte selbst eine zwischen die Lippen, die sich so trocken anfühlten, und ging die Sackgasse hinunter.

Licht in Wilfrids Wohnung! Er klingelte. Die Tür wurde geöffnet, und das Gesicht von Wilfrids Diener bückte heraus.

»Bitte, Sir?«

»Mr. Desert zu Hause?«

»Nein, Sir. Mr. Desert ist gerade nach dem Orient abgereist. Morgen geht sein Schiff.«

»Oh!« sagte Michael betroffen, »von wo?«

»Plymouth, Sir. Um Mitternacht fährt sein Zug von Paddington ab. Sie könnten ihn noch erwischen.«

»Das kommt sehr plötzlich«, sagte Michael, »er hat doch nie –«

»Nein, Sir. Mr. Desert ist ein sehr plötzlicher Herr.«

»Na, danke, ich werde versuchen, ihn noch zu erwischen.«

Er warf sich wieder in den Wagen und rief: »Paddington – fahren Sie drauf los!« Dabei dachte er: ›ein sehr plötzlicher Herr!‹ Das stimmte. Er erinnerte sich der Plötzlichkeit jener kurzen Unterredung neben der Büste Lionel Cherrells. Plötzlich war ihre Freundschaft entstanden, plötzlich ihr Ende, plötzlich sogar Wilfrids Gedichte – Sprößlinge einer plötzlichen Seele! Michael konnte keinen Augenblick ruhig bleiben und starrte in dem rüttelnden und schüttelnden Wagen von Fenster zu Fenster. War er ein Narr? Konnte er nicht alles auf sich beruhen lassen? Mitleid war Blödsinn! Und dennoch! Wilfrid würde ein Stück seines Herzens mitnehmen, und trotz allem wünschte er ihm das zu sagen. Upper Brook Street, Park Lane! Leerwerdende Straßen, eine kalte Nacht; das Licht der Laternen ließ die nackten Platanen sich vom blauen Dunkel abheben. Und Michael überlegte: ›Wir wandern! Wo ist das Ziel? Was der Zweck? Seine Pflicht tun und sich nicht sorgen! Aber was ist meine Pflicht? Und was Wilfrids? Was wird jetzt aus Wilfrid werden?‹

Der Wagen rasselte die Zufahrtsstraße zum Bahnhof hinunter und hielt unter der gedeckten Einfahrt. Zehn Minuten vor zwölf, und ein langer schwerer Zug auf Bahnsteig eins!

›Was soll ich tun?‹ dachte Michael. ›Es ist so verdammt sentimental! Muß ich da jetzt Wagen für Wagen absuchen? Was sagt man denn nur: Kann dich doch nicht fortgehen lassen, alter Junge, ohne –! Pfui, wie sentimental!‹

Matrosen! Wenn nicht betrunken, so waren sie doch nahe dran. Noch acht Minuten! Langsam ging er den Zug entlang. Er hatte noch nicht vier Fenster passiert, als er den Gesuchten fand. Desert saß mit dem Rücken zur Maschine in der Fensterecke eines leeren Abteils erster Klasse. Eine nichtangezündete Zigarette hielt er im Mund, der Pelzkragen war bis zu den Augen hochgestellt, und er starrte auf eine zusammengefaltete Zeitung in seinem Schoß. Regungslos saß er da; Michael blieb stehen und sah ihn an. Heftig schlug ihm das Herz. Er entzündete ein Streichholz, trat zwei Schritte vor und sagte: »Feuer, lieber Freund?«

Desert starrte zu ihm empor.

»Danke!« sagte er und nahm das Streichholz. Bei seinem Schein sah man sein dunkles, mageres, eingefallenes Gesicht; die Augen waren dunkel, eingesunken und müde. Michael lehnte im Fenster. Keiner von beiden sagte ein Wort.

»Bitte den Platz einnehmen, wenn Sie mitfahren, Sir.«

»Ich fahre nicht«, sagte Michael. Er schien innerlich ganz in Aufruhr.

»Wo fährst du hin, lieber Junge?« fragte er plötzlich.

»Zum Teufel.«

»Herrgott, Wilfrid, es tut mir so leid!«

Desert lächelte.

»Schwamm drüber!«

»Gut, gut! Willst du mir nicht die Hand geben?«

Desert streckte ihm die Hand entgegen. Michael drückte sie fest. Ein Signal ertönte.

Plötzlich erhob sich Desert und griff nach dem Gepäcknetz über sich. Aus einem Koffer zog er ein Paket. »Da«, sagte er, »dieses elende Zeug! Laß es drucken, wenn du willst.«

Michael würgte etwas in der Kehle.

»Danke, lieber Junge! Das ist ja großartig! Leb wohl!«

Eine Art Schönheit trat in Deserts Antlitz.

»Auf Wiedersehen!« sagte er.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Michael zog seine Ellbogen zurück; ganz still blickte er die unbewegliche Gestalt an, die langsam entschwand. Ein Waggon nach dem andern fuhr an ihm vorbei, voll von Matrosen, die lärmend und singend zum Fenster hinauslehnten und Taschentücher und Flaschen schwenkten. Jetzt kam der Gepäckwagen – das Decklicht – alles verschwommen – ein roter Nebel – nach dem Orient – immer ferner – ferner – verschwunden!

Und nun war es aus – oder? Er zwängte das Paket in seine Manteltasche. Jetzt aber zurück zu Fleur! Der Lauf der Welt – des einen Verlust war des andern Gewinn! Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Verflucht, sie standen ja voll – Pfui, wie sentimental!


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