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9.
Wirrnis

Zwei Stunden, nachdem Bicket gegangen war, schwankte auch Michael heimwärts. Wie gewöhnlich hatte der alte Danby recht – wenn man seinen Packern nicht mehr trauen konnte, dann konnte man ebensogut gleich das Geschäft zusperren. Nun, da er Bickets Augen nicht mehr vor sich hatte, begann er zu zweifeln. Vielleicht hatte der Kerl gar keine Frau. Doch bald mußte er anstatt über Bickets Moral über Wilfrids Benehmen nachdenken. Die letzten drei Mal, da er ihn getroffen hatte, war der gute Wilfrid so kurz angebunden und sonderbar gewesen. Brütete er vielleicht Gedichte aus?

Am Fuß der Treppe fand er Ting-a-ling in abwartender Haltung sitzen. ›Ich werde hier sitzen bleiben‹, schien er zu sagen, ›bis mich jemand hinaufträgt; gleichzeitig möchte ich bemerken, daß es später als gewöhnlich ist!‹

»Wo ist deine Herrin, du kleines Wappentier?«

Ting-a-ling schnüffelte. ›Ich könnte es verzeihen‹, fuhr er stillschweigend fort, ›wenn du mich tragen wolltest, die Stufen sind zu anstrengend für mich.‹

Michael nahm ihn auf den Arm. »Wir wollen sie suchen gehn.«

Dieser Arm preßte ihn etwas unsanfter als der seiner Herrin, und Ting-a-ling starrte mit schwarzen Glasaugen vor sich hin und seine herunterhängende Schwanzquaste zitterte.

Im Schlafzimmer ließ ihn Michael so geistesabwesend niederfallen, daß er mit hängendem Schweif in seine Ecke schlich und sich dort grollend hinkauerte.

Fast zur Zeit zum Dinner und Fleur noch nicht zu Hause! Michael ging, so weit er sich erinnerte, ihre Pläne durch. Heute hatte sie Hubert Marsland und jenen Rotoristen – wie hieß er doch gleich? – zum Lunch gehabt. Danach hatte man wohl tüchtig auslüften müssen. Die Rotoristen verursachten – wie Milch – Kohlensäure in den Lungen. Was, schon halb acht! Was hatten sie denn eigentlich heute abend vor? Wollten sie nicht zu jenem Stück von L.S.D. gehen? Nein – das war morgen. War denn wirklich gar nichts los? In diesem Falle würde sie natürlich ihre freie Zeit so viel wie möglich einschränken. Demütig machte er diese Feststellung. Michael hatte keine Illusionen, er wußte, daß er ein alltäglicher Mensch war; er besaß nur ein gewisses ausgleichendes Temperament und natürlich seine Liebe zu ihr. Er gab sogar zu, daß seine Liebe eine Schwäche war, da er leicht in übertriebene Ängstlichkeit verfiel, was sonst seinen Grundsätzen zuwider lief. Sich zum Beispiel bei Coaker oder Philps – ihrem Diener und ihrem Stubenmädchen – zu erkundigen, wann sie fortgegangen war, wäre ganz gegen jene Grundsätze gewesen. Die Zustände in der Welt waren derart, daß Michael sich ständig fragte, ob seine eigenen Angelegenheiten überhaupt der Aufmerksamkeit wert waren; aber gleichzeitig waren die Zustände in der Welt auch derart, daß manchmal seine eigenen Angelegenheiten das einzige zu sein schienen, was überhaupt der Aufmerksamkeit wert war. Praktisch gesprochen konnte man seine Angelegenheiten mit einem Wort bezeichnen: Fleur! Doch wenn er ihnen zu viel Aufmerksamkeit schenkte, so fürchtete er, ihr lästig zu fallen.

Er ging in sein Ankleidezimmer und knöpfte seine Weste auf. ›Lieber nicht‹, dachte er, ›wenn sie mich beim Heimkommen schon angekleidet findet, so sieht das so absichtlich aus!‹ Er knöpfte seine Weste wieder zu und ging hinunter. Coaker war in der Halle.

»Mr. Forsyte und Sir Lawrence waren um sechs Uhr hier, Sir. Mrs. Mont war ausgegangen. Um welche Zeit soll ich das Dinner servieren?«

»Oh! Ungefähr um viertel neun. Ich glaube nicht, daß wir ausgehn.«

Er ging ins Wohnzimmer, durchschritt seine chinesische Öde und zog den Vorhang zurück. Der Platz lag kalt, dunkel und zugig da und er dachte: ›Bicket – Lungenentzündung – hoffentlich hat sie ihren Pelz an.‹ Er nahm eine Zigarette heraus und steckte sie wieder zurück. Wenn sie ihn am Fenster stehen sähe, würde sie es für eine lächerliche Besorgnis halten. So ging er wieder hinauf, um nachzusehen, ob sie ihren Pelz angezogen hatte!

Ting-a-ling, der noch immer in seiner Ecke lag, grüßte ihn mit wedelndem Schweif, der jedoch plötzlich wie enttäuscht stillstand. Michael öffnete den Schrank. Der Pelz fehlte. Gut! Er sog den Duft ein, als Ting-a-ling an ihm vorbei trottete, und eine Stimme sagte: »Guten Abend, Liebling!« Michael wünschte, daß der Gruß ihm gegolten hätte, und kam hinter der Schranktür hervor. Himmel! Wie reizend sie aussah mit vom Wind geröteten Wangen! Er stand schweigend und nachdenklich.

»Hallo, Michael! Ich hab mich etwas verspätet. Bin im Klub gewesen und zu Fuß nach Haus gegangen.«

Michael hatte ein ganz unerklärliches Gefühl, daß sie ihm etwas verschwieg. Er verschwieg auch etwas und sagte: »Ich wollte gerade nachschauen, ob du deinen Pelz anhast, es ist so scheußlich kalt. Dein Vater und Bart waren hier, und da sie fasten mußten, sind sie wieder weggegangen.«

Fleur warf ihren Mantel ab und ließ sich in einen Stuhl fallen. »Ich bin so müde! Wie hübsch deine Ohren heute abend gespitzt sind, Michael!«

Michael ließ sich auf ein Knie nieder und legte seine Arme um ihre Taille. Ihre Augen blickten so seltsam, so forschend, daß er, ein wenig erschreckt, von bangen Zweifeln gepackt wurde.

»Wenn du Lungenentzündung bekämst«, sagte er, »dann würde ich einfach den Verstand verlieren.«

»Warum in aller Welt soll ich denn Lungenentzündung bekommen?«

»Du kennst den Zusammenhang nicht – macht nichts, es würde dich auch nicht interessieren. Wir gehen nicht aus, nicht wahr?«

»Natürlich gehn wir aus. Heute ist Alisons Empfang.«

»O weh! Aber wenn du müde bist, könnten wir doch absagen.«

»Aber mein Lieber, unmöglich! Die verschiedensten Leute kommen zu ihr.«

Eine abfällige Bemerkung unterdrückend, seufzte er nur: »Ganz recht! In voller Kriegsbemalung?«

»Ja, weiße Weste. Ich seh dich so gern in weißer Weste.«

Kleine Schmeichelkatze! Er drückte ihre Taille und erhob sich. Fleur streichelte ganz leicht seine Hand, und er ging getröstet in sein Ankleidezimmer …

Aber Fleur saß wenigstens fünf Minuten sehr still – nicht gerade eine Beute widerstreitender Empfindungen, aber doch von beträchtlicher Verwirrung erfaßt. Zwei Männer hatten in der letzten Stunde dasselbe getan – vor ihr gekniet und die Arme um ihre Taille gelegt. Es war zweifellos voreilig von ihr gewesen, in Wilfrids Wohnung zu gehen. Erst im Augenblick, als sie dort war, empfand sie deutlich, daß sie in der Tat vollkommen unvorbereitet für irgend etwas Physisches war. Er war ja in Wahrheit nicht weiter gegangen als Michael. Aber – du lieber Gott! – sie hatte das Feuer gespürt, mit dem sie spielte, seine Qualen waren ihr plötzlich klar geworden. Sie hatte ihm streng verboten, Michael ein Wort zu sagen, aber instinktiv begriff sie, daß sie sich in seinem Kampf, beiden gegenüber loyal zu sein, auf gar nichts verlassen könne. Obgleich sie erschrak, verwirrt und gerührt war, konnte sie doch nicht umhin, eine angenehme Wärme zu fühlen, daß sie von zwei Männern zugleich so sehr geliebt wurde, und gleichzeitig war sie neugierig, wie die Sache enden würde. Sie seufzte. Sie hatte ihrer Sammlung von Erfahrungen eine neue hinzugefügt – aber wie sie weiter sammeln konnte, ohne die Sammlung zu beschädigen oder vielleicht sogar die Sammlerin, das war ihr nicht klar.

Nachdem sie zu Wilfrid vor der ›Eva‹ gesagt hatte: ›Du bist ein Narr, wenn du fortgehst, warte!‹, wußte sie, daß irgend etwas, und zwar bald, geschehen müsse. Oft hatte er sie gebeten, zu ihm zu kommen, um seine alten Möbel zu besichtigen. Vor einem Monat, ja vor einer Woche noch wäre sie gegangen, ohne sich zu bedenken, und hätte Michael später von den alten Möbeln erzählt. Aber jetzt sann sie immer wieder darüber nach; und wenn nicht die Kohlensäuredünste des Lunchs gewesen wären und das Gefühl, das von der Gesellschaft des Rotoristen, von Amabel Nazing, von Linda Frewe ausging, nämlich, daß Skrupel solcher Art altmodisch wären, daß Sensationen aller Art das Leben bedeuteten, so würde sie wahrscheinlich noch immer darüber nachdenken. Als die Gäste gegangen waren, hatte sie tief Atem geschöpft und das Hörrohr des Telephons in der chinesischen Teetruhe ergriffen.

Wenn Wilfrid um halb sechs zu Hause wäre, würde sie kommen und seine alten Möbel anschauen.

Seine Antwort: »Mein Gott! Wirklich?« ließ sie fast innehalten. Aber indem sie ihr Zögern mit dem Gedanken überwand: ›Ich will pariserisch – wie Proust sein!‹, war sie in den Klub gegangen. Dreiviertel Stunden verbrachte sie ohne eine andere Anregung als drei Schalen russischen Tees, drei alte Nummern des ›Modespiegels‹, die Rückansicht dreier Mitglieder, Fossilien vom Lande, und achtete schließlich genau darauf, eine Viertelstunde zu spät zu kommen. Im letzten Stockwerk stand Wilfrid in der offenen Tür, bleich wie eine Seele im Fegefeuer. Sanft ergriff er ihre Hand und zog sie herein. Mit einem leichten Schauder dachte Fleur: ›Also so ist es? Du coté de chez Swann?‹ Sie machte ihre Hand los und begann sofort eifrig von einem Möbelstück zum andern zu gehen, alles eingehend besichtigend.

Es waren altenglische Möbel, die an ein Rittergut gemahnten, hie und da ein Stück aus dem Osten oder Ersten Kaiserreich, von irgendeinem Desert gesammelt, der Reisen gemacht oder am französischen Hof gedient hatte. Sie fürchtete sich, Platz zu nehmen, aus Angst, daß dann geschehen könnte, was die führenden Autoritäten der Literatur in solchen Situationen immer geschehen ließen: ebenso wenig wollte sie das intensive Gespräch aus der Tate-Galerie fortsetzen. ›Möbel betrachten‹ war ungefährlich, und nur in den kurzen Zwischenräumen, in denen er sie nicht ansah, blickte sie zu ihm hin. Sie wußte, daß sie sich nicht ganz in der Art der ›Garçonne‹ benahm oder nach den Vorschriften Amabel Nazings; daß sie in der Tat in Gefahr war wegzugehen, ohne eine neue Sensation erlebt zu haben. Sie konnte nichts dafür, aber Wilfrid tat ihr leid; seine Augen suchten flehentlich die ihren, und es war peinvoll, den Zug um seinen Mund zu sehen. Als sie schließlich die Möbel total erschöpft hatte, so daß sie sich niedersetzen mußte, warf er sich ihr zu Füßen. Sie stemmte die Knie gegen seine Brust, und so viel Sicherheit als möglich gewinnend, fühlte sie halb hypnotisiert die Tragik der Sache, sein Entsetzen über sich selbst, seine Leidenschaft für sie. Es ging ihr nahe und tat weh; sie hatte sich verleiten lassen, etwas zu erwarten, was nun in Wirklichkeit ganz anders war. Es fiel gewissermaßen aus dem Rahmen, und wie – wie konnte sie nur davonkommen, ohne ihm und sich selber noch mehr weh zu tun? Als sie schließlich draußen war, ohne den Kuß, den er ihr gegeben hatte, zu erwidern, ward ihr klar, daß sie jetzt eine Viertelstunde wirklich gelebt hatte, aber sie war durchaus nicht sicher, ob es ihr auch gefiele …Nun, da sie sich wieder in ihrem Zimmer in Sicherheit befand und sich für Alisons Gesellschaft umkleidete, versuchte sie sich vorzustellen, was sie wohl gefühlt hätte, wenn die Sache so weit gediehen wäre, wie es nach den führenden Autoritäten der Literatur durchaus in Ordnung war. Ganz bestimmt hatte sie nicht ein Zehntel der Gedanken und Sensationen durchgekostet, die ihr in irgendeinem modernen Literaturwerk angedichtet worden wären. Ihre Illusionen waren etwas zerstört, oder war sie selber nicht auf der Höhe? Und das Gefühl, nicht auf der Höhe zu sein, konnte Fleur nicht ertragen. Während sie leicht ihre Schultern puderte, wandte sie ihre Gedanken der bevorstehenden Gesellschaft bei Alison zu.

 

Obgleich Lady Alison an einer gelegentlichen Zusammenkunft mit der jungen Generation Gefallen fand, so glänzten an ihren Abenden doch die Aubrey Greenes und Linda Frewes nicht durch ihre Anwesenheit. Nesta Gorse allerdings war einmal dagewesen, aber ein Politiker aus Juristen- und zwei aus literarischen Kreisen, die sich mit ihr abgegeben, hatten sich nachträglich über sie beklagt. Sie hatte, wie es schien, mit kleinen, spitzen Pfeilen die eitlen Gewänder ihres Selbstgefühls geritzt. Sibley Swan wäre willkommen gewesen, weil er für die Vergangenheit eine Lanze brach, aber er schien bisher die Dinge von oben zu betrachten. So war es nicht die Intelligenz, sondern nur die intellektuelle Gesellschaft, die versammelt war, als Fleur und Michael eintraten, und die Konversation sprühte von all dem Glanz und dem ›savoir faire‹, das jedem Gespräch über Kunst und Wissenschaft eigen ist, wenn es von denjenigen geführt wird, die, wie Michael sich ausdrückte, glücklicherweise das ›faire‹ nicht zu machen brauchten.

»Trotzdem sind das die Leute«, flüsterte er Fleur ins Ohr, »die Künstlern und Schriftstellern einen Namen machen. Wer ist die große Kanone heute abend?«

Es schien eine Dame zu sein, die zum erstenmal in London auftrat und Volkslieder vom Balkan sang. Aber in einer Nische rechts standen vier Tische zum Bridgespiel bereit. Sie waren schon besetzt. Unter denen, die noch immer umherstanden und zuhörten, waren hie und da ein Gurdon Minho, ein Gesellschaftsmaler und seine Frau oder ein Bildhauer, der auf einen Auftrag wartete. Fleur, die zwischen Lady Feynte, der Frau des Malers, und Gurdon Minho in Person eingekeilt war, begann eine Flucht zu planen. Dort, ja dort war Mr. Chalfont! Fleur, die eine ausgezeichnete Beurteilerin des Milieus war, verschwendete bei Lady Alison nie ihre Zeit an Künstler und Schriftsteller – die konnte sie überall treffen. Hier suchte sie sich instinktmäßig das ›politisch-literarische größte Tier‹ aus, um es festzunageln. Ganz von der Idee besessen, wie sie Mr. Chalfont festnageln könnte, übersah sie ein Drama, das sich draußen abspielte.

Michael war oben auf der Treppe stehengeblieben, da ihm der Sinn nicht nach Unterhaltung und Geplänkel stand. Er lehnte gegen das Geländer; wespenschlank in seiner weißen Weste und die Hände tief in den Hosentaschen, beobachtete er die Drehungen und Windungen von Fleurs weißem Hals und lauschte den Balkanliedern, fast ohne überhaupt zu denken. Bei dem Wort: ›Mont‹ schrak er zusammen. Wilfrid stand gerade unter ihm. Mont! Seit zwei Jahren hatte Wilfrid ihn nicht mehr so genannt.

»Komm herunter!«

Auf dem Treppenabsatz stand eine Büste von Lionel Cherrell, Königlichem Rat, von Boris Strumolowski, in dem Genre, das er aus Zynismus angenommen hatte, als June Forsyte es aufgegeben, seinen wahren, aber nicht anerkannten Genius zu unterstützen. In der Ausstellung der Royal Academy in jenem Jahre war die Büste von den andern fast nicht zu unterscheiden gewesen, und die jungen Cherrells machten sich nun einen Spaß daraus, ihr einen Schnurrbart anzumalen.

Neben dieser Statue lehnte Desert mit geschlossenen Augen an der Wand. Sein Gesicht war für Michael ein Rätsel.

»Was ist geschehen, Wilfrid?«

Desert rührte sich nicht. »Du sollst es wissen. Ich liebe Fleur.«

»Was?«

»Ich mag nicht hinterm Berg halten. Du hast mit mir zu rechnen. Tut mir leid, aber es ist einmal so. Schlag zu!« Sein Gesicht war totenblaß und dessen Muskeln zuckten. Bei Michael war es umgekehrt, sein Herz begann zu zucken. Was für ein ganz abscheulicher und so seltsam schrecklicher Augenblick! Sein bester Freund – sein Brautführer! Instinktiv tastete er nach seinem Zigarettenetui, instinktiv bot er es Desert an. Instinktiv nahmen sie beide Zigaretten und gaben sich gegenseitig Feuer. Dann sagte Michael: »Fleur – weiß es?«

Desert nickte. »Sie weiß nicht, daß ich es dir sage, sie hätte es nicht erlaubt. Du kannst ihr nichts vorwerfen – noch nicht.« Und die Augen geschlossen, fügte er hinzu: »Ich kann nichts dafür.« Das war Michaels eigener unterbewußter Gedanke. Natürlich! Natürlich! Es war absurd, nicht zu sehen, wie natürlich es war. Dann verschloß sich etwas in ihm gegen Desert, und er sagte: »Anständig von dir, es mir mitzuteilen; aber wirst du nun nicht – abreisen?«

Deserts Schultern zuckten gegen die Wand zurück.

»Ich hab es anfangs geglaubt, aber es scheint nicht so.«

»Scheint nicht? Das verstehe ich nicht.«

»Wenn ich ganz sicher wüßte, daß ich keine Aussichten hätte – aber ich weiß es nicht sicher«, und plötzlich blickte er Michael ins Gesicht: »Es hat jetzt keinen Sinn mehr, uns gegenseitig mit Glacéhandschuhen anzufassen. Ich bin verzweifelt, und ich entreiße sie dir, wenn ich kann.«

»Mein Gott!« sagte Michael. »Das geht zu weit!«

»Jawohl! Sag mir's nur gründlich! Aber wenn ich daran denke, daß du jetzt mit ihr heimgehst, während ich –« er stieß ein grauenhaftes kurzes Lachen aus, »dann rate ich dir, mir nichts zu sagen!«

»Gut!« entgegnete Michael. »Da es sich hier um keinen Dostojewskij-Roman handelt, so ist, glaube ich, kein Wort weiter drüber zu verlieren.«

Desert trat einen Schritt vor und legte die Hand auf die Büste Lionel Cherrells.

»Wenigstens begreifst du, daß ich mein möglichstes getan hab – meine Aussichten vielleicht ruiniert – wenn ich dir's jetzt sagte. Ich hab wenigstens keine Bombe geworfen, ohne vorher Krieg erklärt zu haben.«

»Nein«, sagte Michael düster.

»Schmeiß meine Bücher hinaus, irgendein anderer Verleger soll sie übernehmen.«

Michael zuckte die Achseln.

»Also gute Nacht!« sagte Desert. »Tut mir leid, so primitiv zu sein.«

Michael blickte seinem Brautführer gerade ins Gesicht. Den Ausdruck bitterster Verzweiflung darin konnte man nicht mißverstehen. Er machte eine halbe Bewegung mit der Hand, rief halb seinen Namen ›Wilfrid‹ und stieg dann die Treppe empor, während Desert hinunterging.

Als er wieder auf seinem Beobachtungsposten gegen das Treppengeländer gelehnt stand, versuchte er sich weiszumachen, daß das Leben doch eigentlich zum Lachen sei, aber es gelang ihm nicht. Seine Position verlangte die Klugheit einer Schlange, den Mut eines Löwen und die Sanftmut einer Taube; und er war sich nicht bewußt, diese sprichwörtlichen Tugenden zu besitzen. Wenn Fleur ihn so geliebt hätte, wie er sie liebte, so hätte er für Wilfrid wahres Mitgefühl empfinden können. Es war so natürlich, sich in Fleur zu verlieben. Aber sie liebte ihn nicht, o nein, sie liebte ihn nicht! Michael besaß eine Tugend, wenn man es überhaupt eine Tugend nennen konnte: eine bescheidene Meinung von sich selbst und die Neigung, von seinen Freunden nur das Beste zu glauben. Er hatte eine hohe Meinung von Desert gehabt; und – seltsamerweise dachte er auch jetzt nicht niedrig von ihm. Da war sein Freund, der ihm eine tödliche Schmach antun, der ihm die Liebe seiner Frau abspenstig machen wollte, ehrlich gesagt ihre Zuneigung, und dennoch hielt er ihn nicht für einen Schurken. Er wußte, daß eine solche Duldsamkeit fehl am Platze war; aber Willensfreiheit und die Freiheit, sich nach eigenem Ermessen zu binden, waren für ihn nicht nur literarische Begriffe, sie waren ein Teil seiner Natur. Härte, so wünschenswert sie auch immer sein mochte, würde er nicht anwenden können. Und etwas wie Verzweiflung zerriß sein Herz, als er die kleinen Tricks beobachtete, mit denen sich Fleur bei dem großen Gerald Chalfont einzuschmeicheln versuchte. Wenn sie ihn nun Wilfrids wegen verließ? Aber nein, sie würde doch gewiß nicht ihren Vater verlassen – ihr Haus, ihren Hund, ihre Freunde, ihr – ihre Sammlung von – von – sie würde nicht – die konnte sie doch einfach gar nicht aufgeben! Aber wenn sie nun alles behielte? Auch Wilfrid? Nein, nein, das würde sie nicht tun. Nur für eine Sekunde verdüsterte jene Möglichkeit den natürlichen Glauben seines Herzens an sie.

Ja, was war nun zu machen? Es ihr sagen – alles besprechen? Oder abwarten und beobachten? Wozu? Ohne daß er ihr bewußt nachspionierte, konnte er nichts beobachten. Desert würde ihr Haus nicht mehr betreten. Nein! Entweder vollkommene Offenheit oder die Sache vollkommen ignorieren – das aber bedeutete ein Leben mit dem Damoklesschwert über dem Kopf. Nein! Lieber vollkommene Offenheit! Und nur ja nicht so irgend etwas wie eine Falle legen! Seine Hand fuhr über die Stirn, die naß war. Wenn sie nur zu Hause wären, weg von diesem Gekreisch und diesen kultivierten Affen! Konnte er ihr nicht einfach den Arm reichen und sie hinausführen? Unmöglich, ohne irgendeinen Grund! Nur auf Grund seiner Aufregung! Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Der Gesang hörte auf. Fleur blickte sich suchend um. Jetzt würde sie ihn hereinwinken! Im Gegenteil, sie kam zu ihm heraus. Er konnte sich des zynischen Gedankens nicht erwehren: ›Sie hat den alten Chalfont sicher schon geangelt.‹ Er liebte sie, kannte aber ihre kleinen Schwächen. Sie kam auf ihn zu und faßte ihn am Ärmel.

»Ich hab genug, Michael. Wir wollen uns davonschleichen, ist es dir recht?«

»Rasch!« erwiderte er, »ehe sie uns erwischen.«

Draußen in der kalten Luft dachte er: ›Jetzt? Oder in ihrem Zimmer?‹

»Ich glaube«, sagte Fleur, »daß Mr. Chalfont überschätzt wird. Er ist eine einzige unendliche Langeweile. Morgen in einer Woche kommt er zum Lunch.«

Jetzt nicht – in ihrem Zimmer!

»Wen sollen wir mit ihm zusammen einladen, außer Alison?«

»Keine Jazzmenschen.«

»Natürlich nicht, aber jemand, der Sensation macht, Michael. Zum Kuckuck! Manchmal denk ich, es ist überhaupt nicht der Mühe wert.«

Michaels Herz stand still. War das ein Vorzeichen – ein Zeichen des ›Primitiven‹, das in seinem angebeteten Praktikus gesellschaftlicher Künste eben erwachte? Vor einer Stunde noch hätte er gesagt: ›Stimmt, da hast du wahrhaftig recht!‹ Aber nun – war auch das kleinste Anzeichen einer Änderung von ominöser Bedeutung! Er zog seinen Arm durch den ihren.

»Mach dir keine Sorgen, irgendwie werden wir schon die richtigen Biester herausfinden.«

»Ein chinesischer Minister würde gerade passen«, überlegte Fleur, »zusammen mit Minho und Bart – vier Männer – zwei Frauen – gemütlich. Ich muß mit Bart sprechen.«

Michael hatte die Haustüre geöffnet. Sie ging an ihm vorüber; er verweilte noch, um die Sterne zu betrachten, die Platanen, die unbewegliche Gestalt eines Mannes, der den Kragen bis zu den Augen hochgestellt und den Hut tief in die Stirn gedrückt hatte. ›Wilfrid‹, dachte er. ›Spanien! Warum Spanien? Und all die armen Teufel, die im Unglück sind – das Herz – o das verdammte Herz!‹ Er schloß die Tür.

Aber bald darauf mußte er eine andere Tür öffnen, und noch nie hatte er's mit weniger Begeisterung getan. Fleur saß auf der Lehne eines Armstuhls in dem blassen lavendelfarbenen Pyjama, das sie manchmal trug, um die Mode nicht zu versäumen, und starrte ins Feuer. Michael blieb stehen und sah sie an und dann sein eigenes Spiegelbild in einem der fünf Spiegel gegenüber – weiß und schwarz, Pierrot-Pyjamas, die sie ihm gekauft hatte. ›Figuren in einem Stück‹, dachte er. ›Figuren in einem Stück! Ist es denn Wirklichkeit?‹ Er trat vor und setzte sich auf die andere Lehne.

»Zum Teufel!« murmelte er, »ich wollt, ich wäre Antinous!« Und er ließ sich von der Lehne in den Sessel gleiten, um hinter ihrem Gesicht zu sein, wenn sie es vor ihm zu verbergen wünschte.

»Wilfrid hat es mir gesagt«, begann er ruhig.

Nun war es heraus! Was nun? Er sah, wie ihr das Blut in Hals und Wangen stieg.

»Oh! Mit welchem Recht – was meinst du eigentlich, was hat er dir gesagt?«

»Nun gerade, daß er dich liebt – nichts weiter – es ist doch nichts weiter zu sagen, nicht wahr?« Und die Füße auf den Sessel hochziehend, umschlang er mit den Händen fest beide Knie. Er – er hatte schon eine Frage gestellt! Die Zähne zusammenbeißen! Die Zähne zusammenbeißen! Und er schloß die Augen.

»Selbstverständlich«, bemerkte Fleur sehr langsam, »ist nichts weiter zu sagen. Wenn Wilfrid unbedingt so blöd sein will!«

›So blöd sein will!‹ Die Worte kamen ihm ungerecht vor, da seine eigene ›Blödigkeit‹ so jungen Datums, so beharrlich war. Und – wie merkwürdig! – sein Herz tat keinen Sprung. Es hätte doch selbstverständlich einen Sprung tun müssen bei ihren Worten.

»Also bist du jetzt mit Wilfrid fertig?«

»Fertig? Ich weiß nicht.«

Ah! Wer konnte irgend etwas wissen, wenn Leidenschaft im Spiele war!

»Dann«, sagte er, indem er seine ganze, Selbstbeherrschung zusammennahm, »vergiß nicht, daß ich dich schrecklich lieb hab.«

Er sah, wie sie die Schultern hochzog und ihre Lider zuckten.

»Ist das auch richtig?«

Bitter, kameradschaftlich naiv – er konnte wählen. Plötzlich fühlte er, wie ihre Hände ihn bei den Ohren nahmen. Ihn so festhaltend, blickte sie auf ihn nieder und lachte. Aber sein Herz wollte keinen Sprung tun. Wenn sie ihn nicht an der Nase herumführte, dann – –! Doch er zog sie zu sich herunter in den Stuhl. Lavendel und Schwarz-weiß zusammen – sie erwiderte seinen Kuß. Aber kam er vom Herzen? Michael wußte es nicht.


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