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3:
Musik

Weil Fleur und Michael Mont sich von dem bedeutenden und gültigen Gesetz gesellschaftlicher Beziehungen leiten ließen, nicht etwa weil sie sich ein Vergnügen erwarteten, besuchten sie das Konzert von Hugo Solstis. Außerdem waren sie der Meinung, daß Solstis, ein Engländer von russisch-holländischer Herkunft, zu den Erneuerern der englischen Musik gehörte: er befreite sie vom Zwang der Melodie und des Rhythmus und gab ihr so ungehemmte Möglichkeiten der Entwicklung, und zugleich stattete er sie mit literarischen und mathematischen Reizen aus. Niemals konnte man einem Konzert eines Künstlers dieser Schule beiwohnen, ohne beim Weggehen das Wort ›interessant‹ im Munde zu führen. Bei dieser erneuerten englischen Musik einzuschlafen, war ebenfalls ganz unmöglich. Fleur, die einen gesunden Schlaf hatte, hatte es nicht einmal versucht. Michael dagegen hatte es getan und sich danach beklagt, er habe so ungefähr das Gefühl gehabt, auf dem Bahnhof von Lüttich eingenickt zu sein. An diesem Abend hatten sie wieder die Sitze am Mittelgang in der ersten Reihe des Balkons, für die Fleur eine Art selbstverständliches Monopol besaß. Dort konnten Hugo und die übrigen sie sehen, wie sie ihren Platz in der englischen Erneuerungsbewegung einnahm. Von dort konnte man auch leicht in den Korridor entwischen, um mit den Herren Kunstkennern in Koteletten das Wort ›interessant‹ zu tauschen; oder man konnte rasch eine Zigarette dem kleinen goldenen Etui entnehmen, einem Hochzeitsgeschenk der Kusine Imogen Cardigan, um ein oder zwei Züge lang auszuruhen. Ehrlich gesagt, Fleur besaß ein natürliches Gefühl für Rhythmus, das peinlich berührt war während der langen und ›interessanten‹ Stücke, die gewissermaßen des Komponisten Aufstieg und Fall von seinem Dornenbett symbolisierten. Ganz im geheimen liebte sie Melodien, und die Unmöglichkeit, dies jemals zu beichten, ohne Solstis, Baff, Birdigal, Mac Lewis, Clorane und all die andern englischen Erneuerungskomponisten zu verlieren, heischte von ihrer Natur, die ihre spartanischen Züge hatte, manchmal die äußerste Selbstüberwindung. Nicht einmal Michael wollte sie ›beichten‹ und es war obendrein noch eine Qual, wenn er mit seiner angeborenen Respektlosigkeit vor Persönlichkeiten, die das Leben im Schützengraben und im Bureau eines Verlegers noch verstärkt hatte, manchmal murmelte: ›Herrgott! Komm doch endlich zur Sache!‹ oder ›Donnerwetter, dem ist aber übel!‹ Und dabei wußte sie ganz genau, daß Michael die Sache viel besser ertragen konnte als sie selber, da er wissenschaftlich gebildeter war und ihn der Trieb zu tanzen nicht so in den Fußspitzen juckte.

Das erste Thema der neuen Komposition von Solstis, ›Phantasmagoria Piemontesque‹, derenthalben sie eigens gekommen waren, begann mit einigen langgezogenen Akkorden.

»Au weh!« flüsterte ihr Michael ins Ohr. »Drei Möbelstücke werden gleichzeitig über einen Parkettboden geschleift!«

In Fleurs unwillkürlichem Lächeln lag das ganze Geheimnis, warum ihre Ehe doch erträglich war. Schließlich war Michael so ein lieber Kerl! Tiefes Gefühl und quecksilbriger Geist – Spaßmacher und treuer Liebhaber – alles zusammen reizte und rührte sogar ein Herz, das schon vergeben war, ehe es ihm geschenkt wurde. ‹›Gefühl‹ ohne ‹›Reiz‹ hätte sie gelangweilt, ‹›Reiz‹ ohne ‹›Gefühl‹ hätte sie irritiert. In diesem Augenblick kam er ihr höchst anziehend vor! Er hörte jenem Eröffnungsthema in einer Art und Weise zu, die Fleurs Bewunderung erzwang; die Hände hielten die Knie umklammert, seine Ohren standen ab, die Augen waren ganz glasig vor lauter Loyalität zu Hugo und seine Zunge spielte in der Wange. Das Stück war wohl ‹›interessant‹ – während sie scheinbar aufmerksam zuhörte, hing sie innerlich ihren Gedanken nach, wie das jetzt oft bei ihr vorkam. Da drüben saß L. S. D., der ‹›Über-Dramatiker‹; sie kannte ihn nicht – noch nicht. Er sah eigentlich erschreckend aus, sein Haar war so kerzengerade in die Höhe gebürstet. Und sie stellte sich vor, wie er sich gegen den Hintergrund eines chinesischen Bildes und auf ihrem kupfernen Fußboden ausnehmen würde. Und dort – ja! Gurdon Minho! Wie merkwürdig, daß er zu so etwas Modernem ging! Sein Profil sah wirklich etwas römisch aus, Zeitalter des Mark Aurel! Mit dem angenehmen Gedanken, daß morgen um diese Zeit diese Antiquität wahrscheinlich schon ihrer Sammlung angehören würde, ließ sie ihre Blicke weitergleiten und sortierte gewissermaßen die Versammlung, Gesicht um Gesicht, denn sie wollte keine einzige Größe übersehen haben.

Die ‹›Möbelstücke‹ waren ganz plötzlich zur Ruhe gekommen.

»Interessant!« sagte eine Stimme über ihrer Schulter. Aubrey Greene! Ungreifbar, wie mondbestrahlt, mit dem seidenen blonden Haar, das er glatt zurückgestrichen trug, und den grünlichen Augen; wenn er lächelte, wurde sie nie das Gefühl los, daß er sich über sie lustig mache. Aber er war ja auch ein Karikaturenzeichner!

»Ja, nicht wahr?«

Er schlängelte sich davon. Er hätte schon ein wenig länger bleiben können – für irgend einen andern war keine Zeit mehr, ehe Birdigal mit seinen Liedern anfing. Da kam auch schon der Sänger Charles Powls! Wie dick und brav er aussah, wie er so den kleinen Birdigal zum Klavier schleppte.

Eine reizende Begleitung – anmutig plätschernd, melodiös!

Der dicke brave Mann fing an zu singen. Er sang so anders als die Begleitung war! Der Gesang hämmerte mit jeder Note derart auf ihren plexus solaris los, daß ihr mit mathematischer Sicherheit Hören und Sehen verging. Birdigal mußte beim Komponieren in ständiger Angst gelebt haben, daß jemand sein Lied ‹›sangbar‹ finden könnte. Sangbar! Fleur wußte, wie ansteckend das Wort war; wie Masern würde es sich durch die ganze Gesellschaft ausbreiten, und dann war es um Birdigal geschehen! Der arme Birdigal! Aber ‹›interessant‹ war es auf jeden Fall. Nur, wie Michael sagte: »Herrgott noch einmal!«

Drei Lieder! Powls war wundervoll – so loyal! Niemals traf er einen Ton so, daß es wie Musik klang! Ihre Gedanken flatterten zu Wilfrid. Ihm allein von allen jüngeren Dichtern gestand man das Recht zu, etwas zu sagen; das gab ihm eine so eigene Position – er schien aus dem Leben zu kommen und nicht aus der Literatur. Außerdem hatte er allerhand im Krieg geleistet, war ein Sohn von Lord Mullyon, würde wahrscheinlich den Mercer-Preis, eine hohe Auszeichnung, für seine ›Kleine Münze‹ erhalten. Wenn Wilfrid sie verließ, so fiel ein Stern vom Firmament über ihrem Kupferfußboden. Er hatte kein Recht, sie im Stich zu lassen. Er mußte lernen, nicht so heftig zu sein, nicht so – körperlich zu denken. Nein, sie konnte sich Wilfrid nicht entschlüpfen lassen. Sie konnte aber auch keine Sentimentalität mehr in ihrem Leben dulden, keine verzehrende Leidenschaft mehr, die zu nichts führte und nur einen bitteren Nachgeschmack zurückließ. Davon hatte sie genug gekostet. Noch immer spürte sie einen dumpfen, warnenden Schmerz.

Birdigal verbeugte sich, Michael sagte: »Gehn wir hinaus auf eine Zigarette! Das nächste Stück ist eine Niete.« Oh! Ah! Beethoven. Der arme alte Beethoven! So antiquiert – und doch hörte man ihn ganz gern!

Im Korridor und Buffetraum wimmelte es von Anhängern der Restaurationsbewegung. Junge Männer und Frauen mit Gesichtern und Köpfen von lebhaftem und verschrobenem Charakter tauschten untereinander das Wort ›interessant‹. Männer von mehr massivem Typus, die Matadoren mit sitzender Lebensweise glichen, behinderten die Bewegungsfreiheit. Fleur und Michael gingen ein kurzes Stück, lehnten sich dann an die Wand und zündeten ihre Zigaretten an. Fleur rauchte sehr zierlich – eine ganz winzige Zigarette in einer winzigen Bernsteinspitze. Es hatte den Anschein, als ob sie den blauen Rauch viel lieber bewunderte als hervorbrächte. Sie mußte auch an Sphären denken, die jenseits dieser Menge lagen – man konnte nie wissen, wer hier war! – die Sphäre zum Beispiel, in der Alison Cherrell lebte: politisch-literarisch, vorurteilslos im Geschmack, aber wie Michael sich immer ausdrückte, ›so überzeugt davon, daß sie die einzige Gesellschaftssphäre überhaupt sind, ebenso wie ein Gesundheitsapostel von seinem System durchdrungen ist; man muß sich nur ansehn, wie sie fortwährend einer über den andern Memoiren schreiben!‹ Sie fürchtete immer, daß Leute dieser Sphäre das Rauchen der Frauen in öffentlichen Gebäuden vielleicht nicht billigen würden. Auf eine vorsichtige Weise den Bilderstürmern sich anschließend, vergaß sie doch nie, daß sie mit ihren beiden Beinen zumindest in zwei ganz verschiedenen Welten stand. Während sie beobachtete, was links und rechts von ihr vorging, bemerkte sie an die Wand gelehnt einen, dessen Gesicht hinter dem Programm verborgen war. ›Wilfrid‹, dachte sie, ›und er tut so, als sähe er mich nicht!‹ Gekränkt wie ein Kind, dem man einen Sixpence stibitzt hat, sagte sie: »Dort ist Wilfrid! Hol' ihn her, Michael!«

Michael ging zu seinem Brautführer hinüber und berührte seinen Arm. Desert blickte stirnrunzelnd von seinem Programm auf. Sie sah, wie er die Achseln zuckte, sich umwandte und in der Menge verschwand. Michael kam zurück.

»Wilfrid hat heute abend einen Rappel; er sagt, er paßt heute nicht in menschliche Gesellschaft – sonderbarer Kauz!«

Wie blind die Männer doch waren! Michael bemerkte nichts, weil Desert sein Freund war, und das war ein Glück! So war Wilfrid fest entschlossen, sie zu meiden! Na, man würde ja sehen! Und sie sagte: »Ich bin müde, Michael, gehen wir nach Hause.«

Er ließ die Hand durch ihren Arm gleiten.

»Das tut mir leid, mein Herz, gehn wir!«

Einen Augenblick blieben sie in einer Seitentür stehen, um Woomans, den Dirigenten, zu beobachten, der zum Orchester hinaufstürzte.

»Da schau ihn an«, sagte Michael, »wie eine Vogelscheuche, die man aus einem venetianischen Fenster hinausgehängt hat und deren ausgestopfte Arme und Beine im Winde flattern! Und schau die Frapka und ihren Flügel an – welch turbulentes Paar!«

Ein seltsamer Ton erklang.

»Himmel, eine Melodie!« sagte Michael.

Ein Diener murmelte leise: »Jetzt muß ich die Tür schließen.« Fleur sah noch einmal flüchtig L. S. D., der mit geschlossenen Augen, aufrecht wie seine Frisur, dasaß. Die Tür wurde geschlossen – sie standen draußen im Vestibül

»Wart hier, mein Schatz, ich werd ein Wägelchen auftreiben.«

Fleur vergrub ihr Kinn im Pelz. Es herrschte östlicher Wind und Kälte. Da sagte eine Stimme hinter ihr: »Nun, Fleur, soll ich ostwärts gehn?«

Wilfrid! Den Kragen bis zu den Ohren hochgestellt, die Zigarette zwischen den Lippen und die Hände in den Taschen, so verschlang er sie mit dem Blick.

»Wilfrid, du bist wirklich albern!«

»Alles was du willst. Soll ich ostwärts gehn?«

»Nein, Sonntag vormittag – elf Uhr in der Tate-Galerie. Wir wollen alles durchsprechen.«

»Abgemacht!« Und fort war er.

Wie sie so plötzlich wieder allein war, fühlte Fleur zum ersten Mal die erschreckende Wirklichkeit. Würde Wilfrid sich wirklich nicht zur Vernunft bringen lassen? Ein Taxi fuhr vor, Michael winkte, Fleur stieg ein.

Als sie an einer grell beleuchteten Gruppe junger Damen vorbeifuhren, die den interessierten Londonern die höchste Vollendung Pariser Unangezogenheit vorführten, fühlte sie, wie Michael sich zu ihr neigte. Wenn sie Wilfrid behalten wollte, mußte sie nett zu Michael sein. Nur: »Du brauchst mich nicht gerade in Piccadilly Circus zu küssen, Michael!«

»Tut mir leid, Kätzchen! Es war ein bißchen verfrüht – ich wollte dich gerade gegenüber dem ›Partheneum‹ erwischen.«

Fleur erinnerte sich, wie er die ersten vierzehn Tage ihrer Flitterwochen auf einem unbequemen spanischen Sofa geschlafen hatte; wie er immer darauf bestand, daß sie kein Geld für ihn ausgeben solle, und daß sie sich immer noch von ihm schenken lassen mußte, was ihm gefiel, obgleich sie dreitausend Pfund im Jahr erhielt und er nur zwölfhundert; wie er aus dem Häuschen geriet, wenn sie nur einen Schnupfen hatte, und wie er immer zum Tee nach Hause kam. Ja, er war wirklich ein lieber Kerl! Aber würde ihr das Herz brechen, wenn er morgen nach dem Osten oder Westen ginge?

Während sie an ihn geschmiegt dasaß, war sie überrascht von ihrem eigenen Zynismus.

In der Halle lag ein Zettel mit einer telephonischen Mitteilung: ›Bitte, sagen Sie Mrs. Mont, daß Mr. Gurdon Minho kommt. Lady Alison.‹

Das war eine Beruhigung. Eine wirkliche Antiquität! Sie drehte die Lichter an und stand einen Augenblick in Bewunderung ihres Zimmers versunken. Wirklich hübsch! Ein leichtes Schnaufen kam aus der Ecke. Ting-a-ling lag goldbraun auf seinem schwarzen Kissen wie ein kleiner chinesischer Löwe da, fremd und erhaben, er hatte gerade seine Abendunterhaltung an den Gittern des Platzes beendet.

»Ja, du bist auch da!« sagte Fleur.

Ting-a-ling rührte sich nicht. Seine runden, schwarzen Augen beobachteten, wie seine Herrin sich entkleidete. Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, war er schon zu einer Kugel zusammengerollt. Fleur dachte: ‹›Sonderbar! Woher weiß er, daß Michael heute abend nicht zu mir kommt?‹ Und in ihr gut gewärmtes Bett schlüpfend, rollte auch sie sich zusammen und schlief ein.

Aber ganz gegen ihre Gewohnheit erwachte sie während der Nacht. Ein langer, unheimlich gedehnter Ruf erklang – von irgendwoher – von der Themse – von den Elendsvierteln in der Nähe; Erinnerungen stiegen auf – heftig, schmerzhaft – an ihre Flitterwochen – Granada, seine Dächer tief unten, Jet, Elfenbein, Gold; des Wächters Ruf, die Verse in Jons Brief:

›Ruf in der Nacht! Tief unten im Dunkel der alten
Schlafenden spanischen Stadt, unter den weißen Sternen!
Was will der Ruf? – Sein angstvoll dauernd Klagen?
Ist's der des Wächters, der sein zeitlos Lied der Ruhe singt?
Ist's nur ein Wandersmann, der Lieder singt dem Mond?
Nein! Ein Beraubter ist's, des liebend Herz der Klage voll.
Es ist sein Schrei: Wie lang noch?‹

Ein Ruf, oder hatte sie es nur geträumt? Jon, Wilfrid, Michael! Vergeblich, ein Herz zu haben!


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