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Dritter Teil


1.
Pfingstmontag

Am Pfingstmontag wies die Hampstead Heath die alljährliche Überflutung von Menschen auf, und in dem sich ergießenden Schwarm befanden sich zwei, die gewillt waren, am Vormittag das Geld zu verdienen, das sie am Nachmittag ausgeben wollten.

Tony Bicket, mit seiner Frau und seinen Ballons, bestieg zeitig früh die Untergrundbahn nach Hampstead.

»Du wirst schon sehen«, sagte er, »bis zwölf Uhr werd ich den ganzen Krempel verkauft haben, und dann gehen wir uns tüchtig amüsieren.«

Victorine drückte seinen Arm und fühlte durch ihr Kleid nach einer leichten Schwellung, gerade über dem rechten Knie. Sie war durch vierundfünfzig Pfund verursacht, die oben in ihrem Strumpf steckten. Gegen die Ballons hatte sie jetzt keinen solchen Widerwillen mehr. Der Verdienst daraus reichte gerade für die Nahrung, bis sie die wenigen Pfund beisammen hatte, die noch zu dem Überfahrtspreis fehlten. Tony glaubte noch immer, er würde die Rettung aus dem Erlös seiner Luftballons herauspressen. Er hoffte halt immer, der Tony, obgleich sie beide von seinen Einnahmen gerade nur das nackte Leben fristeten. Und sie lächelte. Mit ihrem Geheimnis konnte sie es sich leisten, jetzt gegen das Stigma des Hausierens am Randstein gleichgültig zu sein. Sie hatte schon eine Geschichte bereit. Die nötigen Informationen über Rennen hatte sie sich aus dem Abendblatt erworben und aus den Unterhaltungen auf Autobussen mit Leuten, die ein Interesse an diesem nationalen Zeitvertreib hatten. Sie sprach sogar mit Tony darüber, der das wußte, was man so auf der Gasse hörte. Sie hatte sich schon die Geschichte von zwei erfundenen Glücksfällen haarklein ausgedacht. Einen Sovereign, den sie mit dem Nähen erfundener Blusen verdient haben wollte, hatte sie auf den Gewinner des Zweitausend-Guineen-Preises gesetzt, und den Gewinn wieder auf einen der beiden Sieger im toten Rennen des Jubiläumspreises zu langen Odds gewettet. Dies und ein dritter Sieger, den sie noch sorgfältig aussuchen müßte, würde ihre erfundenen Gewinne zu den notwendigen sechzig Pfund anschwellen lassen, die sie jetzt sehr bald mit Hilfe des ›Evakostüms‹ verdient haben würde. Dieses Märchen würde sie Tony in ein oder zwei Wochen auftischen, würde rasch und gut vorbereitet von dem wunderbaren Glück erzählen, das sie vor ihm geheimgehalten hätte, bis das ganze Geld beisammen wäre. Wenn er ihr zu scharf in die Augen sähe, würde sie ihre Stirn dicht an seine Augen schmiegen und seine Lippen küssen, bis er nicht mehr klar denken könnte. Und am Morgen würden sie erwachen und die Billette zur Überfahrt lösen. Das war der Plan Victorines, die fünf Zehnpfundnoten und vier Einpfundnoten in ihrem Strumpf verborgen hielt, der an dem rosaseidenen Mieder befestigt war.

›Der Nachmittag einer Dryade‹ war schon längst fertig und mit andern Werken von Aubrey Greene in der Dumetrius-Galerie ausgestellt. Victorine hatte einen Shilling geopfert, um das Bild zu sehen, hatte ein paar heimliche Minuten davor gestanden, um den weißen Körper zu betrachten, der aus Gras und spitzen Blumen hervorleuchtete, und das dem Beschauer zugewandte Gesicht, das zu sagen schien: ›Ich weiß ein Geheimnis!‹

»Ein genialer Kerl, dieser Aubrey Greene – das Gesicht da ist ganz famos!« Victorine hatte erschrocken ihr Gesicht versteckt und war hinausgeschlüpft.

Von dem Tag an, da sie zitternd vor Aubrey Greenes Atelier gestanden, hatte sie unablässig Arbeit gehabt. Er hatte sie dreimal gemalt, war immer nett, immer höflich gewesen, ganz Gentleman. Dann hatte er ihr Empfehlungen gegeben. Einige hatten sie in Kleidern gemalt, einige halb drapiert und manche in jenem ›Evakostüm‹, das ihr nun gar keine Sorgen mehr machte, da das Geld in ihrem Strumpf anschwoll und Tony keinerlei Verdacht hegte. Nicht jeder war ›nett‹ zu ihr gewesen; manche hatten versucht, sich ihr zu nähern, aber sie hatte alles im Keim erstickt. Auf solche Art hätte sie das Geld wohl rascher beisammen gehabt, aber – Tony! In vierzehn Tagen jedoch würde sie schon auf alles pfeifen können. Und manchmal blieb sie auf ihrem Heimweg vor dem Schaufenster stehen und betrachtete die Früchte, das Korn und die blauen Schmetterlinge …

In dem vollgepfropften Waggon saßen sie nebeneinander, Bicket mit dem Verkaufskasten auf dem Schoß, und debattierten darüber, welches der beste Standplatz wäre.

»Mir gefällt's bei den Eseln am besten«, sagte er schließlich, »oben beim Teich. Da haben die Leute noch mehr Geld, als wenn sie erst hinunter zu den Schaukeln und Kokosnüssen kommen; und du kannst gehn und dich am Teich in einen Sessel setzen, grad wie am Strand – ich will dich nicht bei mir haben, bis ich alles verkauft hab.«

Victorine drückte seinen Arm.

Über den Hügel und die Heath hinunter nach Norden und Süden wogte der feiertägliche Schwarm in bester Laune, und alle trugen Papierdüten. Rund um den Teich herum pantschten Kinder mit grauweißen, magern, spindeldürren Beinen und schrillem Geschnatter und waren so zufrieden, daß sie nicht einmal lächelten. Ältliche Paare mit dicken Bäuchen krochen langsam vorüber, die Gesichter hochrot durch das ungewohnte Steigen. Mädchen und junge Männer gab es hier nur wenige, denn die hatten sich schon im Gelände zerstreut, um tollere Unterhaltungen zu suchen. Hunderte saßen auf Bänken, in Sesseln von grüner Leinwand oder gestrichenem Holz und betrachteten sinnend ihre Füße, als würden sie von den Wellen des Meeres bespült. Manchmal trugen drei Esel, von hinten angetrieben, in langsamem Zotteltrab ihre Bürde um den Teich herum. Händler schrien ihre Waren aus. Dicke, dunkelhaarige Frauen sagten die Zukunft voraus. Schutzleute standen zynisch daneben. Ein Mann redete und redete und sammelte mit dem Hut ab.

Tony Bicket richtete seinen Kasten her. In seinem Vorstadtdialekt pries er mit einschmeichelnder, etwas heiserer Stimme unaufhörlich seine bunte Ware an. Das konnte man sich gefallen lassen! Das Geschäft ging flott! Hin und wieder spähte er über die Menge hinweg zum Teich hinüber, wo Victorine wahrscheinlich in einem Sessel von Segeltuch saß und – das wußte er – so ganz anders aussah als alle andern. »Schöne Ballons – schöne Ballons! Sechs für einen Shilling! Einen großen, meine Damen? Nur Sixpence. Schauen Sie nur die Größe an! Kaufen Sie, kaufen Sie! Einen Ballon für Ihren Kleinen!«

›City-Magnaten‹ gab es hier nicht, wohl aber spendierten viele Leute gern ihr Geld für ein bißchen bunte Herrlichkeit!

Fünf Minuten vor zwölf klappte er seinen Kasten zusammen – kein verflixter Ballon mehr übrig! Wenn die Woche sechs solche Feiertage hätte, wäre er ein gemachter Mann! Mit dem Kasten unterm Arm schritt er rund um den Teich herum. Den Kleinen ging's gut hier draußen, aber – Herrje – wie dürr und blaß sie waren! Wenn er und Vic ein Kleines hätten – aber das ging ja nicht – erst wenn sie einmal dort draußen sein würden! Ein dickes, braunes Kind, das den blauen Schmetterlingen nachjagte und vor Sonne glühte! Am Ende des Teiches angekommen, ging er langsam die Sesselreihen entlang. Zurückgelehnt, elegant, mit übereinandergeschlagenen Beinen, die bis zu den Knien sichtbar waren, in braunen Strümpfen und hübschen braunen Halbschuhen mit überhängenden Zungen. – Herrgott! was für ein Prachtweib sie war, und hier war sie in ihrem Element! Etwas würgte Bicket in der Kehle. Verdammt! Er brauchte Kleider für sie!

»Na, Vic! Woran denkst du?«

»Ich hab gerade an Australien gedacht.«

»Ah, das liegt noch verflucht weit weg. Macht nichts – ich hab das ganze Zeug verkauft. Was sollen wir jetzt tun, unter den Bäumen Spazierengehen oder sofort zu den Schaukeln?«

»Zu den Schaukeln«, sagte Victorine.

Im ›Tal der Gesundheit‹ war die Menge in begeisterter Stimmung. Sie flutete langsam auf und ab und ohne viel zu reden, begleitet von den Ausrufen der Budenbesitzer und der Eigentümer von Schaukeln und Kokosnüssen. »Zielen Sie auf die Kokosnüsse! Versuchen Sie Ihr Glück! Einen Penny der Wurf! …Wer will schaukeln? …Frisches Eis … Schöne Bananen!«

Auf dem riesigen Karussell unter dem großen Dach waren die dreißig an Ketten aufgehängten Sitze mit Mädchen und Männern gefüllt. Rund herum zur Musik – langsam – rascher, herumwirbelnd, soweit es die Kette zuließ, zurückgebeugte Körper, vorgestemmte Beine, Gelächter und verstummendes Gespräch, feierliche Gesichter, ein wenig verloren, und Hände, die die Kette fest umklammert hielten. Rascher, rascher, dann langsamer, immer langsamer, bis alles stillstand und die Musik schwieg.

»Herrlich!« flüsterte Victorine. »Komm, Tony!«

Sie traten in die Umzäunung ein und nahmen Platz. Victorine, die außen saß, stemmte instinktiv ihre Füße einen über den andern fest, und energisch die Ketten packend, bog sie den Körper je nach der Drehung. Ihre Lippen standen offen: »Herrjeh! Tony!«

Rascher, rascher – jeder Nerv und Sinn der Bewegung hingegeben! O – o! Das war Gefühl – so herumzufliegen hoch über der Welt! Schneller – schneller! Langsamer – langsam, und dann war man wieder auf der Erde.

»Tony, es ist himmlisch!«

»Es ist so ein komisches Gefühl im Magen, wenn man so weit hinausschwingt.«

»Ich möcht gern bis zum Dach hinaufschwingen, versuchen wir's noch einmal!«

»Einverstanden.«

Sie versuchten's noch zweimal – der halbe Profit von seinen Ballons! Aber was lag daran? Er sah ihr begeistertes Gesicht so gern. Danach sechs Würfe nach den Kokosnüssen, ohne eine zu treffen, für jedes ein Eis; dann gingen sie, Arm in Arm, sich einen Platz suchen, um ihren Lunch zu essen. Diese Zeit nach dem Ingwerbier und den belegten Broten genoß Bicket am meisten; da rauchte er seine billige Zigarette und schaute in den blauen Himmel, den Kopf in ihrem Schoß. Lange blieben sie so sitzen; schließlich rührte sie sich.

»Schauen wir zu, wie sie tanzen!«

Auf einem eingefriedeten Grasplatz, um den ein Pfad herumlief, wiegten sich etwa zwei Dutzend Paare zur Musik.

Victorine zog ihn am Arm. »Ich möcht so gern eine Runde tanzen!«

»Ja, gehn wir«, sagte Bicket. »Dieser einbeinige Bursche da soll inzwischen meinen Kasten halten.«

Sie traten in den Kreis ein.

»Halt mich fester, Tony!«

Bicket gehorchte. Das war ihm ja gerade recht; und langsam bewegten sie die Füße – nach links und nach rechts. Sie kamen nur langsam vorwärts, sich drehend und den Takt haltend, unbekümmert darum, welchen Eindruck sie machten.

»Du kannst gut tanzen, Tony.«

»Und du tanzt famos!« schnaufte Bicket.

In den Pausen standen sie keuchend da und ließen den Einbeinigen nicht aus den Augen; dann begannen sie wieder, bis die Kapelle endgültig schwieg.

»Du!« sagte Victorine. »Auch an Bord des Schiffes kann man tanzen, Tony!«

Bicket kniff sie in die Taille. »Ich werd die Sache schon deichseln, und wenn ich auch die Bank von England plündern müßt. Es gibt nichts, was ich nicht für dich tun könnt, Vic.«

Aber Victorine lächelte. Sie hatte die Sache schon gedeichselt.

Die gutgelaunte Menschenmenge strich müde mit erhitzten, schmutzigen Gesichtern und muffig riechend über ein Schlachtfeld, das dicht besät war mit Papiertüten, Bananenschalen und Zeitungen.

»Wir wollen Tee trinken und noch einmal schaukeln«, sagte Bicket, »dann wollen wir auf die andere Seite hinüber unter die Bäume gehn.«

Drüben auf der andern Seite waren viele Paare. Die Sonne ging gemächlich unter. Die beiden setzten sich unter einen Busch und beobachteten ihr Versinken. Ein leiser Windhauch war zu spüren und raschelte in den Birkenblättern. Hier draußen vernahm man wenig von menschlichen Stimmen. Hierher schienen alle gekommen zu sein, die Ruhe suchten und still auf die Dunkelheit warteten. Hie und da ging ein Polizeispitzel vorüber und beobachtete.

»Füchse!« sagte Bicket. »Herrgott! Ich möcht ihnen die Nasen in den Dreck reiben!«

Victorine seufzte und schmiegte sich dichter an ihn.

Jetzt spielte jemand Banjo, eine Stimme sang. Es wurde dämmerig, aber irgendwo mußte der Mond aufsteigen, denn über den Boden hin huschten kleine Schatten.

Sie sprachen flüsternd. Es schien unrecht zu sein, mit lauter Stimme zu sprechen, als läge der Hain verzaubert da. Sogar ihr Flüstern wurde seltener. Tau fiel, aber sie achteten nicht darauf. Mit verschlungenen Händen, die Wangen aneinandergeschmiegt, saßen sie ganz still beieinander. Bicket kam ein Gedanke. Das war Poesie – ganz gewiß! Nun war es dunkel geworden, ein schwacher, silbriger Schimmer lag über alles gebreitet, von der Spaniards Road her tönte betrunkenes Singen, das Rattern verspäteter Wagen, die vom Land zurückkamen – und plötzlich schrie eine Eule.

»Ach Gott!« flüsterte Victorine erschauernd, »eine Eule! Denk nur! In Norbiton hab ich oft eine gehört. Hoffentlich verkündet sie kein Unheil!«

Bicket stand auf und streckte sich. »Komm!« sagte er. »Das war ein Tag! Daß du dich ja nicht erkältest!«

Arm in Arm suchten sie sich langsam ihren Weg durch die Dunkelheit des Birkenhains bergauf – froh über die Laternen und die Straßen und den überfüllten Bahnhof, als hätten sie schon zu viel der Einsamkeit genossen.

Als sie zusammengepfercht in der Untergrundbahn saßen, blätterte Bicket gleichgültig in einer herrenlosen Zeitung. Victorine jedoch hatte an so viel zu denken, daß es war, als dächte sie an gar nichts. An die Schaukeln, den Hain in der Dunkelheit und das Geld in ihrem Strumpf. Sie wunderte sich, daß Tony nicht bemerkt hatte, wie es knisterte, es gab aber auch keinen Platz, der sicherer wäre! Was starrte er denn da so an? Sie lugte hinüber und las: ›Nachmittag einer Dryade. Das interessante Bild von Aubrey Greene, ausgestellt in der Dumetrius-Galerie.‹

Das Herz stand ihr still.

»Alle Wetter!« sagte Bicket, »schaut das nicht genau so aus wie du?«

»Wie ich? Aber nein!«

Bicket hielt die Zeitung dichter vor die Augen. »Doch! Es ist genau wie du von oben bis unten. Ich werd mir das ausschneiden. Das Bild möcht ich gern sehn.«

Ihr Herz, das jetzt heftig klopfte, trieb ihr das Blut in die Wangen.

»Es ist nicht anständig!« sagte sie.

»Weiß nicht! Aber es sieht dir verdammt ähnlich. Sogar dein Lächeln ist drauf.«

Er faltete die Zeitung zusammen und riß das Bild heraus. Victorines kleiner Finger hielt krampfhaft die Banknoten in ihrem Strumpf.

»Komisch«, sagte sie langsam, »daß es Leute in der Welt gibt, die einem so ähnlich sehn.«

»Ich hätt nie gedacht, daß es noch so eine geben könnt wie dich. Charing Cross. Umsteigen!«

Als sie durch die dunklen Gänge der Untergrundbahn dahineilten, stahl sich ihre Hand in seine Tasche, und bald flatterten einige kleine Papierschnitzel hinter ihr, während sie ihm in dem Gedränge folgte. Wenn er sich nur nicht erinnerte, wo das Bild hing!

In der Nacht lag sie wach und dachte: ›Es ist mir ganz egal Ich muß noch das übrige Geld dazuverdienen. Basta!‹

Aber es war ihr so merkwürdig dabei zu Mute wie einem Menschen, der plötzlich den schwankenden Rand eines Sumpfes unter den Füßen spürt.


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