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5.
Eva

Die Wohnung des Honourable Wilfrid Desert lag gegenüber der Bildergalerie der Cork Street. Er war das einzige männliche Mitglied der Aristokratie, dessen Verse überhaupt jemand drucken wollte. Er hatte diese Zimmer mehr wegen ihrer ruhigen Lage als wegen ihrer Bequemlichkeit gemietet. Seine Möbel jedoch waren mit dem Geschmack und Luxus ausgestattet, von dem die reichen Häuser Englands überfließen. Als Wilfrid einzog, hatte Lord Mullyon, der cornische Edelmann, zwei Möbelwagen voll von Einrichtungsgegenständen von seinem Landsitz in Hampshire geschickt. Man fand Wilfrid aber selten zu Hause und hielt ihn für einen Sonderling wegen seiner ziemlich einzigartigen Position unter den jüngeren Schriftstellern, und weil er im Ruf eines Nomaden stand. Er wußte vielleicht selbst kaum, wo er seine Zeit zubrachte oder seine Sachen schrieb, da er an einer Art krankhafter Angst vor geschlossenen Räumen litt, an einer Furcht, daß andere seine Freiheit beschränken könnten. Als der Krieg ausbrach, hatte er gerade Eton verlassen; nach Beendigung des Krieges war er dreiundzwanzig und fühlte sich so alt wie nur je ein junger Mann, der ein Gedicht zustandegebracht hat. Seine Freundschaft mit Michael, die im Spital begonnen hatte, war eingeschlafen und dann plötzlich zu neuem Leben erwacht, als Michael im Jahre 1920 in die Verlagsfirma Danby & Winter, Blake Street, Covent Garden, eintrat. Wilfrids Verse hatten den leichtsinnigen Enthusiasmus des emporkommenden Verlegers geweckt. Wilfrid mußte unbedingt literarisch festen Fuß fassen und die vertraulichen gemeinsamen Mahlzeiten hatten damit geendet, daß die Firma den eindringlichen Vorstellungen Michaels nachgab. Sie berauschten sich gegenseitig an dem ersten Buch, das Wilfried geschrieben und bei dem Michael Pate gestanden, und Michaels Hochzeitsfest setzte allem die Krone auf. Brautführer! Seit damals war Desert an jene beiden gebunden, so weit er überhaupt an irgend etwas gebunden sein konnte; doch um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war es ihm erst seit einem Monat klar geworden, daß die Anziehungskraft nicht von Michael, sondern von Fleur ausging. Desert sprach niemals vom Krieg. Es war unmöglich, aus seinem eigenen Munde ein Bekenntnis zu hören, das etwa folgendermaßen gelautet hätte: ›Ich habe so lange zwischen Grauen und Tod gewohnt; ich habe die Menschen kennengelernt, wie sie zuinnerst sind; ich habe die Hoffnung auf irgend etwas so gründlich aus meinem Wesen getilgt, daß ich nie mehr den geringsten Respekt vor Theorien, Versprechungen, Konventionen, Prinzipien und Morallehren haben kann. Ich habe die Menschen zu sehr gehaßt, die darin geschwelgt haben, während ich in Dreck und Blut schwelgte. Die Illusion ist weg. Keine Religion und keine Philosophie kann mich befriedigen – Worte, nichts als Worte. Ich habe noch meine Sinne, aber ihr Verdienst ist es nicht. Ich bin noch immer, wie ich finde, der Leidenschaft fähig; ich kann noch mit den Zähnen knirschen und grinsen; ich hab noch etwas von dem Kameradschaftsgefühl des Schützengrabens in mir, aber ob das Wirklichkeit ist oder nur ein Komplex, das weiß ich noch nicht. Ich bin gefährlich, aber nicht so gefährlich wie jene, die in Worten handeln, in Theorien, Prinzipien und allen Arten von fanatischem Idiotismus, der sich in Blut und Schweiß anderer Menschen auswirkt. Eines hat mich der Krieg gelehrt: das Leben als Komödie zu betrachten. Darüber lachen – das einzige, was einem übrigbleibt!‹

Als er Freitag abend das Konzert verlassen hatte, war er sofort nach Hause gegangen. Er warf sich der Länge nach auf eine Mönchsbank aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die mit seidenen Federkissen aus dem zwanzigsten restauriert worden war, verschränkte die Arme unter dem Kopf und gab sich folgenden Gedanken hin: ›So wird es nicht weiter gehen. Sie hat mich verzaubert. Für sie bedeutet es gar nichts, aber für mich ist es die Hölle. Am Sonntag werd ich Schluß machen – in Persien ist man gut aufgehoben. Auch in Arabien ist man gut aufgehoben – Blut und Sand genug. Sie ist unfähig, irgend etwas aufzugeben. Wie sie mich bestrickt hat! Bestrickt durch ihre Augen, ihre Haare, ihren Gang und den Klang ihrer Stimme, bestrickt durch Wärme, Duft und Farbe. Die Brücken hinter sich abbrechen – das wird sie nie tun! Was dann? Soll ich an ihrem chinesischen Kamin herumlungern mit dem kleinen chinesischen Hund? Und immer dieses Fieber, diese Qual, weil ich sie nicht küssen kann? Lieber möcht ich wieder zwischen den feindlichen Granaten fliegen. Sonntag! Wie die Frauen es lieben, Höllenqualen zu verlängern! Es wird nur wieder dasselbe sein wie heute nachmittag. Wie unliebenswürdig von dir, fortzugehen, wo mir deine Freundschaft so kostbar ist! Bleib und sei doch meine zahme Katze, Wilfrid! Nein, meine Liebe, diesmal wirst du es nicht so leicht haben. Und ich auch nicht. Bei Gott!‹

Als sich am Sonntagmorgen die zwei jungen Leute in jener Galerie, die auch britischer Kunst ein Asyl bietet, vor der ›Eva‹ trafen, die an den Blumen im Garten Eden riecht, waren noch sechs Mechaniker da, in schmierigen Kleidern und übermüdet aussehend, ein Aufseher und ein Paar aus der Provinz, von denen keiner fähig schien, auch nur das geringste zu bemerken. Und tatsächlich war diese Zusammenkunft ganz unauffällig. Zwei junge Leute jener Klasse, die keine Ideale mehr hat, verdammten gemeinsam die Vergangenheit. Desert mit seiner scheinbar gleichgültigen Sprechweise, seinem Lächeln und seiner elegant-unkonventionellen Art ließ kein sehnendes Herz vermuten. Fleur war von beiden die bleichere und interessantere. Desert sagte fortwährend zu sich selbst: ›Nur kein Theater – denn etwas anderes würde es nicht sein!‹ Und Fleur dachte: ›Wenn ich ihn so in diesem ruhigen Zustand halten kann, so werd ich ihn nicht verlieren, denn solang es nicht zu einem Ausbruch seiner Leidenschaft kommt, wird er nicht weggehen.‹

Erst als sie ein zweites Mal vor der ›Eva‹ standen, sagte er: »Ich weiß nicht, warum du mich herbestellt hast, Fleur. Es hat keinen Sinn, so herumzuspielen. Ich verstehe dein Gefühl sehr gut. Ich bin ein Porzellan aus deiner Sammlung, das du nicht verlieren willst. Aber das Spielen behagt mir nicht, meine Liebe, und damit basta!«

»Wie abscheulich von dir, Wilfrid!«

»Also, hier trennen wir uns! Gib mir die Pfote!«

Er blickte sie lächelnd, aber mit einem dunklen, schicksalsschweren Blick seiner schönen Augen an, und sie sagte stammelnd: »Wilfrid, ich – ich weiß nicht. Ich brauche Zeit. Ich kann es nicht ertragen, dich unglücklich zu sehen. Geh nicht fort! Vielleicht werd ich – auch unglücklich sein. Ich – ich weiß nicht!«

Desert schoß der bittere Gedanke durch den Kopf: ›Sie kann nichts loslassen – sie versteht es einfach nicht!‹ Aber er entgegnete ganz sanft: »Kopf hoch, mein Kind! In vierzehn Tagen wirst du's überwunden haben. Ich werd dir etwas schicken – zum Trost. Warum soll ich nicht nach China gehn – ein Land ist so gut wie das andere? Ich werd dir ein Stück Porzellan aus der Ming-Periode schicken, ein besseres Zeitalter als dieses.«

Fleur sagte leidenschaftlich: »Hör auf, du beleidigst mich!«

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich will dich nicht so böse zurücklassen.«

»Was willst du eigentlich von mir?«

»Oh! Ach, laß! Das hieße wieder von vorn anfangen. Und übrigens hab ich auch seit Freitag nachgedacht. Ich will nichts weiter, Fleur, als deinen Segen und deine Hand. Gib sie mir! Los!«

Fleur legte ihre Hand auf den Rücken. Es war zu demütigend! Er hielt sie für eine kaltblütige Sammlerin, für eine kleine Katze, die Mäuse packte und mit ihnen spielte, obzwar sie sie nicht fressen wollte!

»Du glaubst, ich bin aus Eis«, sagte sie und ihre Zähne nagten an der Oberlippe. »Nun, da irrst du dich!«

Desert blickte sie an; sein ganzes Unglück lag in diesem Blick. »Ich habe deinen Stolz nicht aufstacheln wollen«, sagte er. »Machen wir ein Ende, Fleur. Es hat keinen Sinn.«

Fleur wandte sich ab und schaute die ›Eva‹ an – ein ungestümes Frauenzimmer, ohne Sorge, gierig sog sie den Duft der Blumen bis zur Neige ein. Warum nicht auch so sorglos sein und alles mitnehmen, was einem in den Weg kam? So viel Liebe gab es doch nicht in der Welt, daß man vorübergehen konnte, ohne den Duft der Blumen einzuatmen, ohne sie zu pflücken. Davonlaufen! Nach dem Osten gehen! So etwas Extravagantes konnte sie sich natürlich nicht leisten! Aber, vielleicht – – was lag daran? – Diesen Mann oder jenen, wenn man keinen wirklich liebte!

Unter den gesenkten, weißen, dunkel bewimperten Lidern hervor sah sie den Ausdruck seines Gesichtes und daß er regungsloser dastand als die Statuen. Und plötzlich sagte sie: »Du bist ein Narr, wenn du fortgehst. Warte!« Und ohne ein weiteres Wort oder einen Blick ging sie davon und ließ Desert atemlos vor dem Bild der gierigen Eva stehen.


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