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Vorwort

Wenn ich den zweiten Teil der Forsyte-Chronik ›Moderne Komödie‹ nenne, so ist der Ausdruck Komödie in seinem weitesten Sinn zu verstehen, genau so wie das Wort Saga im Titel des ersten Teils. Und dennoch: muß man nicht eine so aufrührerische Zeit wie die Nachkriegsperiode mit den Augen des Komödiendichters betrachten, muß man nicht ihre komödienhaften Elemente herausfühlen? Muß eine Epoche, die nicht weiß, was sie will, und sich dennoch mit ganzer Kraft für die Erreichung ihres Zieles einsetzt, nicht ein Lächeln hervorrufen, wenn auch nur ein trauriges Lächeln?

Ein Zeitalter in allen seinen Farben und Formen künstlerisch darzustellen, übersteigt die Kraft jedes Schriftstellers und geht darum auch weit über die Kraft des Autors dieses Buches. Aber zweifellos wirkte ein gewisses Bestreben, etwas von dem Geist dieser Zeit einzufangen und zu gestalten, dabei mit, als er diese Trilogie zu Papier brachte. Es ist eine unmögliche Aufgabe, durcheinander rennende Küchlein zu zählen, und ebenso unmöglich, die rasch abrollenden Ereignisse der Gegenwart in ihrer Gesamtheit zu erfassen; im besten Fall gelingt eine Momentaufnahme all dieses Drängens und Hastens, dieses Hastens einer Zukunft entgegen, ohne jede Vorstellung davon, wo sie zu suchen und zu finden ist und welcher Art sie sein wird.

Das England von 1886 – das Jahr, in dem ›Die Forsyte Saga‹ beginnt – besaß ebensowenig eine Zukunft wie das von heute, denn das damalige England erwartete die Fortdauer seiner Gegenwart. England fuhr gemächlich auf seinem Zweirad wie in einem Traum, den nur zwei Schreckgespenster störten: Mr. Gladstone und die irischen Parlamentsmitglieder.

Das England von 1926 – das Jahr, mit dem die ›Moderne Komödie‹ schließt – steht mit einem Bein in der Luft und mit dem andern in einem Auto neuester Konstruktion. Es rennt im Kreis herum wie ein Katzenjunges, das nach seinem Schwanz hascht, und brummt vor sich hin: ›Wenn ich nur wüßte, wo ich halt machen möchte!‹

Da heutzutage alles relativ ist, kann man sich nicht mehr vollkommen auf Gott verlassen, ebensowenig wie auf den Freihandel, die Ehe, auf Konsols, Kohle, oder auf seine Stellung in der Gesellschaft. Und da ganz England übervölkert ist, kann niemand lange an einem Ort bleiben, ausgenommen in entvölkerten ländlichen Gegenden, die – wie man gestehen muß – allzu öde sind und zweifellos ihre Bewohner nicht ernähren können.

Jedem, der dieses vier Jahre währende Erdbeben erlebt hat, ist die Gewohnheit, still zu stehen, abhanden gekommen.

Und dennoch hat sich der englische Charakter vielleicht überhaupt nicht oder doch nur sehr wenig geändert. Das bewies der Generalstreik im Jahre 1926, mit dem der letzte Teil dieser Trilogie beginnt. Wir sind noch immer ein Volk, das sich nicht drängen läßt, jedem Extrem mißtraut, mit der Verteidigungswaffe eines gesunden Humors ausgestattet ist, wir sind temperamentvoll mit Maß, voll Abneigung gegen jedwede Einmischung, sorglos und verschwenderisch, und mit einer gewissen genialen Fähigkeit begabt, uns wieder aufzuraffen. Wenn wir auch sonst fast an gar nichts glauben, so glauben wir doch immer noch an uns selbst. Diese hervorstechende Eigenschaft des Engländers ist wohl einer näheren Betrachtung wert. Warum, zum Beispiel, setzen wir uns beständig selbst herab? Einfach darum, weil wir keinen Minderwertigkeitskomplex haben und es uns gleichgültig ist, was andere von uns denken. Kein Volk der Welt scheint äußerlich weniger selbstsicher zu sein; und doch besitzt kein anderes Volk mehr innere Sicherheit. Im übrigen könnten diejenigen Persönlichkeiten, die sich der Dienste gewisser öffentlicher Fanfarenbläser der Nation versichert haben, daran denken, daß es schon einen versteckten Minderwertigkeitskomplex verrät, wenn man selbst seine Taten in allen Gassen ausposaunt. Nur wer stark genug ist, über sich selbst zu schweigen, wird stark genug sein, sich innerlich sicher zu fühlen. Die Epoche, in der wir leben, begünstigt eine falsche Beurteilung des englischen Charakters und der Stellung Englands. In keinem andern Land ist die Entartung der Rasse so wenig wahrscheinlich wie auf dieser Insel, weil kein anderes Land ein so wechselvolles, das Temperament mäßigendes Klima hat, das die Grundlage für ein mutiges und gesundes Leben bildet. Was hier weiter folgt, sollte von diesem Gesichtspunkt aus gelesen werden.

Im gegenwärtigen Zeitalter ist nichts mehr zu finden, das an den Früh-Viktorianismus gemahnt. Unter Früh-Viktorianismus verstehe ich die Epoche der alten Forsytes, die im Jahre 1886 schon im Schwinden begriffen war; was sich als lebensfähig erwiesen hat, ist der selbstbewußtere Viktorianismus Soames' und seiner Generation, der jedoch nicht selbstbewußt genug ist, um entweder selbstzerstörend oder selbstvergessend zu wirken. Vom Hintergrund dieses mehr oder minder feststehenden Ausmaßes von Selbstbewußtsein heben sich am klarsten Farbe und Gestalt der gegenwärtigen, außerordentlich selbstbewußten und alles in Frage stellenden Generation ab. Den alten Forsytes: dem alten Jolyon, Swithin und James, Roger, Nicholas und Timothy kam es nie in den Sinn zu fragen, ob das Leben auch lebenswert sei. Sie fanden es interessant, waren Tag für Tag vollständig davon in Anspruch genommen, und wenn sie auch nicht gerade an ein zukünftiges Leben glaubten, so glaubten sie doch felsenfest an die fortschreitende Besserung ihrer Position im Leben und an die Anhäufung von Schätzen für ihre Kinder. Dann kamen der junge Jolyon, Soames und ihre Zeitgenossen, und obzwar sie mit dem Darwinismus und dem Universitätsstudium auch bestimmte Zweifel an einem zukünftigen Leben eingesogen hatten und genügend Einsicht, sich zu fragen, ob sie selbst sich fortschrittlich entwickelten, so bewahrten sie sich doch den Sinn für Eigentum und den Wunsch, ihre Nachkommen zu versorgen und in ihnen weiterzuleben. Als das Viktorianische Zeitalter mit dem Tode der Königin zu Ende ging, kam eine neue Generation ans Ruder, mit neuen Ideen über Kindererziehung, eine Generation, die infolge der neuen Verkehrsmittel und des Weltkriegs sich für die Umwertung aller Werte entschied. Und da, wie es scheint, das persönliche Eigentum sehr wenig Zukunft hat und das Leben noch weniger, ist man um jeden Preis entschlossen zu leben, ohne sich viel um das Schicksal etwaiger Nachkommen zu kümmern. Nicht daß die gegenwärtige Generation ihre Kinder weniger liebte als die frühere – in so elementaren Dingen ändert die menschliche Natur sich nicht –, sondern es scheint ganz einfach nicht mehr der Mühe wert, die Zukunft auf Kosten der Gegenwart zu sichern, wenn nirgends in der Welt mehr absolute Sicherheit zu finden ist.

Hierin liegt eigentlich der fundamentale Unterschied zwischen der jetzigen und den früheren Generationen. Die Menschen wollen nicht mehr für etwas vorsorgen, was sie nicht voraussehn können.

All das bezieht sich natürlich nur auf jenes Zehntel der Bevölkerung, das die besitzende Klasse ausmacht; unter den übrigen neun Zehnteln gibt es keine Forsytes und es besteht daher kein Anlaß, sich in diesem Vorwort mit ihnen abzugeben. Und überdies, welcher Durchschnittsengländer mit einem Jahreseinkommen von weniger als dreihundert Pfund hat sich je über die Zukunft den Kopf zerbrochen, das Früh-Viktorianische Zeitalter mitinbegriffen?

Diese ›Moderne Komödie‹ spielt sich also vor dem Hintergrund eines mehr oder minder ausgeprägten Selbstbewußtseins ab, das vor allem durch Soames und Sir Lawrence Mont, den Leichtgewichtler und neunten Baronet, und an zweiter Stelle durch einige Neu-Viktorianer, wie den selbstgerechten Mr. Danby, Elderson, Mr. Blythe, Sir James Foskisson, Wilfred Bentworth und Hilary Cherrell, verkörpert wird. Wenn man alles in allem nimmt, ihre Neigungen und Abneigungen, ihre Eigenschaften und Charaktere, so erhält man ein ziemlich feststehendes und umfassendes Bild der Vergangenheit, von der sich die Gestalten der Gegenwart: Fleur und Michael, Wilfrid Desert, Aubrey Greene, Marjorie Ferrar, Norah Curfew, Jon, der ›Raffaelit‹ und andere Nebengestalten abheben. Selbst in der besitzenden Klasse ist die Mannigfaltigkeit der Menschentypen so groß, daß sie sich nicht einmal in zwanzig Romanen schildern ließe, so daß diese ›Moderne Komödie‹ notwendigerweise eine arge Unterschätzung der gegenwärtigen Generation sein muß, aber vielleicht nicht unbedingt eine Verleumdung. Da Symbolismus langweilt, hoffe ich, daß eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Schicksal Fleurs und dem ihrer Generation – die einem Glück nachjagt, dessen man sie beraubt hat – der Aufmerksamkeit des Lesers entgeht. Tatsache bleibt, daß wenigstens für den Augenblick die Jugend sich balancierend auf den Fußspitzen der Unsicherheit dreht. Wohin wird das führen? Wird man endlich doch das Glück erjagen? Wie wird sich alles klären? Werden sich die Dinge überhaupt jemals wieder klären, wer weiß es? Werden neue Kriege und neue Erfindungen kommen, brühheiß auf die früheren, die noch nicht verarbeitet und gemeistert sind? Oder wird das Schicksal ein zweites Intervall eintreten lassen, gleich der Viktorianischen Ära, währenddessen das Leben, in seinem ganzen Werte neuerkannt, feste Formen annehmen und der Sinn für Besitz mit allen damit zusammenhängenden Dogmen eine Wiedergeburt erleben wird?

Unabhängig davon, ob nun die ›Moderne Komödie‹ den Geist dieses Zeitalters mehr oder weniger widerspiegelt, führt sie doch in der Hauptsache die Geschichte von Soames und Irene weiter, die mit ihrer ersten Begegnung in einer Gesellschaft zu Bournemouth im Jahre 1881 beginnt und nicht eher enden kann, bis Soames sechsundvierzig Jahre später von dieser Erde Abschied nimmt.

Wenn man den Autor, wie dies oft geschieht, über Soames befragt, so weiß er nicht genau zu sagen, wo er mit ihm hinauswollte. Alles in allem war Soames zweifellos ein ehrlicher Mann. Er lebte und handelte nach seiner besondern Art, nun ist er tot. Man wird seinem Schöpfer verzeihen, wenn er das Ende Soames' für berechtigt hält. Denn so weit wir uns auch von griechischer Kultur und Philosophie entfernt haben mögen, so gilt doch noch immer die Wahrheit des griechischen Spruches: ›Was ein Mensch am meisten liebt, das wird ihn am Ende vernichten.‹

John Galsworthy


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