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5.
Fleurs Seele

»Mrs. Val Dartie, gnädige Frau.«

Dieser Name wirkte wie ein Finger, der plötzlich die Wurzel des Ischiasnervs berührt. Holly! Sie hatte sie nicht mehr gesehen seit dem Tag, da sie Jon nicht heiratete. Holly. Eine Flut von Erinnerungen – Wansdon, das Hügelland, die Kiesgrube, der Obstgarten mit den Apfelbäumen, der Fluß, das Wäldchen in Robin Hill! Nein! Es war kein angenehmes Gefühl, Holly wiederzusehen und sie sagte: »Wie schrecklich nett von dir herzukommen!«

»Ich habe deinen Mann heute nachmittag in der Green Street getroffen, er hat mich eingeladen. Was für ein reizendes Zimmer!«

»Ting! Komm her und laß dich vorstellen! Das ist Ting-a-ling; ist er nicht vollkommen? Er ist heute schlechter Laune wegen des neuen Affen. Wie geht es Val und dem lieben Wansdon? Es war so wunderbar friedlich.«

»Es ist ein hübscher Ruhesitz. Mir wird es niemals langweilig.«

»Und–« sagte Fleur mit einem kurzen, harten Lachen, »Jon?«

»Er zieht Pfirsiche in Nord-Carolina. Britisch-Kolumbien hat ihm nicht zugesagt.«

»Oh! Ist er verheiratet?«

»Nein.«

»Er wird wohl eine Amerikanerin heiraten?«

»Du weißt doch, daß er noch nicht zweiundzwanzig ist.«

»Ach du lieber Gott!« rief Fleur, »bin ich wirklich erst einundzwanzig? Ich komme mir wie achtundvierzig vor.«

»Das kommt daher, weil du in der großen Welt lebst und so viele Menschen siehst – –«

»Und keinen wirklich kennen lerne.«

»Aber tust du denn das nicht?«

»Nein, man tut es nicht. Ich meine, wir duzen alle einander, aber sonst – –«

»Dein Mann gefällt mir sehr gut.«

»Oh, freilich, Michael ist ein lieber Kerl. Wie geht es June?«

»Ich habe sie gestern getroffen – sie hat natürlich wieder einen neuen Maler – Claud Brains. Ich glaube, er gehört zu den – wie heißen sie nur? – Rotoristen.«

Fleur biß sich auf die Lippen.

»O ja, es gibt ihrer schon viele. June glaubt wahrscheinlich, daß er der einzige sei.«

»Zumindest glaubt sie, daß er ein Genie ist.«

»Sie ist ein wunderbarer Mensch.«

»Ja«, sagte Holly, »das loyalste Geschöpf der Welt, solange sie in einen vernarrt ist. Es ist wie auf einer Hühnerfarm – wenn die Küchlein ausgebrütet sind – –. Hast du jemals Boris Strumolowski gesehn?«

»Nein.«

»Dann suche ja nicht seine Bekanntschaft.«

»Ich kenne seine Büste von Michaels Onkel. Sie ist ziemlich normal.«

»Ja, June hielt sie für Kitsch, und das hat er ihr niemals verziehen. Natürlich war es einer. Sobald ihr Küken Geld verdient, sucht sie sich ein anderes. Sie ist ein Prachtkerl.«

»Ja«, murmelte Fleur, »ich habe June auch gern gehabt.«

Noch eine Flut von Erinnerungen – eine Teestube, die Themse, Junes kleines Wohnzimmer in der Green Street, wo sie ihr Hochzeitskleid abgelegt und Junes blaue Augen zu ihr aufgeblickt hatten. Sie ergriff das Bild des Affen und hielt es hoch.

»Ist das nicht ein Abbild des Lebens?« Wäre ihr das je eingefallen, wenn es Aubrey Greene nicht gesagt hätte? Trotzdem klang es im Augenblick ganz echt.

»Der arme Affe«, sagte Holly. »Affen tun mir immer so leid! Aber das Bild ist wundervoll, glaube ich.«

»Ja. Ich werd es hier aufhängen. Wenn ich noch eines bekomme, werd ich dieses Zimmer fertig eingerichtet haben; man ist jetzt auf chinesische Sachen so versessen! Dies da war ein Glücksfall – es ist jemand gestorben – George Forsyte, der Turfmensch, weißt du.«

»Oh!« sagte Holly sanft. Sie sah wieder die spöttischen Augen ihres Verwandten in der Kirche, als Fleur getraut wurde, hörte sein heiseres Flüstern: ›Wird sie das Rennen überstehn?‹ Und überstand sie es auch, dieses hübsche Füllen? ›Wenn sie nur einmal ausruhen würde! Wenn man nur eine Einsiedelei bei der Hand hätte!‹ Na, eine so persönliche Frage konnte man nicht stellen, und Holly nahm ihre Zuflucht zu einer allgemeinen Bemerkung.

»Was haltet ihr eleganten jungen Leute alle eigentlich heutzutage vom Leben, Fleur? Wenn man nicht dazu gehört und zwanzig Jahre in Südafrika gelebt hat, fühlt man sich noch immer als nicht dazu gehörig.«

»Das Leben! Ach ja, wir wissen, daß es ein Rätsel sein soll, aber wir haben das Raten aufgegeben. Wir wollen uns nur amüsieren, weil wir nicht glauben, daß irgend etwas dauern kann. Aber ich glaube nicht einmal, daß wir das verstehn. Wir leben in den Tag hinein und warten immer darauf. Es gibt natürlich noch die Kunst, aber die meisten von uns sind ja keine Künstler. Und außerdem – der Expressionismus – Michael sagte, es steckt nichts dahinter. Wir schwätzen darüber, aber ich glaube, er hat recht. Ich verkehre mit einer schrecklichen Menge von Schriftstellern und Malern, weißt du; sie sollen angeblich amüsant sein.«

Holly hörte erstaunt zu. Wer hätte gedacht, daß diese junge Frau urteilen konnte? Sie mochte vielleicht falsch urteilen, aber auf jeden Fall hatte sie ein Urteil.

»Aber sicherlich macht euch das alles Freude?« sagte sie.

»Na ja, ich habe nette Sachen und interessante Leute gern; ich sehe mir gern alles an, was neu ist und der Mühe wert oder wenigstens im Augenblick so scheint. Aber das ist es ja gerade: nichts dauert. Siehst du, ich gehöre nicht zu den ›Freudenjägern‹ und auch nicht zu den ›Couéisten‹.«

»Couéisten?«

»Oh! Kennst du die nicht? Es ist eine Art Gesundbeten an sich selbst. Nicht ganz das alte ›Gütiger Gott, Gott, du Gütiger!‹ Sondern so eine Art Mischung von Willenskraft, Psychoanalyse und dem Glauben, daß alles über Nacht gut wird, wenn man nur sagt, es wird gut. Du mußt doch auch von ihnen gehört haben. Sie meinen es schrecklich ernst.«

»Ich weiß«, sagte Holly, »ihre Augen leuchten.«

»Kann sein. Ich glaube nicht an sie – ich glaube überhaupt an niemand oder an irgend etwas – ganz fest. Wie kann man nur?«

»Was ist's mit den einfachen Leuten und schwerer Arbeit?«

Fleur seufzte. »Kann sein. Michael, zum Beispiel – der ist nicht verwöhnt. Wir wollen Tee trinken. Tee, Ting?« Sie drehte das Licht auf und klingelte.

Als ihre unerwartete Besucherin gegangen war, saß sie ganz still vor dem Feuer. Heute, da so wenig dazu gefehlt hatte, daß sie Wilfrid erhört hätte! Also Jon war nicht verheiratet! Nicht, daß es die Dinge hätte ändern können! Im Leben endeten die Geschichten nicht so wie in Romanen. Und auf jeden Fall war Gefühl ein Blödsinn! Weg damit! Sie warf ihr Haar zurück, holte Hammer und Nägel und machte sich daran, den weißen Affen aufzuhängen. Zwischen den beiden Teetruhen mit den farbigen Perlmutterfiguren würde er sich am vorteilhaftesten ausnehmen. Da sie Jon nicht haben konnte, was lag daran – Wilfrid oder Michael, beide oder keinen? Die Orange essen, die man in der Hand hielt, und dann die Schale wegwerfen! Und plötzlich merkte sie, daß Michael im Zimmer war. Er war ganz still hereingekommen und stand hinter ihr vor dem Feuer. Sie warf einen raschen Blick auf ihn und sagte: »Aubrey Greene war hier wegen eines Modells, das du ihm geschickt hast, und Holly – Mrs. Val Dartie – sie sagte, sie hätte dich getroffen. Oh! und Vater hat uns das da mitgebracht. Ist es nicht vollkommen?«

Michael sagte kein Wort.

»Ist irgendwas los, Michael?«

»Nein, nichts.« Er trat zu dem Affen. Fleur, die jetzt hinter ihm stand, suchte in seinem Profil zu lesen. Der Instinkt verriet ihr eine Änderung. Hatte er sie am Ende doch zu Wilfrid gehen oder herauskommen sehen?

»Ein Prachtstück, dieser Affe!« sagte er. »Ich wollte dich fragen, ob du ein paar Kleider entbehren kannst für die Frau eines armen Teufels – nichts zu Großartiges?«

Sie antwortete mechanisch: »Ja, gewiß!«, während ihr Gehirn fieberhaft arbeitete.

»Möchtest du sie zurechtlegen? Ich mache ein paar Sachen von mir für ihn zurecht, sie könnten zusammen hingeschickt werden.«

Ja! Er war ein ganz anderer als sonst, als ob die Feder in ihm abgelaufen wäre. Es wurde ihr ganz elend zumute. Michael nicht gut gelaunt! Es war, als wenn an einem kalten Tag das Feuer ausgegangen wäre. Und vielleicht kam es ihr zum ersten Mal zum Bewußtsein, daß seine gute Laune wirklich für sie von Bedeutung war. Sie beobachtete ihn, wie er Ting-a-ling aufnahm und sich niedersetzte. Sie trat hinter ihn und beugte sich über ihn, bis ihr Haar seine Wange berührte. Doch anstatt seine Wange gegen ihre zu reiben, rührte er sich nicht, und ihr ahnte nichts Gutes.

»Was ist geschehen?« fragte sie schmeichelnd.

»Nichts!«

Sie nahm ihn bei den Ohren. »Aber es ist doch etwas. Wahrscheinlich hast du irgendwie erfahren, daß ich bei Wilfrid war.«

Er sagte steinern: »Warum solltest du nicht dort gewesen sein?«

Sie ließ ihn los und richtete sich gerade auf. »Ich bin nur hingegangen, um ihm zu sagen, daß ich ihn nie wieder sehen will.« Diese halbe Wahrheit schien ihr die ganze zu sein.

Er blickte plötzlich auf, ein Beben lief über sein Gesicht; er ergriff ihre Hand. »Schon gut, Fleur. Du mußt natürlich tun, was du für richtig hältst. Das ist nur fair. Ich hab zu viel zum Lunch gegessen.« .

Fleur zog sich in die Mitte des Zimmers zurück. »Du bist wirklich ein Engel«, sagte sie langsam und ging hinaus.

Als sie oben war, suchte sie mit verwirrtem Herzen die Kleider heraus.


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