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6.
Abrechnung

Halbblind stolperte Bicket den ›Strand‹ entlang. Von Natur aus gutmütig, fühlte er sich in diesem Gefühlssturm krank und ganz wirr im Kopf. Sonnenschein und Bewegung gaben ihm langsam Kraft zum Denken zurück. Er hatte nun die Wahrheit erfahren. Aber war es die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Konnte sie denn das viele Geld verdient haben, ohne – –? Wenn er das glauben könnte, dann könnte er vielleicht vergessen – in einem andern Land, wo die Leute sie nicht für einen Shilling nackt sehen konnten. Aber – so viel Geld! Doch selbst wenn alles ›ehrlich‹, wie Mr. Mont es nannte, verdient war, in wieviel Tagen und den Augen von wieviel Männern preisgegeben? Er stöhnte laut auf der Straße. Der Gedanke, zu ihr nach Hause zu gehen, an eine Szene und was er erfahren würde, wenn es wirklich eine Szene gäbe, war unerträglich. Und doch, das war wohl nicht zu umgehen. Neben der St. Paulskathedrale, am Randstein stehend und Ballons verkaufend, so wäre ihm wohler gewesen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er Privatier, auch so ein verdammter ›Magnat‹, der nichts weiter zu tun brauchte, als hinzugehen und sich eine Fahrkarte nach dem Land der verflixten Schmetterlinge zu nehmen! Und diese Muße verdankte er einem Zustand, den ein Mann von seiner einfachen Denkungsart einfach nicht ertragen konnte! Lieber hätte er das Geld aus einer Ladenkasse gestohlen. Lieber hätte er das auf dem Gewissen gehabt, als die Qual dieser teuflischen sexuellen Eifersucht gelitten. ›Seien Sie doch ein Mann!‹ Leicht gesagt! ›Nehmen Sie sich zusammen! Sie hat es doch für Sie getan!‹ Hundertmal lieber wär's ihm gewesen, daß sie's nicht getan hätte. Die Blackfriars-Brücke! Ein Sprung und Schluß machen in dem Schlamm da drunten? Aber dreimal würde man wieder an die Oberfläche kommen müssen; man würde ihn lebendig wieder herausfischen und dann brummen lassen – und nichts wäre gewonnen – nicht einmal die Genugtuung, daß Vic einsehen würde, was sie angestellt hatte, wenn sie käme, um die Leiche zu agnoszieren. Tot war tot und niemals würde er erfahren, was sie nachher fühlen würde. Gerade vor sich hinstarrend, schlich er über die Brücke. Da war die kleine Seitengasse, die er immer so rasch hinuntergeeilt war, zurück zu ihr, als sie Lungenentzündung hatte! Würde er nun nie mehr so empfinden können wie damals? Er strich am Fenster vorbei und ging hinein.

Victorine beugte sich noch immer über den braunen Blechkoffer. Sie richtete sich gerade auf und in ihr Gesicht trat ein kalter, müder Ausdruck. »Ich seh schon«, sagte sie, »daß du es weißt.«

In dem kleinen Zimmer konnte Bicket nur zwei Schritte machen und diese zwei Schritte tat er und legte ihr die Hände auf die Schultern. Sein Gesicht war ihrem ganz nahe und seine großen verstörten Augen durchforschten die ihren.

»Ich weiß, daß du dich hast ausstellen lassen, daß ganz London dich angaffen kann. Was ich wissen will, ist – das Übrige!«

Victorine erwiderte seinen starren Blick: »Das Übrige!« sagte sie – es war keine Frage, nur eine Wiederholung seiner Worte mit einer Stimme, die gar keinen Ausdruck hatte.

»Ja!« sagte Bicket heiser, »das Übrige. – Nun?«

»Wenn du glaubst, daß es noch ein ›Übriges‹ gibt, so genügt mir das.«

Bicket zog die Hände rasch von ihren Schultern. »Ach, um Himmels willen, laß doch die Geheimniskrämerei! Ich hab schon halb den Verstand verloren!«

»Das merk ich«, sagte Victorine. »Und ich merk auch etwas anderes. Du bist nicht der, für den ich dich gehalten hab. Glaubst du vielleicht, ich hab es gern getan?« Sie hob ihr Kleid und zog die Banknoten hervor. »Da hast du! Du kannst allein nach Australien gehen.«

Bicket schrie heiser: »Und dich soll ich wohl hier bei den verdammten Malern lassen!«

»Du brauchst dich nicht weiter um mich zu kümmern. Da, nimm!«

Aber Bicket wich zur Tür zurück und starrte voller Abscheu die Banknoten an. »Fällt mir nicht ein.«

»Na, ich behalt sie auch nicht. Ich hab sie verdient, um dich von hier wegzubringen.«

Ein langes Schweigen folgte, während die Banknoten zwischen ihnen auf dem Tische lagen, noch zerknittert und ein wenig fettig – dieses langersehnte erträumte Mittel zur Befreiung, zu gemeinsamem Glück in der Sonne. Dort lagen sie, und keines wollte sie nehmen! Was nun?

»Vic«, flüsterte Bicket endlich heiser, »schwöre, daß du dich nie von ihnen hast angreifen lassen!«

»Ja, das kann ich schwören.«

Und sie konnte sogar lächeln – das war ihr Lächeln! Wie sollte er ihr glauben, wo sie so lange Monate das Geheimnis vor ihm bewahrt und ihm schließlich eine Lüge gesagt hatte? Er sank in einen Stuhl am Tisch und legte den Kopf auf die Arme.

Victorine wandte sich ab und begann einen alten Strick um den Koffer zu schnüren. Bei dem blechernen Ton hob er den Kopf. Sie wollte also wirklich fort! Er sah sein Leben verwüstet und leer wie eine Kokosnuß auf der Hampstead Heath; und in seinem kleinlichen Herzen schmolz sein ganzer Trotz. Tränen rollten aus seinen Augen. »Als du krank warst«, sagte er, »hab ich für dich gestohlen. Deshalb hat man mich hinausgeschmissen.«

Sie fuhr herum. »Tony, das hast du mir ja nie gesagt! Was hast du denn gestohlen?«

»Bücher. Alles, was ich dir extra zum Essen mitgebracht hab, kam von Büchern.«

Eine lange Minute sah sie ihn an, dann streckte sie, ohne ein Wort zu sagen, die Hände aus. Bicket ergriff sie.

»Mir ist jetzt alles ganz egal«, keuchte er, »Gott helfe mir, solange du mich noch gern hast, Vic!«

»Mir ist auch alles eins. Ach, fahren wir doch weg, Tony – fort aus diesem schrecklichen kleinen Zimmer und diesem schrecklichen Land. Fort von allem!«

»Ja«, sagte Bicket und legte ihre Hände auf seine Augen.


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