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11.
Erledigt

Nachdem Michael seine Mission dem jungen Butterfield gegenüber ganz vergessen, hatte er in der Halle ein wenig gezögert. Schließlich war er nicht wieder hinauf-, sondern leise ausgegangen. Er ging am Parlament vorbei und Whitehall hinauf. Auf dem Trafalgar Square fiel ihm ein, daß er ja auch einen Vater habe. Bart war wohl im Snooks-Klub, im ›Coffee House‹ oder im ›Aeroplane‹; und mit dem Gedanken, daß er sich bei ihm ein wenig ausruhen könnte, suchte er das modernste der drei Lokale auf.

»Ja, Sir Lawrence Mont ist in der Halle.«

Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da und wartete, die Zigarette zwischen den Fingerspitzen, auf jemand, der mit ihm plaudern würde.

»Ah, Michael! Kannst du mir vielleicht sagen, warum ich überhaupt hier bin?«

»Um auf das Ende der Welt zu warten, Sir?«

Sir Lawrence grinste. »Das ist eine Idee«, sagte er. »Wenn die Götter die Zivilisation zerschmettern, so werden hier auf dem Anschlagbrett die letzten und zuverlässigsten Telegramme zu lesen sein. Der Wunsch, bei der Schlußszene auch dabei zu sein, ist vielleicht die stärkste unserer Leidenschaften. Es wäre mir sehr peinlich, in die Luft gesprengt zu werden, besonders nach dem Dinner; aber noch peinlicher wäre es mir, die nächste Sensation zu versäumen, wenn es eine wirklich interessante wäre. Die Luftbombardements waren doch schließlich ein großer Spaß.«

Michael seufzte.

»Jawohl«, sagte er, »der Krieg hat uns daran gewöhnt, an das Tausendjährige Reich zu denken, und dann ging der Krieg zu Ende und ließ das Tausendjährige Reich unerreichbar über uns in der Luft hängen. Jetzt werden wir keine Ruhe mehr finden, bis wir es erreichen. Kann ich eine Zigarre haben, Sir?«

»Mein lieber Junge! Ich habe Fraser wieder gelesen. Es ist merkwürdig, wie unbedeutend aller Aberglaube jetzt scheint, wo wir die endgültige Wahrheit gefunden haben: daß eine Erkenntnis niemals allgemeingültig sein kann.«

Michael, der sich gerade eine Zigarre anzünden wollte, hielt inne.

»Glauben Sie das wirklich, Sir?«

»Was sonst kann man denn glauben? Wer kann heute noch vernünftigerweise zweifeln, daß mit Hilfe der Mechanik der halsstarrige Teil der Menschheit sich selbst erledigen wird? Es ist ein unvermeidlicher Schluß aus allen Tatsachen der letzten Zeit. ›Per ardua ad astra.‹ ›Wenn wir einen Faustschlag bekommen, sehen wir die Sterne tanzen.‹«

»Aber es ist doch immer so gewesen, Sir, und wir leben doch noch.«

»Das sagt man, aber ich zweifle daran. Mir kommt vor, daß wir wirklich tot sind, Michael. Mir scheint, daß wir nur noch in der Vergangenheit leben. Ich glaube nicht, nein, ich glaube wahrhaftig nicht, daß man von uns behaupten kann, wir erwarten eine Zukunft. Wir reden davon, aber ich glaube kaum, daß wir darauf hoffen. Trotz unserer Beteuerungen ziehen wir unbewußt Folgerungen. Nach dem Wirrwarr, den wir in den letzten zehn Jahren angerichtet haben, können wir den noch größeren Wirrwarr vorausfühlen, den wir in den nächsten dreißig Jahren anrichten werden. Es liegt in der menschlichen Natur, dem Esel seinen Hinterfuß abzudisputieren; aber am Ende der Disputation wird der Esel immer noch seine vier Füße haben.«

Michael setzte sich plötzlich nieder und sagte: »Na, Sie sind mir aber ein sauberer Baronet!«

Sir Lawrence lächelte. »Ich würde ja gerne für wahr halten, daß die Menschen wirklich an die Humanität glauben und an ähnliches, aber du weißt doch, daß sie es nicht tun – sie glauben an das Neue und an ihre egoistischen Ziele. Mit seltenen Ausnahmen sind sie noch immer Affen, besonders die gelehrten Spezies. Und wenn man einem Affen Pulver und Streichhölzer in die Pfoten gibt, so wird er sich selbst in die Luft sprengen, bloß um einen Spaß zu haben. Affen kann man nur vertrauen, wenn man sie der Mittel beraubt, Dummheiten anzustellen.«

»Das ist lustig!« sagte Michael.

»Nicht lustiger, als es die Gelegenheit verlangt, mein lieber Junge. Ich habe nachgedacht. Wir haben hier ein Mitglied, das einen Trick kennt, der zwanzig von denen wert ist, die man im Krieg gekannt hat – ein außerordentlich wertvoller Kerl. Die Regierung ist auf ihn aufmerksam geworden. Er wird den andern wertvollen Kerlen in Frankreich, Deutschland, Amerika und Rußland helfen, Geschichte zu machen. Die werden alle zusammen etwas wirklich Großartiges leisten, etwas, das alle andern Errungenschaften des Menschen erledigen wird. Nebenbei bemerkt, Michael, heißt der neue Leitgedanke des ›homo sapiens‹ – ›erledigt‹.«

»Nun«, sagte Michael, »was werden Sie denn dagegen tun?«

Sir Lawrences Augenbraue schien sich bis zum Haar hinaufziehen zu wollen.

»Tun, mein lieber Junge? Was sollte ich denn tun? Kann ich denn hingehen und ihn und die Regierung am Kragen packen? Na, und dann erst die wertvollen Kerle und Regierungen der andern Länder? Nein! Alles, was ich tun kann, ist, meine Zigarre zu rauchen und zu sagen: ›Gott mit euch, ehrenwerte Herren, und mög euch nichts betrüben!‹ Durch dick und dünn werden sie schließlich ans Ziel kommen, Michael; aber aller Wahrscheinlichkeit nach werd ich dann schon tot sein.«

»Ich nicht«, sagte Michael.

»Nein, mein Lieber; aber denk an die Explosionen, an die Szenen, an den Gestank. Wahrhaftig, du hast doch noch etwas, wofür du leben kannst. Manchmal wünsche ich, daß ich noch einmal in deinem Alter wäre. Und manchmal«, Sir Lawrence zündete seine Zigarre wieder an, »wünsche ich es nicht. Manchmal denk ich, daß ich schon genug habe von unserer Heuchelei, und daß nun nichts anderes übrig bleibt als zu sterben wie ein Gentleman.«

»Eine Jeremiade, Sir!«

»Na ja«, sagte Sir Lawrence und zwirbelte seinen kleinen angegrauten Schnurrbart empor, »hoffentlich hab ich unrecht. Aber wir nähern uns rapid Zuständen, wo Millionen umgebracht werden können nur dadurch, daß man auf ein paar Knöpfe drückt. Welchen Grund haben wir anzunehmen, daß unsere Fähigkeit zur Güte mit der Zeit wachsen würde, so daß wir aufhören, diese großen neuen Spielzeuge zum Zerstören zu gebrauchen?«

»›Wo eine unerforschte Gegend liegt, zeichne man Schrecken ein‹ – so machten es die alten Landkartenzeichner.«

»Sehr nett; wo hast du das her?«

»Aus einer Biographie des Christoph Columbus.«

»Ja, ja, der wackere Columbus! Manchmal wünsch ich wirklich, daß er nicht so verteufelt wißbegierig gewesen wäre. Wir lebten behaglicher im dunklen Mittelalter. Es hätte etwas für sich gehabt, die Yankees unentdeckt zu lassen.«

»Nun«, sagte Michael, » ich glaube, wir werden uns schon durchwursteln. Übrigens, was die Affäre Elderson betrifft, hab ich gerade den Beamten gesehen – er schaut mir nicht aus wie einer, der die Sache erfunden hätte.«

»Ah, diese Geschichte! Aber wenn Elderson so etwas tun könnte – dann, dann ist einfach alles möglich. Es wäre ein vollkommenes Rätsel. Er war so ein ausgezeichneter Kricketspieler. Wir haben immer zusammen gespielt. Vermutlich hat es dir der alte Forsyte gesagt?«

»Ja, ich soll dem Mann eine Stelle verschaffen.«

»Butterfield? Frag ihn, ob er mit dem alten Butterfield, dem Gärtner, verwandt ist. Dann könnte man doch ein wenig beruhigt sein. Geht dir der alte Forsyte sehr auf die Nerven?«

Aus Loyalität zu Fleur hielt Michael den Mund. »Ach nein, ich komme ganz gut mit ihm aus.«

»Er ist ehrlich, das gebe ich zu.«

»Ja«, sagte Michael, »sehr ehrlich.«

»Aber ein wenig zurückhaltend.«

»Ja«, sagte Michael.

Nach dieser Feststellung schwiegen auch sie, als ob sie bei weiterm Vordringen auf unbekanntes Land mit seinem ›Schrecken‹ stoßen würden. Und bald darauf erhob sich Michael.

»Zehn vorbei. Ich geh lieber nach Hause.«

Während er denselben Weg, den er gekommen, zurückging, mußte er immerzu an Wilfrid denken. Was würde er nicht dafür geben, ihn sagen zu hören: ›Jetzt ist's schon gut, lieber Freund, ich bin darüber hinweggekommen!‹ und ihm wieder die Hand drücken zu können. Warum mußte man diese fatale Krankheit ›Liebe‹ bekommen? Warum mußte man halb verrückt davon werden? Man sagte zwar, daß Liebe das Gegengewicht der Natur gegen Barts Schrecken sei und gegen seine ›wertvollen Kerle‹. Eine unablässige Mahnung, daß die Klasse nicht aussterbe. Prosaisch, obgleich es richtig war! Nicht, daß ihm etwas Besonderes daran gelegen wäre, daß Fleur Kinder hätte. Merkwürdig, wie die Natur ihre Absichten maskierte – wie listig doch! Aber überhob sie sich nicht ein wenig? Kinder könnten am Ende ganz aus der Mode kommen, wenn Bart recht behielte. Es würde nicht mehr viel dazu fehlen; wer würde Kinder haben wollen, bloß um des Vergnügens willen, sie in die Luft gesprengt, vergiftet oder verhungert zu sehen? Ein paar Fanatiker würden fortfahren wie bisher, aber die übrigen würden unfruchtbar bleiben. Erledigt! Michael ging unter dem Uhrturm vorbei. In der Mitte des Platzes vor dem Parlament kam eine Gestalt auf ihn zu, schwenkte plötzlich links ab und ging in der Richtung nach Victoria. Groß, mit solch elastischem Gang. Wilfrid! Michael blieb stehen. Der kam ja vom – South Square! Und plötzlich jagte er ihm nach. Er lief nicht, aber er ging, so rasch er konnte. Die Schläfen klopften ihm, und seine Verwirrung war unerträglich. Wilfrid mußte ihn gesehen haben, sonst wäre er nicht so plötzlich abgeschwenkt, wäre nicht davongerannt wie ein Gehetzter. Schlimm! – schlimm! Er kam ihm nicht nach, Wilfrid hatte längere Beine – um ihn einzuholen, würde er laufen müssen! Eine leidenschaftliche Erregung hatte sich Michaels bemächtigt. Sein bester Freund – seine Frau! Es gab Grenzen. Man konnte zu stolz sein, sich dagegen zu wehren. Mochte er seines Weges gehen! Er blieb stehen, sah, wie die rasche Gestalt verschwand, und langsam, mit gesenktem Kopf, wandte er sich heimwärts. Er ging ganz ruhig und hatte das Gefühl von etwas Endgültigem. Es hatte keinen Sinn, viel Wesens davon zu machen! Kein Aufhebens, aber auch kein Zurück! In der kurzen Strecke, ehe er seinen Platz erreichte, kam ihm hauptsächlich die Höhe der Häuser und die Kleinheit der Menschen zum Bewußtsein. Solche Mücken sollten diesen ungeheuren Scheiterhaufen errichtet und ihn angezündet haben, sodaß er wie ein glitzernder Riesenberg war, dessen Leuchten den Himmel verdunkelte. Was für eine weitverzweigte Sache doch diese Mückengeschäftigkeit war! Es war absurd zu glauben, daß seine Liebe zu einer andern Mücke überhaupt in Betracht käme! Er drehte den Schlüssel um und ging in den Salon. Ohne Licht – leer? Nein. Sie und Ting-a-ling waren auf dem Boden vor dem Feuer! Er setzte sich auf das Sofa und merkte plötzlich, daß er zitterte und feucht von Schweiß war, als hätte er eine zu starke Zigarre geraucht. Fleur hatte sich aufgerichtet mit übereinandergeschlagenen Beinen und starrte zu ihm empor. Er wartete, bis seine Glieder aufhörten zu zittern. Warum sprach sie nicht? Warum saß sie da im Dunkeln? ›Sie weiß es!‹ dachte er. ›Wir wissen beide, daß dies das Ende ist. O Gott, hilf mir, daß ich mich wie ein anständiger Kerl benehme!‹ Er nahm ein Kissen, stopfte es sich in den Rücken, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Er war überrascht, daß er plötzlich sprach: »Kann ich dich etwas fragen, Fleur, und willst du mir bitte ganz ehrlich antworten?«

»Ja.«

»Es ist folgendes: Ich weiß, du hast mich ohne Liebe geheiratet. Und ich glaube, daß du mich auch jetzt nicht liebst. Soll ich verschwinden?«

Es schien eine lange Zeit zu vergehen. »Nein.«

»Meinst du das ehrlich?«

»Ja.«

»Warum soll ich nicht –?«

»Weil ich es nicht will.«

Michael erhob sich.

»Willst du mir noch eine Frage beantworten?«

»Ja.«

»War Wilfrid heute abend hier?«

»Ja – nein. Das heißt – –«

Seine Hände krampften sich ineinander; er sah, daß sie es bemerkte, und hielt sich ruhig.

»Fleur, nicht!«

»Aber es ist so. Er kam dort zum Fenster. Ich hab sein Gesicht gesehen – das ist alles. Sein Gesicht – das – oh! Michael, sei jetzt nicht unfreundlich zu mir!«

Unfreundlich! Unfreundlich! Michaels Herz schwoll bei diesem seltsamen Wort.

»Es ist schon gut«, stammelte er, »solange du mir nur sagst, was du willst.«

Fleur bat, ohne sich zu rühren: »Ich will getröstet werden.«

Ah, sie wußte genau, was sie sagen mußte und wie sie es sagen mußte! Er ließ sich auf die Knie nieder und begann sie zu trösten.


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