Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil I
Henry Fielding

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Viertes Kapitel.

Enthält tiefsinnige und ernste Dinge, die vielleicht manchem Leser nicht behagen.

Kaum hatte Square seine Pfeife angezündet, so wendete er sich an Allworthy und sagte: »ich kann nicht umhin, Ihnen wegen Ihres Neffen zu gratuliren, der in einem Alter, in welchem wenige Knaben eine Idee von irgend etwas anderem als sinnlichen Dingen haben, bereits die Fähigkeit besitzt, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Irgend etwas gefangen zu halten, scheint mir gegen das Naturgesetz zu sein, nach welchem jedes Wesen ein Recht auf Freiheit hat. Das waren seine Worte und der Eindruck, den sie auf mich machten, wird nie vertilgt werden. Kann ein Mensch einen höhern Begriff von dem Richtmaße des Rechtes und der ewigen Zweckmäßigkeit der Dinge haben? Ich kann nicht umhin, nach einer solchen Morgendämmerung zu hoffen, er werde im Mittage seines Lebens dem ältern oder dem jüngern Brutus ähnlich sein.«

Hier fiel Thwackum hastig ein, verschüttete dabei etwas von seinem Weine und stürzte das übrige schnell hinunter. Er antwortete: »nach einem andern Ausdrucke, dessen er sich bediente, hoffe ich, er werde weit bessern Männern gleichen. Das Naturgesetz ist ein kauderwelsches Wort, das keine Bedeutung hat. Ich kenne kein solches Gesetz und 148 kein Recht, das von demselben hergeleitet werden könnte. Zu handeln, wie wir handeln sollten, ist ein christlicher Beweggrund, den der Knabe erwähnte und ich freue mich, zu finden, daß meine Lehren so gute Früchte getragen haben.«

»Wenn Eitelkeit etwas Zweckmäßiges wäre,« fiel Square ein, »so würde ich mir bei dieser Gelegenheit etwas zuschreiben, denn von wem er seine Begriffe von Recht und Unrecht gelernt haben kann, dürfte sehr leicht zu errathen sein. Wenn es kein Naturgesetz giebt, so giebt es auch weder Recht noch Unrecht.«

»Wie!« rief der Geistliche; »vergessen Sie die Offenbarung ganz und gar? Spreche ich mit einem Deisten oder mit einem Atheisten?«

»Trinkt!« rief Western dazwischen. »Hol' der Henker Euere Naturgesetze! Ich weiß nicht, was die Herren da von Recht und Unrecht wollen. Meinem Mädchen den Vogel wegzunehmen, war meiner Ansicht nach Unrecht; mein Nachbar Allworthy mag thun, was er für gut findet; wer aber Knaben in solchen Streichen begünstiget, erzieht sie für den Galgen.«

Allworthy antwortete, es sei ihm leid, was sein Neffe gethan habe, aber er dürfe doch nicht einwilligen, ihn darum zu strafen, da derselbe mehr aus einem edeln als aus einem unwürdigen Beweggrunde gehandelt habe. Dann setzte er hinzu: »hätte der Knabe den Vogel gestohlen, so würde er sogleich für eine strenge Züchtigung stimmen; dies sei aber offenbar nicht die Absicht des Knaben gewesen, auch könne er keine andere Absicht gehabt haben, als die von ihm angegebene (die boshafte Absicht, welche Sophie muthmaßete, kam Allworthy nicht in den Sinn).« Endlich schloß er damit, daß er die That nochmals als unüberlegt tadelte, die nur bei einem Kinde zu verzeihen sei.

149 Square hatte seine Meinung so offen ausgesprochen, so daß, wenn er jetzt schwieg, er sein Urtheil tadeln lassen mußte. Er sprach deshalb mit ziemlicher Wärme, Herr Allworthy nehme zu viel Rücksicht auf das Eigenthum; bei Beurtheilung großer und gewaltiger Thaten müsse man aber jede Privatrücksicht bei Seite legen, denn durch Beachtung solcher engen Regeln sei der jüngere Brutus der Undankbarkeit und der ältere des Vatermordes schuldig befunden worden.

»Und wenn sie wegen dieser Verbrechen auch gehangen worden wären,« rief Thwackum, »so wäre ihnen nur geschehen, was sie verdient hätten. Ein Paar Heiden! Gott sei Dank, wir haben keine Brutus mehr. Ich wünsche, Herr Square, sie ließen ab davon, die Seele meiner Zöglinge mit solchem unchristlichen Zeuge zu füllen, denn die Folge davon muß immer die sein, daß es, so lange sie unter meiner Obhut stehen, immer wieder herausgepeitscht wird. Ihr Schüler Tom ist nun schon beinahe verdorben. Ich hörte ihn neulich mit Blifil streiten, der Glaube ohne That sei nichts Verdienstliches. Ich weiß, daß dies einer Ihrer Sprüche ist und vermuthe also, er hat den Grundsatz von Ihnen angenommen.«

– »Beschuldigen Sie mich nicht, daß ich ihn verderbe,« sagte Square. »Wer lehrte ihn über alles zu lachen was tugendhaft und anständig, und zweckmäßig und recht ist in der Natur der Dinge? Er ist Ihr Zögling und ich erkenne ihn nicht als den meinigen an. Nein, nein, der junge Herr Blifil ist mein Schüler. So jung er ist, so besitzt er doch schon Begriffe von moralischer Rechtschaffenheit, die Sie nie wieder in ihm vertilgen werden.«

Thwackum lachte höhnisch und verächtlich darüber und entgegnete: »ja, ja, es ist in ihm zu guter Grund gelegt, als daß er durch Ihr philosophisches Geschwätz verleitet 150 werden könnte. Ich habe immer Sorge getragen, ihm solche Grundsätze einzuflößen . . .«

»Auch ich habe ihm Grundsätze eingeflößt,« rief Square. »Was anderes, als die erhabene Idee der Tugend konnte einen Menschen zu dem edeln Gedanken bringen, Freiheit zu geben? Ich wiederhole es nochmals, wenn es sich schickte stolz zu sein, möchte ich Anspruch auf die Ehre machen, ihm diese Idee beigebracht zu haben.«

– »Und wäre der Stolz nicht verboten,« sagte Thwackum, »so möchte ich mich rühmen, ihn die Pflicht gelehrt zu haben, die er als Beweggrund anführte.«

»So ist also,« fiel der Squire ein, »der junge Mensch von Euch beiden angewiesen worden, meiner Tochter den Vogel zu entwenden. Ich werde auf meine Rebhühnerzucht achten müssen; es kommt vielleicht einer und der andere fromme Mensch und läßt alle meine Rebhühner frei.« Dann klopfte er einen anwesenden Rechtsgelehrten auf den Rücken und rief: »was sagen Sie dazu, Herr Rath? Ist dies nicht gegen das Gesetz?«

Der Advocat sprach mit großem Ernste: »angenommen, es wäre mit einem Rehhuhne geschehen, so dürfte es keinem Zweifel unterliegen, daß Ursache zu einer Klage wäre, denn obgleich die Rebhühner ferae naturae sind, so gehören sie doch unter gewissen Umständen zum Eigenthume; da es sich aber nur um einen Singvogel handelt und ein solcher der gemeinen Natur angehört, so muß er für nullius in bonis angesehen werden. In diesem Falle dürfte also eine gegründete Ursache zu einer Klage nicht vorliegen und ich würde nicht rathen, eine solche einzureichen.«

»Gut,« sagte der Square, »wenn es nullus bonus ist, so wollen wir lieber trinken und von etwas anderm reden, von politischen Dingen oder andern, die Jedermann versteht, denn ich habe von allen den Reden kein Wort 151 verstanden. Es mag recht gelehrt gewesen sein, ich glaube aber nicht daran. Hol's der Henker! Niemand hat ein Wort von dem armen Burschen gesagt, der doch ein Lob verdient hätte; den Hals zu wagen, um meinem Mädchen gefällig zu sein, war eine edele und muthige Handlung, so viel weiß ich. Gott verdamm' mich! ich trinke Tom's Gesundheit. Ich werde den Knaben darum lieben so lange ich lebe.«

Damit hatte die Debatte ein Ende, sie würde aber höchst wahrscheinlich von Neuem aufgenommen worden sein, hätte nicht Allworthy sogleich nach seinem Wagen verlangt und die beiden Streitenden hinweggeführt.

So endigte die Geschichte von dem Vogel und das Gespräch, das dadurch veranlaßt wurde und das wir unserm Leser berichten mußten, ob es gleich einige Jahre vor der Zeit vorkam, zu welcher unsere Geschichte gelangt ist.


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